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Informationen zum Dokument  BGE 143 IV 302  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe Bunde ...
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38. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_184/2017 vom 19. Juli 2017
 
 
Regeste
 
Art. 146 Abs. 1 StGB; Versicherungsbetrug; arglistige Täuschung und Eigenverantwortung des Versicherers.  
 
Sachverhalt
 
BGE 143 IV, 302 (302)A. X. hat bei der Versicherungsgesellschaft A. AG mit Wirkung ab dem 20. Mai 2014 eine Vollkaskoversicherung für einen Wohnanhänger abgeschlossen. Am 21. August 2014 meldete er telefonisch BGE 143 IV, 302 (303)einen Hagelschaden am Dach des Wohnanhängers. Entgegen seiner Angabe, der Schaden sei am 23. oder 24. Juni 2014 anlässlich einer Reise in Weissrussland entstanden, existierte dieser schon beim Kauf des Gefährts am 20. März 2013. Dieser Umstand war X. bewusst. Nachdem der Versicherer mitgeteilt hatte, einen Fachspezialisten für die Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs beiziehen zu wollen, zog X. die Schadenanzeige zurück.
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Das Kreisgericht St. Gallen sprach X. am 10. März 2016 des versuchten Betrugs schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 130 Franken.
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B. X. erhob Berufung beim Kantonsgericht St. Gallen. Dieses bestätigte den Entscheid des Kreisgerichts (Urteil vom 22. November 2016).
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C. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er sei von der Anklage wegen versuchten Betruges freizusprechen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.
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Aus den Erwägungen:
 
