BVerfGE 42, 133 - Wahlwerbung


BVerfGE 42, 133 (133):

1. Zur Frage der Einwirkung des Grundrechts nach Art. 5 Abs. 1 GG auf die Auslegung von Gesetzen, die das Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Betrieb einschränken.
2. Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht die Wahlwerbung einer Koalition im Betrieb vor einer allgemeinen politischen Wahl.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 28. April 1976
- 1 BvR 71/73 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn B ... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Heinz Gester, Hans-Böckler-Straße 39, Düsseldorf-N. - gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Bayern vom 25. Januar 1973 - 1 TaBV 77/72 -.
Entscheidungsformel:
1. Der Beschluß des Landesarbeitsgerichts Bayern vom 25. Januar 1973 - 1 TaBV 77/72 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben.
Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts Kempten /Allgäu vom 26. Juli 1972 - BV 13/72 - wird zurückgewiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu erstatten.
 
Gründe
 
A.
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob es Grundrechte eines Betriebsratsangehörigen verletzt, wenn er aus dem Betriebsrat ausgeschlossen wird, weil er im Betriebsgelände einen gewerkschaftlichen Aufruf zu einer Kommunalwahl verteilt hat.
I.
§ 74 Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes vom 15. Januar 1972 (BGBl. I S. 13) - BetrVG 72 - bestimmt:


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    Maßnahmen des Arbeitskampfes zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sind unzulässig; Arbeitskämpfe tariffähiger Parteien werden hierdurch nicht berührt. Arbeitgeber und Betriebsrat haben Betätigungen zu unterlassen, durch die der Arbeitsablauf oder der Frieden des Betriebs beeinträchtigt werden. Sie haben jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen; die Behandlung von Angelegenheiten tarifpolitischer, sozialpolitischer und wirtschaftlicher Art, die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen, wird hierdurch nicht berührt.
§ 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG 72 regelt die Folge eines Verstoßes gegen § 74 Abs. 2 Satz 2 oder Satz 3 Halbsatz 1 des Gesetzes wie folgt:
    Mindestens ein Viertel der wahlberechtigten Arbeitnehmer, der Arbeitgeber oder eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft können beim Arbeitsgericht den Ausschluß eines Mitglieds aus dem Betriebsrat oder die Auflösung des Betriebsrats wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten beantragen.
II.
Der Beschwerdeführer ist seit 1948 als Metallarbeiter bei einer Metallwarenfabrik in Marktoberdorf tätig. Seit dieser Zeit ist er Mitglied der Industriegewerkschaft Metall. 1959 wurde er Vorsitzender des Betriebsrats.
Am 11. Juni 1972 fand eine Kommunalwahl in Bayern statt. Dazu hatte die Industriegewerkschaft Metall auf Handzetteln einen Aufruf veröffentlicht. In ihm wurden alle Arbeitnehmer der Metallindustrie aufgerufen, zur Wahl zu gehen und aktive Arbeitnehmer zu wählen. Ferner wurde darauf hingewiesen, daß in Marktoberdorf sechs Angehörige der Industriegewerkschaft Metall für den Stadtrat und zwei weitere Angehörige dieser Gewerkschaft für den Kreistag kandidierten. Nach den Angaben im Aufruf gehörten sechs der namentlich benannten Kandidaten der SPD, einer der CSU und ein weiterer einer Wählervereinigung, der UBV, an.
Der Beschwerdeführer verteilte diese Handzettel sechs Tage vor der Kommunalwahl kurz vor Beginn der Arbeitszeit im Be

