Prof. Dr. Axel Tschentscher, LL.M.

Lehrstuhl für Staatsrecht, Rechtsphilosophie
und Verfassungsgeschichte
Institut für öffentliches Recht
Universität Bern
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Rezension zu: Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, Baden-Baden 2000.

Stefan Kirste: Buchbesprechung, Der Staat 42 (2003), S. 654-656:

"Welche Funktionen haben Prozeduren in einer "prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit", oder eingeschränkter: Wozu benötigt eine "Diskurstheorie der Gerechtigkeit" Diskurse? - Die Antwort, die Axel Tschentscher gibt, ist zunächst ganz grundlegend: zur Beantwortung der Leitfrage seiner Untersuchung: "Wie kann Recht gerecht sein?" (S. 21).  Folgt man nun dem Argumentationsgang der Arbeit, wird die Antwort auf die Frage nach der Funktion von Prozeduren verwickelter: Klar ist zunächst noch, daß sich das Prozedurale entgegen einer naiven Erwartung des üblichen Sprachgebrauchs nicht auf die Theorie bezieht: Nicht sie selbst, sondern ihr Gegenstand wird prozedural bestimmt: "Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit sind Theorien, nach denen eine Gerechtigkeitsnorm ... genau dann richtig ist, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur ... sein kann." ("D4N", S. 132). Es geht damit eindeutig nicht um eine Theorie der Verfahrensgerechtigkeit, sondern um eine Theorie der Gerechtigkeit durch Verfahren.  Nach sorgfältig begründeter Ablehnung alternativer Verfahrensmodelle kommt für Verf. als Prozedur nur der Diskurs, also ein argumentationstheoretisches Verfahren, in Frage.

Diskurs ist nicht jede Unterhaltung, bedeutet nicht Verhandlung oder militärische Auseinandersetzung und auch nicht Entscheidung, sondern ein Verfahren, bei dem die Teilnehmer um das beste Argument ringen (S. 218).  Bei der Begründung von Gerechtigkeitsnormen gilt jedoch nicht jeder Diskurs, sondern nur einer, in dem die Diskursregeln (Konsistenz, Kohärenz, Gleichheit, Freiheit und Argumentationslastregeln) befolgt werden (S. 222 f.).  Für die Rechtfertigung dieser Regeln selbst spielt keinerlei Diskurs eine Rolle.  Vielmehr begründet Verf. - Robert Alexy folgend - diese Regeln "transzendental" (Analyse notwendiger Voraussetzungen), mit einem auf Nutzenmaximierung abstellenden Argument und dem Interesse an Richtigkeit (S. 225 f. u. 247 f.).  Ein Diskurs, der diesen Regeln umfassen gehorcht, ist ein idealer Diskurs (S. 233).  Reale Diskurse gelten dann als richtig, wenn sie sich diesem Ideal annähern.  Die Diskursregeln als Kriterien, die die Idealität des "idealen" Diskurses verbürgen, sind also nicht selbst diskursiv ausgewiesen.  Damit ist aber die Argumen-|
tation noch nicht bei der Begründung der Gerechtigkeitsnormen angekommen, und es ist zu erwarten, daß bei dieser Frage der Diskurs eine Rolle spielen wird.

Als allgemeine Gerechtigkeitsnormen werden Freiheit, Gleichheit und Demokratie bezeichnet (S. 256).  Nach der eingangs zitierten These wären sie prozedural begründet, wenn sie das Ergebnis einer bestimmten Prozedur wären.  Zu ihrer Fundierung wird jedoch eine "unmittelbar diskurstheoretische Gerechtigkeitsbegründung" herangezogen: Das ist, wiederum im Anschluß an Robert Alexy, eine solche, die "unabhängig von der tatsächlichen Durchführung einzelner Diskurse allein aufgrund der Diskurstheorie..." gilt (Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 2000, S. 146).  Begründet werden so Freiheit und Demokratie als notwendige Voraussetzungen des Diskurses (S. 252) und Gleichheit als notwendige Folge eines realen Diskurses unter idealen Bedingungen.  Als Voraussetzungen sind Freiheit und Demokratie nicht durch einen Diskurs, sondern durch die selbst nicht diskursiv hergeleitete Diskurstheorie begründet.  Der Diskurs spielt also abermals keine Rolle.  Das könnte bei der Gleichheit anders sein.  Doch sind es hier die "idealen Bedingungen" von Klarheit, Informiertheit und Unparteilichkeit, die die Folge garantieren, indem sie diskriminierende Argumente in dem betreffenden Diskurs ausschließen.  Diese idealen Bedingungen sind wiederum die nicht diskursiv ausgewiesenen Kriterien des idealen Diskurses.  Auch bei der Begründung der Gleichheit spielt damit der Diskurs, also das Ringen um das beste Argument, keine Rolle.  Vielmehr können nur Argumente gelten, die aus den Diskursbedingungen folgen.