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1.1 Gemäss Art. 146 Abs. 1 StGB macht sich des Betruges schuldig, wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmässig zu bereichern, jemanden durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen arglistig irreführt oder ihn in einem Irrtum arglistig bestärkt und so den Irrenden zu einem Verhalten bestimmt, wodurch dieser sich selbst oder einen andern am Vermögen schädigt. Vorliegend ist der Versicherungsgesellschaft kein Vermögensschaden entstanden. Es fehlt somit am zur Vollendung der Tat gehörenden deliktischen Erfolg (vgl. WILLI WISMER, Das Tatbestandselement der Arglist beim Betrug, 1988, S. 117). Zu prüfen gilt es, ob die Verurteilung wegen versuchten Betrugs (Art. 22 StGB) unter den Gesichtspunkten der Arglist und der mit ihr korrespondierenden Selbstverantwortung des Opfers standhält.
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1.2 Angriffsmittel beim Betrug ist die Täuschung des Opfers. Als Täuschung gilt jedes Verhalten, das darauf gerichtet ist, bei einem BGE 143 IV, 302 (304)andern eine von der Wirklichkeit abweichende Vorstellung hervorzurufen. Sie ist eine unrichtige Erklärung über Tatsachen, das heisst über objektiv feststehende, vergangene oder gegenwärtige Geschehnisse oder Zustände. Der Tatbestand erfordert eine arglistige Täuschung. Betrügerisches Verhalten ist strafrechtlich erst relevant, wenn der Täter mit einer gewissen Raffinesse oder Durchtriebenheit täuscht. Ob die Täuschung arglistig ist, hängt nicht davon ab, ob sie gelingt. Wenn das Opfer der Täuschung nicht erliegt, entfällt Arglist deswegen nicht notwendigerweise. Es ist dann hypothetisch zu prüfen, ob die Täuschung unter Einbezug der Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers als nicht oder nur erschwert durchschaubar erscheint (BGE 135 IV 76 E. 5.1 und 5.2 S. 78 f. mit Hinweisen).
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1.3.1 Art und Intensität der angewendeten Täuschungsmittel müssen eine erhöhte Gefährlichkeit offenbaren. Eine solche Situation liegt bei mehrfachen, raffiniert aufeinander abgestimmten Lügen (sog. Lügengebäuden) vor, durch welche sich selbst ein kritisches Opfer täuschen lässt, oder bei besonderen Machenschaften im Sinne von Inszenierungen, die durch intensive, planmässige und systematische Vorkehrungen, nicht aber notwendigerweise durch eine besondere tatsächliche oder intellektuelle Komplexität gekennzeichnet sind. Dagegen genügen einfache Lügen, plumpe Tricks oder leicht überprüfbare falsche Angaben als solche nicht. Bei einfachen falschen Angaben wird Arglist indessen unter anderem dann bejaht, wenn die Überprüfung nicht oder nur mit besonderer Mühe möglich oder wenn sie nicht zumutbar ist (BGE 135 IV 76 E. 5.2 S. 79).
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1.3.2 Vorliegend besteht die Täuschungshandlung in einer Meldung, mit welcher der Beschwerdeführer wahrheitswidrig behauptet hat, der Hagelschaden am Fahrzeug sei erst nach Abschluss der Vollkaskoversicherung entstanden. Der Beschwerdeführer macht in diesem Zusammenhang zunächst geltend, es liege eine bloss telefonische Schadenmeldung vor. Schon deswegen sei die von der Vorinstanz angeführte Rechtsprechung, wonach das Abfassen einer Schadenanzeige immer arglistig sei, nicht einschlägig. Mit einem BGE 143 IV, 302 (305)gleichlautenden Vorbringen hat sich bereits die Vorinstanz befasst. Sie erwog, die Versicherung habe im Anschluss an die fernmündliche Meldung eine Begutachtung des Fahrzeugs veranlasst; dieser Hergang zeige, dass die Schadenabklärung durch schriftliche, telefonische oder mündliche Meldungen gleichermassen in Gang gesetzt werde. Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesem Argument nicht auseinander. Diesbezüglich ist auf die Beschwerde nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 2 BGG).
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1.3.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, es fehle an besonderen Machenschaften. Bei einfachen falschen Angaben kann indessen Arglist gegeben sein, wenn im betreffenden Geschäftsbereich eine nähere Überprüfung typischerweise nicht üblich ist, etwa weil sie unverhältnismässig erschiene (vgl. HEIDI SÄGESSER, Opfermitverantwortung beim Betrug, 2014, Rz. 249), und auch die konkreten Verhältnisse im Einzelfall keine besonderen Vorkehrungen nahelegen oder gar aufdrängen. Mit einer engeren Auslegung des Betrugstatbestandes würde eine sozialadäquate Geschäftsausübung und damit der Regelfall des Geschäftsalltags betrugsrechtlich nicht geschützt (Urteil 6S.291/2001 vom 15. Mai 2001 E. 2c; vgl. SÄGESSER, a.a.O., Rz. 373 f.). Der Kontrollaufwand muss also in einem betriebswirtschaftlich vernünftigen Rahmen gehalten werden können (MARKUS BOOG, Versicherungsbetrug: strafrechtliche Aspekte, in: Haftung und Versicherung, Weber/Münch [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, Rz. 30.29; CASSANI, a.a.O., S. 158; WISMER, a.a.O., S. 168). Auf der anderen Seite schützt der Betrugstatbestand aber durchaus nicht alle Risiken, die das Opfer zwecks kostenoptimierender Geschäftsabwicklung eingeht (CASSANI, a.a.O., S. 171; SÄGESSER, a.a.O., Rz. 264).
