1. Der Bund hat unmittelbar aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG das Recht zur Gesetzgebung für Regelungen, die das Nähere über den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nach diesen Vorschriften und über das Zusammenwirken mit den beteiligten Ländern bestimmen. Der Begriff des besonders schweren Unglücksfalls umfasst auch Vorgänge, die den Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen.
|
2. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt es dem Bund nicht, die Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen.
|
3. Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.
|
Urteil
|
des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2005
|
-- 1 BvR 357/05 --
|
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. des Herrn Dr. H..., 2. des Herrn B..., 3. des Herrn Dr. F..., 4. des Herrn Dr. H..., 5. des Herrn Dipl.Ing. T..., 6. des Herrn A... -- Bevollmächtigter der Beschwerdeführer zu 2 bis 6: Rechtsanwalt Dr. Burkhard Hirsch, Rheinallee 120, 40545 Düsseldorf -- gegen § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) vom 11. Januar 2005 (BGBl. I S. 78).
|
Entscheidungsformel:
|
1. § 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Januar 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 78) ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 87 a Absatz 2 und Artikel 35 Absatz 2 und 3 sowie in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
|
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
|
Gründe:
|
A.
|
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ermächtigung der Streitkräfte durch das Luftsicherheitsgesetz, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt abzuschießen.
|
I.
|
1. Am 11. September 2001 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika vier Passagierflugzeuge amerikanischer Fluggesellschaften von einer internationalen Terrororganisation entführt und zum Absturz gebracht. Zwei der Flugzeuge schlugen in das World Trade Center in New York ein, eines stürzte in das Pentagon, das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Die vierte Maschine kam, nachdem möglicherweise das Eingreifen von Passagieren an Bord zu einer Kursänderung geführt hatte, südöstlich von Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania zum Absturz. Bei den Anschlägen starben mehr als 3.000 Menschen in den Flugzeugen, im Bereich des World Trade Center und im Pentagon.
|
Am 5. Januar 2003 kaperte ein bewaffneter Mann ein Sportflugzeug, kreiste damit über dem Bankenviertel von Frankfurt am Main und drohte, das Flugzeug in das Hochhaus der Europäischen Zentralbank zu stürzen, wenn ihm nicht ein Telefonat in die Vereinigten Staaten von Amerika ermöglicht werde. Ein Polizeihubschrauber und zwei Düsenjäger der Luftwaffe stiegen auf und umkreisten den Motorsegler. Die Polizei löste Großalarm aus, die Innenstadt Frankfurts wurde geräumt, Hochhäuser wurden evakuiert. Gut eine halbe Stunde nach der Kaperung war klar, dass es sich bei dem Entführer um einen verwirrten Einzeltäter handelte. Nachdem seine Forderung erfüllt worden war, landete er auf dem Rhein-Main-Flughafen und ließ sich widerstandslos festnehmen.
|
2. Beide Vorfälle lösten eine Vielzahl von Maßnahmen aus mit dem Ziel, unrechtmäßige Eingriffe in die zivile Luftfahrt zu verhindern, die Sicherheit der Zivilluftfahrt insgesamt zu verbessern und dabei auch gegen Gefahren zu schützen, die drohen, wenn Luftfahrzeuge (zum Begriff des Luftfahrzeugs vgl. § 1 Abs. 2 des Luftverkehrsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. März 1999, BGBl. I S. 550) in die Gewalt von Menschen gelangen, die sie für luftverkehrsfremde Zwecke missbrauchen wollen.
|
a) Unter dem 16. Dezember 2002 erließen das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die -- durch Verordnung (EG) Nr. 849/2004 vom 29. April 2004 (ABlEG Nr. L 158 vom 30. April 2004, S. 1) geänderte -- Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt (ABlEG Nr. L 355 vom 30. Dezember 2002, S. 1). Sie sieht für die Flughäfen in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Einführung umfangreicher Sicherheitsmaßnahmen für den Luftverkehr vor. Dazu gehören die Festlegung von Anforderungen an die nationale Flughafenplanung, Regelungen über die Überwachung aller der Öffentlichkeit zugänglichen Flughafenbereiche, Vorschriften über Durchsuchungen von Flugzeugen, Personal und mitgeführten Gegenständen, Bestimmungen über die Kontrolle von Fluggästen und deren Gepäck sowie Vorgaben für ein nationales Programm über die Einstellung und Schulung von Flug- und Bodenpersonal.
|
b) In der Bundesrepublik Deutschland sind sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht Maßnahmen getroffen worden, die der Stärkung der Sicherheit des Luftverkehrs und dem Schutz vor Angriffen auf diesen Verkehr dienen sollen.