Letztlich geht es Verf. aber um die Gerechtigkeit positiven Rechts.  Gerade hier möchte er Alexys Ansatz weiterentwickeln.  Dazu muß er zunächst begründen, warum es sich bei rechtlicher Kommunikation um Diskurse handelt (S. 347 f.).  Dies geschieht durch eine Erweiterung der Sonderfallthese um die Annahme, daß nicht nur der juristische, sondern auch der rechtspolitische Diskurs Sonderfälle des allgemeinen Diskurses sind.  Beide sind reale Diskurse, die vor strategischer Ausnutzung geschützt werden müssen, damit sie gerechtes Recht begründen können (S. 356).  Diese "Verfahren müssen so gestaltet sein, daß sie entweder die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ein schon als gerecht begründetes Ergebnis real umzusetzen (unvollkommen prozedurale Gerechtigkeit), oder sie müssen sicherstellen, daß jedes Ergebnis, solange es innerhalb materieller Gerechtigkeitsvorgaben liegt, als definitiv gerecht angesehen werden kann (quasi-reine prozedurale Gerechtigkeit)" (S. 358).  - Spielt also der Diskurs für die Gerechtigkeit des positiven Rechts eine Rolle?  Bei der unvollkommen prozeduralen Gerechtigkeit liegen die Kriterien des gerechten Ergebnisses schon außerdiskursiv fest.  Verfahrensbedingungen müssen die Umsetzung im realen Diskurs fördern.  Der reale Diskurs ist also auch hier für die Begründung ohne Bedeutung, sondern nur für die Umsetzung bereits feststehender Gerechtigkietskriterien.  Bei der "quasi-reinen prozeduralen Gerechtigkeit" soll es kein verfahrensunabhängiges Kriterium für die Beurteilung der Ergebnisgerechtigkeit geben ("D3d", S. 128).  Der Gerechtigkeitsrahmen möglicher Entscheidungen ist aber auch hier bereits im voraus abgesteckt.  Dem Diskurs kommt nur noch die Funktion der Auswahl unter den insofern begrenzten Möglichkeiten zu.  Auch hier gibt er nicht selbst ein Kriterium für die Gerechtigkeit des Ergebnisses ab.  Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß ein Diskurs, der den Gerechtigkeitsvorgaben folgt, kein gerechtes Ergebnis zur Folge hätte.  Nur: Dessen Gerechtigkeitsgehalt steht schon mit den Rahmenvorgaben fest und wird nicht durch den Diskurs begründet.

Die Frage, "wozu benötigt die Diskurstheorie Diskurse?", läßt sich somit überraschenderweise dadurch beantworten, daß Diskurse zwar den Gegenstand der Untersuchung bilden, für die Frage der Gerechtigkeit des Rechts aber keine begründen-|
de Funktion haben.  Diskurse setzen auf ihrer jeweiligen Stufe das Maß an Gerechtigkeit um, das auf einer höheren Stufe bereits begründet ist, angefangen vom idealen Diskurs, dessen Idealität extradiskursiv begründet ist, über den realen Diskurs zu den als Sonderfällen erfaßten juristischen und rechtspolitischen Diskursen.  "Reine prozedurale Gerechtigkeit", als "diejenige prozedurale Gerechtigkeit, bei der ein Verfahren mit Sicherheit ein gerechtes Ergebnis bewirkt, wobei es kein verfahrensunabhängiges Kriterium für die Beurteilung der Gerechtigkeit gibt ..." ("D3c", S. 127) hat in dieser Gerechtigkeitstheorie, anders als bei Rawls (S. 204), keine Funktion.  Damit sind Prozeduren der Gegenstand der prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit, nicht die Form der Theorie und auch nicht die Form der Gerechtigkeit.  Es geht um die Geltung von Diskursen als gerecht und nur in diesem Rahmen um die Rechtfertigung von Verfahrensergebnissen als Folge gerechter Diskurse.

Auch derjenige Leser, der sich diesen kritischen Anmerkungen anschließt, wird die bei Robert Alexy entstandene Dissertation mit reichem Gewinn und angesichts der ausgesprochen sorgfältigen Argumentationsgänge mit großem Genuß lesen.  Denn er bekommt über zwei Drittel der Arbeit Klassifizierung, Darstellung, Einordnung und Kritik des kaum noch übersehbaren Feldes gegenwärtiger Theorien politischer Gerechtigkeit geboten.  Auch bei flüchtiger Lektüre findet man sich in der Arbeit dank klarer Gliederung, zahlreichen Zusammenfassungen, eines Verzeichnisses der Definitionen, Theoreme und Prinzipien und eines ausführlichen Sachverzeichnisses sehr gut zurecht.  Am Ende wird der Leser also nicht unbedingt ein Verfechter einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit sein; er wird das Buch aber, bereichert durch klare Abgrenzungen in bezug auf Funktionen von Gerechtigkeit und Abgrenzungen von Gerechtigkeitstheorien, in Griffweite seines rechtstheoretischen Arbeitsplatzes bereithalten."


Letzte Änderung am 14. Sep. 2005
Bern, A. Tschentscher