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Der Beschwerdeführer spricht dem vorliegenden Fall den Routinecharakter ab, weil sich der Schaden auf über elftausend Franken belaufe. Dieser Betrag sei viel höher als Schadenssummen, welche das Bundesgericht als "eher gering" bezeichnet habe. Zugrunde zu legen BGE 143 IV, 302 (306)ist freilich die effektive Entschädigung, welche der Expertenschätzung zufolge sechs- bis siebeneinhalb Tausend Franken beträgt. Kasuistische Vergleiche der Schadenssummen, wie sie der Beschwerdeführer anstellt, sind ohnehin nur sehr bedingt möglich: Die Erheblichkeit oder Geringfügigkeit kann nicht absolut bestimmt werden. Die Frage ist vielmehr mit Blick auf die je spezifischen Eigenschaften der infrage stehenden wirtschaftlichen Vorgänge und auf das jeweilige geschäftliche Umfeld zu beantworten (vgl. etwa für ein Beispiel aus dem Versandhandel: BGE 142 IV 153 E. 2.2.4 S. 156). Vorliegend ist gewiss nicht bloss ein Bagatellschaden gegeben, bei welchem der Aufwand für eine effektive Kontrolle wirtschaftlich von vornherein unverhältnismässig wäre (vgl. BOOG, a.a.O., Rz. 30.38). Doch handelt es sich auch unter Berücksichtigung der Höhe der Entschädigung ohne Weiteres noch um einen typischen Routineschadenfall im Rahmen des Massengeschäfts einer Fahrzeugversicherung, in welchem nach dem Prinzip von Treu und Glauben keine ausserordentlichen Vorkehrungen zu erwarten waren.
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1.4.1 Der Betrug ist ein Interaktionsdelikt, bei welchem der Täter auf die Vorstellung des Opfers einwirkt und dieses veranlasst, sich selbst durch die Vornahme einer Vermögensverfügung zugunsten des Täters oder eines Dritten zu schädigen. Die Sozialgefährlichkeit der Täuschung (SÄGESSER, a.a.O., Rz. 156) ist durch eine Abwägung von Täterverschulden und Opferverantwortung zu ermitteln. Das Mass der erwarteten Aufmerksamkeit und die damit einhergehende Vermeidbarkeit des Irrtums sind individuell zu bestimmen. Arglist scheidet lediglich aus, wenn der vom Täuschungsangriff Betroffene die grundlegendsten Vorsichtsmassnahmen nicht beachtet hat. BGE 143 IV, 302 (307)Entsprechend entfällt der strafrechtliche Schutz nicht bei jeder Fahrlässigkeit des Opfers, sondern nur bei einer Leichtfertigkeit, welche das betrügerische Verhalten des Täters in den Hintergrund treten lässt. Die Selbstverantwortung des Opfers führt daher nur in Ausnahmefällen zum Ausschluss der Strafbarkeit des Täuschenden (BGE 135 IV 76 E. 5.1 und 5.2 S. 78 ff. mit Hinweisen; vgl. auch BGE 142 IV 153 E. 2.2.2 S. 155; CASSANI, a.a.O., S. 154 f.; zu den Möglichkeiten differenzierender Rechtsgestaltung bei konkurrierender Täter- und Opferverantwortlichkeit: SÄGESSER, a.a.O, Rz. 157 ff.; MARC THOMMEN, Opfermitverantwortung beim Betrug, ZStrR 126/2008 S. 33 ff.).
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Damit ist zu prüfen, ob ein täuschendes Handeln auch durch vorangegangenes Verhalten des Opfers in den Hintergrund gedrängt werden kann. Dies ist schon deswegen zu verneinen, weil das potentielle Opfer die Chance haben muss, seine prekäre - auf betrügerische Täuschungen anfällige - Situation, in die es sich selber einmal gebracht hat, bei späterer Gelegenheit zu korrigieren, und sei es auch nur im Ergebnis, ohne sich der eigenen vorangegangenen Unvorsichtigkeit bewusst geworden zu sein. Hier hat der Versicherer den Betrugsversuch nach Feststellung der Vorinstanz denn auch durch "umsichtiges Verhalten" abgewehrt. Hinzu kommt, dass eine Leichtfertigkeit, die der Täter nachträglich zur Täuschung ausnutzt, dessen Beitrag zum deliktischen Erfolg nicht relativiert. Im Gegenteil: Der in der Täuschung liegende Handlungsunwert ist besonders gross, weil der Täter die exponierte Situation des Betroffenen gezielt angreift.
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Hier war die vor Versicherungsbeginn unterlassene Besichtigung des versicherten Wohnanhängers nach Feststellung der Vorinstanz zudem nicht in erster Linie Folge einer dem Versicherer anzulastenden Nachlässigkeit: Der Wohnanhänger habe sich damals bis auf Weiteres am Comersee in Italien befunden, weshalb zunächst nur eine provisorische Police ausgestellt werden konnte. Es wäre in sich widersprüchlich, wenn der Beschwerdeführer den Umstand, dass er BGE 143 IV, 302 (308)die Kulanz des Versicherers (zu deren Bedeutung WISMER, a.a.O., S. 168) für eine Täuschung missbraucht hat, zum Anlass nehmen dürfte, dem Getäuschten ein erhebliches Selbstverschulden anzulasten.
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Bezogen auf den vorliegenden Fall heisst das, dass die bei Abschluss des Versicherungsvertrags unterlassene Besichtigung und Prüfung des Fahrzeugs auf vorbestandene Schäden in sich keine massgebliche, Arglist ausschliessende Opferverantwortung begründen kann. Insofern erfordert jene Unterlassung auch keine Kompensation in Form einer besonderen, das Geschäftsübliche übersteigenden Wachsamkeit des Versicherers (vgl. oben E. 1.3.5).
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