"Welche Funktionen haben Prozeduren in einer "prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit", oder eingeschränkter:
Wozu benötigt eine "Diskurstheorie der Gerechtigkeit" Diskurse? - Die Antwort, die Axel Tschentscher
gibt, ist zunächst ganz grundlegend: zur Beantwortung der Leitfrage seiner Untersuchung: "Wie kann Recht gerecht
sein?" (S. 21). Folgt man nun dem Argumentationsgang der Arbeit, wird die Antwort auf die Frage nach der Funktion
von Prozeduren verwickelter: Klar ist zunächst noch, daß sich das Prozedurale entgegen einer naiven Erwartung
des üblichen Sprachgebrauchs nicht auf die Theorie bezieht: Nicht sie selbst, sondern ihr Gegenstand wird
prozedural bestimmt: "Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit sind Theorien, nach denen eine Gerechtigkeitsnorm ...
genau dann richtig ist, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur ... sein kann." ("D4N", S. 132).
Es geht damit eindeutig nicht um eine Theorie der Verfahrensgerechtigkeit, sondern um eine Theorie der Gerechtigkeit
durch Verfahren. Nach sorgfältig begründeter Ablehnung alternativer Verfahrensmodelle kommt für Verf. als
Prozedur nur der Diskurs, also ein argumentationstheoretisches Verfahren, in Frage.
Diskurs ist nicht jede Unterhaltung, bedeutet nicht Verhandlung oder militärische Auseinandersetzung und auch
nicht Entscheidung, sondern ein Verfahren, bei dem die Teilnehmer um das beste Argument ringen (S. 218).
Bei der Begründung von Gerechtigkeitsnormen gilt jedoch nicht jeder Diskurs, sondern nur einer, in dem die
Diskursregeln (Konsistenz, Kohärenz, Gleichheit, Freiheit und Argumentationslastregeln) befolgt werden (S. 222 f.).
Für die Rechtfertigung dieser Regeln selbst spielt keinerlei Diskurs eine Rolle.
Vielmehr begründet Verf. - Robert Alexy folgend - diese Regeln "transzendental" (Analyse notwendiger
Voraussetzungen), mit einem auf Nutzenmaximierung abstellenden Argument und dem Interesse an Richtigkeit
(S. 225 f. u. 247 f.). Ein Diskurs, der diesen Regeln umfassen gehorcht, ist ein idealer Diskurs (S. 233).
Reale Diskurse gelten dann als richtig, wenn sie sich diesem Ideal annähern.
Die Diskursregeln als Kriterien, die die Idealität des "idealen" Diskurses verbürgen, sind also nicht selbst
diskursiv ausgewiesen. Damit ist aber die Argumen-|
tation noch nicht bei der Begründung der Gerechtigkeitsnormen
angekommen, und es ist zu erwarten, daß bei dieser Frage der Diskurs eine Rolle spielen wird.
Als allgemeine Gerechtigkeitsnormen werden Freiheit, Gleichheit und Demokratie bezeichnet (S. 256).
Nach der eingangs zitierten These wären sie prozedural begründet, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur
wären. Zu ihrer Fundierung wird jedoch eine "unmittelbar diskurstheoretische Gerechtigkeitsbegründung" herangezogen:
Das ist, wiederum im Anschluß an Robert Alexy, eine solche, die "unabhängig von der tatsächlichen Durchführung
einzelner Diskurse allein aufgrund der Diskurstheorie..." gilt (Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 2000,
S. 146). Begründet werden so Freiheit und Demokratie als notwendige Voraussetzungen des Diskurses
(S. 252) und Gleichheit als notwendige Folge eines realen Diskurses unter idealen Bedingungen.
Als Voraussetzungen sind Freiheit und Demokratie nicht durch einen Diskurs, sondern durch die selbst
nicht diskursiv hergeleitete Diskurstheorie begründet. Der Diskurs spielt also abermals keine Rolle.
Das könnte bei der Gleichheit anders sein. Doch sind es hier die "idealen Bedingungen" von Klarheit,
Informiertheit und Unparteilichkeit, die die Folge garantieren, indem sie diskriminierende Argumente in dem
betreffenden Diskurs ausschließen. Diese idealen Bedingungen sind wiederum die nicht diskursiv ausgewiesenen
Kriterien des idealen Diskurses. Auch bei der Begründung der Gleichheit spielt damit der Diskurs, also das
Ringen um das beste Argument, keine Rolle. Vielmehr können nur Argumente gelten, die aus den Diskursbedingungen
folgen.
Letztlich geht es Verf. aber um die Gerechtigkeit positiven Rechts. Gerade hier möchte er Alexys Ansatz
weiterentwickeln. Dazu muß er zunächst begründen, warum es sich bei rechtlicher Kommunikation um Diskurse
handelt (S. 347 f.). Dies geschieht durch eine Erweiterung der Sonderfallthese um die Annahme, daß nicht nur
der juristische, sondern auch der rechtspolitische Diskurs Sonderfälle des allgemeinen Diskurses sind.