|
aa) Seit dem 1. Oktober 2003 ist ein in Kalkar am Niederrhein eingerichtetes Nationales Lage- und Führungszentrum "Sicherheit im Luftraum" einsatzbereit. Es soll als zentraler Informationsknotenpunkt zur Gewährleistung der Sicherheit im deutschen Luftraum ein koordiniertes, rasches Zusammenwirken aller mit Fragen der Luftsicherheit befassten Stellen von Bund und Ländern sicherstellen. In ihm kontrollieren Angehörige der Bundeswehr, der Bundespolizei und der Deutschen Flugsicherung den Luftraum. Aufgabe des Zentrums ist es vor allem, Gefahren abzuwehren, die von so genannten Renegade-Flugzeugen drohen; das sind zivile Luftfahrzeuge, die in die Gewalt von Menschen gelangt sind, die sie als Waffe für einen gezielten Absturz missbrauchen wollen. Nach der Klassifizierung eines Luftfahrzeugs als Renegade -- sei es von Seiten der NATO, sei es durch das Nationale Lage- und Führungszentrum selbst -- liegt die Verantwortung für die erforderlichen Abwehrmaßnahmen im deutschen Luftraum bei den zuständigen Stellen der Bundesrepublik Deutschland.
|
bb) Die rechtlichen Grundlagen für diese Maßnahmen sind in dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005 (BGBl. I S. 78) enthalten.
|
aaa) Mit diesem Gesetz, das der Bundesrat für zustimmungsbedürftig gehalten, dem er aber nicht zugestimmt hat (vgl. BRDrucks 716/04 [Beschluss], zu BRDrucks 716/04 [Beschluss]), sind Bestimmungen zur Abwehr äußerer Gefahren für die Luftsicherheit, die bisher im Luftverkehrsgesetz enthalten und mit fremden Regelungsmaterien verbunden waren, zusammengefasst und Anpassungen an die Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 vorgenommen worden (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 14). Artikel 1 des Gesetzes enthält als Herzstück der Neuregelung das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG).
|
(1) Dieses dient nach seinem § 1 dem Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen . Gemäß § 2 LuftSiG hat die Luftsicherheitsbehörde die Aufgabe, Angriffe auf die Sicherheit des Luftverkehrs abzuwehren. Sie trifft nach § 3 LuftSiG die notwendigen Maßnahmen, um eine im Einzelfall bestehen de Gefahr für die Sicherheit des Luftverkehrs abzuwehren, soweit nicht § 5 LuftSiG ihre Befugnisse besonders regelt.
|
Dieser räumt den Luftsicherheitsbehörden zur Sicherung der nicht allgemein zugänglichen Bereiche von Flugplätzen umfassende Kontroll- und Durchsuchungsbefugnisse gegenüber Personen und Gegenständen ein. § 7 LuftSiG überträgt den Luftsicherheitsbehörden die Befugnis zur Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personen, die aus beruflichen Gründen mit dem Flug- und Flughafenbetrieb in Berührung kommen. Die §§ 8 und 9 LuftSiG begründen für Flugplatzbetreiber und Luftfahrtunternehmen besondere Pflichten zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs. § 11 LuftSiG verbietet das Mitführen bestimmter Gegenstände in Luftfahrzeugen. § 12 LuftSiG schließlich regelt die Beleihung der verantwortlichen Luftfahrzeugführer mit Aufgaben und Befugnissen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung an Bord der von ihnen gesteuerten Luftfahrzeuge.
|
Die Aufgaben der Luftsicherheitsbehörden werden nach § 16 Abs. 2 LuftSiG grundsätzlich von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt. Der Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs gemäß § 5 LuftSiG obliegt dagegen nach § 4 des Bundespolizeigesetzes der Bundespolizei, soweit die Voraussetzungen von § 16 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG vorliegen. Nach den zuletzt genannten Vorschriften können die Aufgaben der Luftsicherheitsbehörden, abgesehen von denen nach § 9 Abs. 1 LuftSiG, durch die vom Bundesministerium des Innern bestimmte Bundesbehörde in bundeseigener Verwaltung ausgeführt werden, wenn dies zur Gewährleistung der bundeseinheitlichen Durchführung der Sicherheitsmaßnahmen erforderlich ist.
|
(2) Einen besonderen Abschnitt 3 des Gesetzes bilden unter der Überschrift "Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte" die §§ 13 bis 15 LuftSiG. Gemäß § 13 Abs. 1 LuftSiG können, wenn auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vorliegen, die im Rahmen der Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 GG bevorsteht, die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Un glücksfalls eingesetzt werden, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist. Über den Einsatz entscheidet im Fall des so genannten regionalen Katastrophennotstands nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG auf Anforderung des betroffenen Landes der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung (§ 13 Abs. 2 LuftSiG), im Fall des überregionalen Katastrophennotstands nach Art. 35 Abs. 3 GG die Bundesregierung im Benehmen mit den betroffenen Ländern (§ 13 Abs. 3 Satz 1 LuftSiG). Ist eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierung nicht möglich, entscheidet der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seine |