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triebsgelände der Metallwarenfabrik an Arbeitnehmer dieses Unternehmens. Daraufhin beantragte die Metallwarenfabrik, gestützt auf § 23 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BetrVG 72, beim Arbeitsgericht den Ausschluß des Beschwerdeführers aus dem Betriebsrat, weil er sich parteipolitisch betätigt habe. Das Arbeitsgericht wies diesen Antrag zurück, weil der Beschwerdeführer sich durch die Verteilung der Handzettel, die zur Wahl von Kandidaten mehrerer Parteien aufforderten, zwar politisch, nicht aber parteipolitisch betätigt habe.
Auf die Beschwerde hob das Landesarbeitsgericht Bayern durch den angefochtenen Beschluß vom 25. Januar 1973 die Entscheidung des Arbeitsgerichts Kempten auf und schloß den Beschwerdeführer wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Verpflichtung aus dem Betriebsrat aus. Es könne keinem Zweifel unterliegen, daß es sich bei der Verteilung des Wahlaufrufs um eine parteipolitische Betätigung im Sinne des § 74 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BetrVG 72 gehandelt habe. Darunter sei nicht nur die Unterstützung einer bestimmten politischen Partei zu verstehen, sondern jede politische Betätigung, die sich als ein Eingreifen in parteipolitische Diskussionen von Tagesfragen darstelle. Bei der Kommunalwahl handele es sich aber um eine parteipolitische Wahl.
III.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 und aus Art. 3 Abs. 3 GG. Im einzelnen trägt er vor:
Art. 9 Abs. 3 GG sei verletzt, weil das Gericht die Ausstrahlungswirkung dieses Grundrechts auf das einfache Recht verkannt habe. Der Wahlaufruf der Industriegewerkschaft Metall habe das spezifisch koalitionsgemäße Ziel gehabt, Gewerkschaftsmitglieder und andere Arbeitnehmer darüber zu informieren, durch welche Kandidaten die Arbeitnehmerinteressen wirkungsvoll in den parlamentarischen Gremien vertreten würden. Das sei eine legitime Aufgabe der Gewerkschaft, weil die

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Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen vielfach durch die Parlamente normiert würden. Auch auf kommunaler Ebene würden oft Entscheidungen getroffen, die vitale Interessen der Arbeitnehmer beträfen. Nach der historischen Entwicklung und nach ihren Satzungen dürften die Gewerkschaften ihre Interessen nicht nur gegenüber dem Arbeitgeber, sondern auch gegenüber dem Staat wahrnehmen. Diese politische Aufgabe werde durch Art. 9 Abs. 3 GG ebenso geschützt wie gewerkschaftliche Rechte gegenüber dem sozialen Gegenspieler. An diesem Schutz habe das Mitglied einer Gewerkschaft auch dann teil, wenn es Mitglied eines Betriebsrats sei.
Eine Verletzung des Grundrechts der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) trete gegenüber der Verletzung des spezielleren Grundrechts der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) zwar zurück, liege aber dann vor, wenn Art. 9 Abs. 3 GG keine Anwendung finde. Der Beschwerdeführer habe durch die Verbreitung des Wahlaufrufs nur von seinem Recht auf Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BetrVG 72 müsse im Licht der Bedeutung dieses Grundrechts interpretiert werden.
IV.
1. Der Präsident des Bundesarbeitsgerichts hat auf die zu § 51 Satz 2 BetrVG 52 ergangenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts hingewiesen, die den Begriff der parteipolitischen Betätigungen von Betriebsratsmitgliedern weit auslegen.
2. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schließt sich den Ausführungen der Verfassungsbeschwerde voll an. Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft meint, bei einer Kollision des Verbots der parteipolitischen Betätigung mit dem aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden Koalitionsbetätigungsrecht gehe das Grundrecht vor. Die Ansicht des Landesarbeitsgerichts Bayern laufe auf eine weitgehende Ausschaltung der Koalitionen von der gesellschaftlichen Weiterentwicklung des Staates hinaus. Es sei aber legitime Aufgabe der Gewerkschaften, die Interessen ihrer Mitglieder