Beide sind reale Diskurse, die vor strategischer Ausnutzung geschützt werden müssen, damit sie gerechtes Recht begründen
können (S. 356). Diese "Verfahren müssen so gestaltet sein, daß sie entweder die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
ein schon als gerecht begründetes Ergebnis real umzusetzen (unvollkommen prozedurale Gerechtigkeit), oder sie müssen
sicherstellen, daß jedes Ergebnis, solange es innerhalb materieller Gerechtigkeitsvorgaben liegt, als definitiv
gerecht angesehen werden kann (quasi-reine prozedurale Gerechtigkeit)" (S. 358). - Spielt also der Diskurs für die
Gerechtigkeit des positiven Rechts eine Rolle? Bei der unvollkommen prozeduralen Gerechtigkeit liegen die
Kriterien des gerechten Ergebnisses schon außerdiskursiv fest. Verfahrensbedingungen müssen die Umsetzung
im realen Diskurs fördern. Der reale Diskurs ist also auch hier für die Begründung ohne Bedeutung, sondern
nur für die Umsetzung bereits feststehender Gerechtigkietskriterien. Bei der "quasi-reinen prozeduralen
Gerechtigkeit" soll es kein verfahrensunabhängiges Kriterium für die Beurteilung der Ergebnisgerechtigkeit geben
("D3d", S. 128). Der Gerechtigkeitsrahmen möglicher Entscheidungen ist aber auch hier bereits im
voraus abgesteckt. Dem Diskurs kommt nur noch die Funktion der Auswahl unter den insofern begrenzten
Möglichkeiten zu. Auch hier gibt er nicht selbst ein Kriterium für die Gerechtigkeit des Ergebnisses ab.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß ein Diskurs, der den Gerechtigkeitsvorgaben folgt, kein gerechtes
Ergebnis zur Folge hätte. Nur: Dessen Gerechtigkeitsgehalt steht schon mit den Rahmenvorgaben fest
und wird nicht durch den Diskurs begründet.
Die Frage, "wozu benötigt die Diskurstheorie Diskurse?", läßt sich somit überraschenderweise dadurch beantworten,
daß Diskurse zwar den Gegenstand der Untersuchung bilden, für die Frage der Gerechtigkeit des Rechts aber keine
begründen-|
de Funktion haben. Diskurse setzen auf ihrer jeweiligen Stufe das Maß an Gerechtigkeit um,
das auf einer höheren Stufe bereits begründet ist, angefangen vom idealen Diskurs, dessen Idealität
extradiskursiv begründet ist, über den realen Diskurs zu den als Sonderfällen erfaßten juristischen und
rechtspolitischen Diskursen. "Reine prozedurale Gerechtigkeit", als "diejenige prozedurale Gerechtigkeit,
bei der ein Verfahren mit Sicherheit ein gerechtes Ergebnis bewirkt, wobei es kein verfahrensunabhängiges
Kriterium für die Beurteilung der Gerechtigkeit gibt ..." ("D3c", S. 127) hat in dieser
Gerechtigkeitstheorie, anders als bei Rawls (S. 204), keine Funktion. Damit sind Prozeduren der Gegenstand
der prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit, nicht die Form der Theorie und auch nicht die Form der Gerechtigkeit.
Es geht um die Geltung von Diskursen als gerecht und nur in diesem Rahmen um die Rechtfertigung von
Verfahrensergebnissen als Folge gerechter Diskurse.
Auch derjenige Leser, der sich diesen kritischen Anmerkungen anschließt, wird die bei Robert Alexy entstandene
Dissertation mit reichem Gewinn und angesichts der ausgesprochen sorgfältigen Argumentationsgänge mit großem
Genuß lesen. Denn er bekommt über zwei Drittel der Arbeit Klassifizierung, Darstellung, Einordnung und
Kritik des kaum noch übersehbaren Feldes gegenwärtiger Theorien politischer Gerechtigkeit geboten. Auch bei
flüchtiger Lektüre findet man sich in der Arbeit dank klarer Gliederung, zahlreichen Zusammenfassungen, eines
Verzeichnisses der Definitionen, Theoreme und Prinzipien und eines ausführlichen Sachverzeichnisses sehr gut
zurecht. Am Ende wird der Leser also nicht unbedingt ein Verfechter einer prozeduralen Theorie der
Gerechtigkeit sein; er wird das Buch aber, bereichert durch klare Abgrenzungen in bezug auf Funktionen von
Gerechtigkeit und Abgrenzungen von Gerechtigkeitstheorien, in Griffweite seines rechtstheoretischen
Arbeitsplatzes bereithalten."