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auch im politischen Raum wahrzunehmen. Wenn eine Gewerkschaft die Wahl von Arbeitnehmern empfehle, so sei das gebotene Interessenwahrnehmung und nicht Parteipolitik.
3. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist der Ansicht, daß das Landesarbeitsgericht arbeitsrechtlich zutreffend entschieden habe. Auch verfassungsrechtlich sei die Auslegung des § 74 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BetrVG 72 unbedenklich. Die koalitionsgemäße Betätigung werde nach Art. 9 Abs. 3 GG nur in ihrem Kernbereich geschützt. Außerhalb dessen könne der Gesetzgeber die Befugnisse im einzelnen ausgestalten. Die politische Wahlwerbung gehöre nicht zum Kernbereich.
Das Verbot parteipolitischer Betätigung für Betriebsratsmitglieder sei zulässig, weil diese alles vermeiden müßten, was ihre Stellung als neutrale Sachwalter zweifelhaft erscheinen lasse. Es diene sowohl dem unternehmerischen Interesse als auch dem Wohl der Arbeitnehmer. Der durch dieses Verbot gesicherte Betriebsfrieden sei nicht Selbstzweck. Die verbotenen Betätigungen könnten leicht zu Spannungen unter den Arbeitnehmern führen, denen der einzelne im Betrieb nicht ausweichen könne. Diese allgemeine Gefahr werde vergrößert, wenn Amtsträger politische Meinungen an den Arbeitnehmer herantrügen. Die Besorgnis des Arbeitnehmers, er könne benachteiligt werden, wenn er auf dessen Vorstellungen nicht eingehe, liege nahe.
Ob Art. 5 Abs. 1 GG hier anwendbar sei, möge dahinstehen. Das aus Art. 5 Abs. 1 GG dem Beschwerdeführer zukommende Grundrecht könne auf jeden Fall durch allgemeine Gesetze beschränkt werden. § 74 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BetrVG 72 sei ein solches Gesetz, das dem Schutz des Betriebsfriedens diene.
4. Der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der angegriffene Beschluß berührt zwar nicht das Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), verletzt jedoch das Grundrecht des Be

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schwerdeführers, und zu verbreiten (Art. 5 Abs. 1 GG).
I.
Die Verteilung des gewerkschaftlichen Aufrufs zur Kommunalwahl wird von dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der Koalitionstätigkeit (Art. 9 Abs. 3 GG), auf den der Beschwerdeführer sich in erster Linie beruft, nicht umfaßt.
Die Koalitionen sind zwar im Rahmen der geltenden Gesetze frei, selbst zu bestimmen, in welcher Weise sie die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder fördern wollen. Dem besonders stark ausgeprägten verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG unterliegt eine darauf gerichtete Tätigkeit jedoch nur, soweit sie eine spezifisch koalitionsgemäße ist (vgl. BVerfGE 17, 319 [333]; 18, 18 [26]). Dabei umfaßt der Schutz der Verfassung auch Aktivitäten, die über die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge hinausgehen (vgl. BVerfGE 19, 303 [313 f.]). Ob und inwieweit dies, wie der Beschwerdeführer annimmt, auch für die politische Tätigkeit von Koalitionen gilt, ist hier jedoch nicht zu entscheiden. Denn jedenfalls wird die Wahlwerbung einer Koalition vor allgemeinen politischen Wahlen durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht geschützt.
Mit dem Charakter der Wahlen zu den Volksvertretungen im Bund, in den Ländern, Kreisen und Gemeinden (Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) wäre die Annahme eines besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes der Wahlwerbung einzelner Gruppen unvereinbar. Zur parlamentarischen Demokratie, wie das Grundgesetz sie konstituiert, gehört die prinzipielle Gleichheit aller politischen Kräfte, die auf die Willensbildung des Volkes in Wahlen Einfluß zu nehmen suchen, seien sie von Gruppen oder von einzelnen getragen. Diese prinzipielle Gleichheit findet ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck im gleichen Schutz der Werbung vor allgemeinen politischen Wahlen, wie er durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 28

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Abs. 1 Satz 1, Art. 28 Art. 5 GG garantiert ist. Die Annahme eines darüber hinausgehenden, etwa kraft eines "Öffentlichkeitsauftrags" gewährleisteten verfassungsrechtlichen Schutzes der Wahlwerbung einzelner Gruppen würde auf eine Privilegierung solcher Gruppen hinauslaufen, die in Widerspruch zum Grundprinzip parlamentarischer Demokratie stünde. Der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Schutz spezifisch koalitionsgemäßer Betätigung kann sich infolgedessen nicht auf die Werbung von Koalitionen vor allgemeinen Wahlen beziehen. Vollends gehört diese nicht zum "Kernbereich" der geschützten Koalitionstätigkeit (vgl. BVerfGE 4, 96 [108]; 19, 303 [321]; 28, 295 [303]). Die Wahlwerbung von Koalitionen vor allgemeinen politischen Wahlen ist verfassungsrechtlich weder stärker noch schwächer geschützt als die Wahlwerbung aller anderen Gruppen.
II.
Das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 GG ist verletzt. Die Anwendung dieser Verfassungsnorm kann durch Art. 9 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 28, 295 [310]) schon deshalb nicht ausgeschlossen sein, weil dieses Grundrecht in Fällen der vorliegenden Art nicht eingreift.
Das Landesarbeitsgericht hat die Auswirkung des Grundrechts der Meinungsfreiheit auf die Auslegung der anzuwendenden Vorschriften verkannt.
1. Dieses Grundrecht ist für die freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend und gewährleistet zugleich eine der wesentlichen Äußerungsformen der menschlichen Persönlichkeit. Bei seiner großen Bedeutung ist seine Berücksichtigung jeweils im Rahmen des Möglichen geboten (vgl. BVerfGE 7, 198 [208 f.]; 15, 288 [295]). Es umfaßt auch das Recht auf freie politische Meinungsäußerung bei der Vorbereitung allgemeiner politischer Wahlen einschließlich der Werbung für die Stimmabgabe. Mit der elementaren Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 GG wäre es unvereinbar, wollte der

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Gesetzgeber die Freiheit der politischen Meinungsäußerung dem Bereich der betrieblichen Arbeitswelt, die die Lebensgestaltung zahlreicher Staatsbürger wesentlich bestimmt, schlechthin fernhalten. Allerdings findet dieses Grundrecht auch in den Betrieben seine Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze.
Zu den Gesetzen, die die Meinungsfreiheit im Betrieb begrenzen, gehört auch die Bestimmung des § 74 Abs. 2 BetrVG 72. Diese Vorschrift wendet sich sowohl an die Arbeitgeber als auch an solche Arbeitnehmer, die als Betriebsratsangehörige besondere Funktionen im Betrieb wahrnehmen, und untersagt beiden bestimmte Betätigungen im Betrieb. Sie unterscheidet ausdrücklich zwischen parteipolitischen und anderen Betätigungen. Parteipolitische Betätigungen untersagt sie schlechthin ohne Rücksicht darauf, ob eine Gefährdung des Betriebsfriedens zu besorgen ist. Diese nicht unerhebliche Beschränkung des Grundrechts war schon im Betriebsverfassungsgesetz 1952 enthalten. Sie ist entgegen den Vorstellungen des Regierungsentwurfs zum Betriebsverfassungsgesetz 1972 vom Gesetzgeber ausdrücklich aufrechterhalten worden, nachdem sich der federführende Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung aufgrund von Sachverständigenanhörungen von der Notwendigkeit einer solchen weitreichenden Beschränkung überzeugt hatte (zu BTDrucks. VI/2729, S. 10). Andere Tätigkeiten als parteipolitische Betätigungen unterwirft der Gesetzgeber demgegenüber ausdrücklich geringeren Beschränkungen. So bestimmt § 74 Abs. 2 Satz 2 BetrVG 72, daß Arbeitgeber und Betriebsratsangehörige andere Betätigungen nur zu unterlassen haben, wenn sie den Arbeitsablauf oder den Frieden im Betrieb beeinträchtigen. Hier wird also kein absolutes Verbot gesetzt, sondern es werden nur Betätigungen verboten, die den Betriebsfrieden konkret gefährden.
Verfassungsrechtlich bestehen gegen diese Norm keine Bedenken. Sie richtet sich nicht gegen die Äußerung von Meinungen als solchen. Vielmehr dient sie vornehmlich der Gewährleistung des Betriebsfriedens, eines Rechtsguts, dem der Gesetz

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geber Meinungsfreiheit Vorrang einräumen kann.
2. Bei der Anwendung dieser Norm muß jedoch der besondere Wertgehalt des Art. 5 GG, der zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Meinungsäußerung führt, gewahrt bleiben. Zwar setzt die Norm des § 74 Abs. 2 BetrVG 72 der Freiheit der Meinungsäußerung Schranken, jedoch muß die Norm ihrerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden (BVerfGE 7, 198 [208 f.], st Rechtsprechung). Bei der Auslegung ist insbesondere zu beachten, daß der Gesetzgeber im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 5 GG in § 74 Abs. 2 BetrVG 72 die Rechte von Arbeitgebern und Betriebsratsangehörigen in differenzierter Weise beschränkt hat. Parteipolitische Betätigung ist schlechthin, dh schon bei abstrakter Gefährdung, jede andere Betätigung nur dann verboten, wenn der Betriebsfrieden konkret beeinträchtigt wird. Ob eine derartige Differenzierung nach Art. 5 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen geboten war, bedarf hier nicht der Prüfung. Denn unabhängig davon, ob die Verteilung der Handzettel "parteipolitische Betätigung" war oder nicht, durfte die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen im Hinblick auf die dargelegte Einwirkung des Art. 5 GG nicht zum Ausschluß des Beschwerdeführers aus dem Betriebsrat führen.
a) Bei dem sachlich gehaltenen Wortlaut des Aufrufs, den der Beschwerdeführer verteilte, hätte es nahegelegen, in dieser Wahlwerbung keine "parteipolitische Betätigung" zu sehen. Der Umstand, daß in dem Aufruf die Namen von Kandidaten mehrerer Parteien standen, deutet mehr auf gewerkschaftliche Informationstätigkeit als auf parteipolitische Aktionen hin. Geht man hiervon aus, so wäre das Verhalten des Beschwerdeführers nicht als parteipolitische Betätigung, sondern nach § 74 Abs. 2 Satz 2 BetrVG 72 zu beurteilen gewesen. Ein Verstoß des

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Beschwerdeführers gegen diese Bestimmung hätte aber nur dann festgestellt werden können, wenn sein Verhalten den Arbeitsablauf oder den Betriebsfrieden beeinträchtigt hätte. Der angefochtene Beschluß läßt jedoch erkennen, daß die Aktivität des Beschwerdeführers keine derartigen Folgen hatte oder besorgen ließ. Dafür fehlt auch jeder Anhaltspunkt.
b) Geht man demgegenüber davon aus, daß die Interpretation des Begriffs der parteipolitischen Betätigung, wie sie der angefochtene Beschluß dem Ausschluß des Beschwerdeführers zugrunde legt, noch hinnehmbar wäre, so wäre der Beschluß dennoch verfassungsrechtlich als unverhältnismäßig zu beanstanden. Bei der gebotenen zurückhaltenden Auslegung derjenigen Bestimmungen, die im Interesse anderer Rechtsgüter wie der Gewährleistung des Betriebsfriedens das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG beschränken, sind auch die Sanktion des § 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG 72 und ihre Voraussetzungen im Licht des eingeschränkten Grundrechts zu sehen. Die gesetzliche Norm gibt diese Möglichkeit schon dadurch, daß sie nur bei grober Verletzung gesetzlicher Pflichten den Ausschluß eines Mitglieds aus dem Betriebsrat zuläßt. Bei Abwägung aller Umstände scheidet die Annahme einer groben Pflichtverletzung im vorliegenden Fall aus. Der Beschwerdeführer war langjähriger Betriebsratsvorsitzender. Nach der Begründung des angefochtenen Beschlusses beruht sein Ausschluß aus dem Betriebsrat allein darauf, daß er einmalig einen gewerkschaftlichen Wahlaufruf verteilt hat. Das geschah zeitlich vor Beginn der Arbeitszeit. Der Aufruf selbst enthält keine Diffamierungen. Eine tatsächliche Unruhe ist im Betrieb durch die Verteilung des Aufrufs nicht entstanden. Auch wenn der Beschwerdeführer gegen das Verbot parteipolitischer Betätigung verstoßen hätte, hätte dieser Verstoß ersichtlich nur geringe Bedeutung gehabt. Von hier aus liegt in dem Ausschluß des Beschwerdeführers aus dem Betriebsrat eine übermäßige Reaktion, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu seinem tatsächlichen Verhalten steht.


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III.
Nach alledem war der angefochtene Beschluß, ohne daß es einer Rückverweisung an das Landesarbeitsgericht Bayern bedurfte (vgl. BVerfGE 35, 202), wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 GG aufzuheben. Auf die Frage, ob der angefochtene Beschluß auch Art. 3 Abs. 3 GG verletzt, kommt es nicht mehr an.
Gleichzeitig mit der Aufhebung des Beschlusses war die von der Metallwarenfabrik in Marktoberdorf gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts Kempten/Allgäu eingelegte Beschwerde zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
Benda Haager Rupp-v. Brünneck Böhmer Simon Faller Hesse Katzenstein