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Informationen zum Dokument  BVerwGE 21, 184 - Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe  Materielle Begründung
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Zitiert durch:
BVerwGE 24, 60 - Zumutbarkeit

Zitiert selbst:
BVerwGE 10, 164 - Polizeiliche Generalklauseln

Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Marcel Schröer, Fabian Beer, A. Tschentscher  
BVerwGE 21, 184 (184)1. Zu der Frage, in welchen Fällen ein Beweisantrag nach § 86 Abs. 2 VwGO vorliegt.  
2. Zu der Frage, in welchen Fällen ein nicht nachprüfbarer Spielraum bei der Entscheidung einer Behörde vorliegt (Begriff eines künstlerisch hochstehenden Konzerts im Vergnügungsteuerrecht).  
VwGO §§ 86, 114, 137  
 
Urteil
 
des VII. Senats vom 28. Mai 1965  
-- BVerwG VII C 125.63 --  
I. Verwaltungsgericht Düsseldorf  
II. Oberverwaltungsgericht Münster  
Die Klägerin, eine Konzertdirektion, machte geltend, daß die von ihr veranstalteten Konzerte eines Jazz-Ensembles künstlerisch hochstehend im Sinne des landesrechtlichen Vergnügungsteuergesetzes und deshalb von der Steuer befreit seien. Der Beklagte lehnte dies ab. Die Klage hatte Erfolg. Mit der Revision rügte der Beklagte, daß das Berufungsgericht einen Beweisantrag übergangen und in den behördlichen Beurteilungsspielraum eingegriffen habe. Die Revision wurde zurückgewiesen.
1
 
Aus den Gründen:
 
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Terminsbevollmächtigte des Beklagten den Antrag auf Anhörung des Prof. Dr. K. während der mündlichen Verhandlung in seinem Schlußvortrag gestellt hat (so der Vortrag des Beklagten) oder ob er diesen Antrag dem Berufungssenat nachgerufen hat, als der Vorsitzende die Verhandlung schon geschlossen hatte und im Begriff war, das Beratungszimmer zu betreten (so die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden des Berufungssenats). Der Beklagte behauptet nämlich selbst nicht, daß sein Terminsbevollmächtigter beantragt habe, den Antrag auf Anhörung des Prof. Dr. K. zu Protokoll zu nehmen. Nicht jeder während der mündlichen Verhandlung gestellte "Beweisantrag" ist ein Antrag nach § 86 Abs. 2 VwGO. Es ist vielmehr durchaus möglich, daß auch in der mündlichen Verhandlung das Gericht durch einen "Beweisantrag" lediglich angeregt werden soll, den Sachverhalt nach § 86 Abs. 1BVerwGE 21, 184 (184) BVerwGE 21, 184 (185)VwGO von sich aus zu erforschen. Wenn ein Beteiligter nicht nur eine solche Anregung geben will, sondern eine Entscheidung nach § 86 Abs. 2 VwGO erstrebt, so wird er seinen Beweisantrag als wesentlichen Verhandlungsvorgang nach § 105 Abs. 2 VwGO zu Protokoll geben (Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. September 1961 -- BVerwG VIII B 61.61 --, Buchholz BVerwG 310, § 108 Nr. 9; 11. Januar 1963 -- BVerwG VII B 44.61 --, Buchholz BVerwG 310, § 86 Nr. 16; 5. Juni 1964 -- BVerwG I B 79.64 --; Urteil vom 27. Februar 1964 -- BVerwG IIIC 89.62 --). Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen, von dem Beklagten auch nicht behauptet worden. Der Beklagte hat auch keinen Antrag auf Berichtigung oder Ergänzung des Protokolls gestellt. Bei dieser Sachlage kann eine Verletzung des § 86 Abs. 2 VwGO nicht festgestellt werden.
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Mit Recht hat das Berufungsgericht die Klage als eine Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO angesehen. Die Klage ist auf den Erlaß eines Verwaltungsakts des Beklagten gerichtet, durch den die hier im Streit befindlichen Konzerte als "künstlerisch hochstehend" anerkannt werden sollen. Nach der Ausgestaltung des Vergnügungsteuerrechts in den §§ 3, 10 und 28 des nordrhein-westfälischen Vergnügungsteuergesetzes vom 16. Oktober 1956 (GVB1. S. 295) ist in dem erstrebten Verwaltungsakt nicht darüber zu entscheiden, ob ein Konzert vergnügungsteuerfrei ist. Diese Wirkung tritt vielmehr automatisch kraft Gesetzes ein, wenn die Anerkennung als "künstlerisch hochstehend" erteilt worden ist. Das Berufungsgericht hat nicht näher dargelegt, was in diesen Rechtssätzen Voraussetzung und was Rechtsfolge ist, insbesondere ob der Begriff "künstlerisch hochstehend" zu den Voraussetzungen der begehrten Anerkennung gehört oder deren Inhalt ist. Der von der Beklagten behauptete Spielraum wäre je nachdem als ein Beurteilungsspielraum oder als ein Ermessensspielraum anzusehen. Doch kommt es hierauf für das hier zu treffende Urteil nicht entscheidend an. Das hier anzuwendende Recht ist Landesrecht, dessen Auslegung durch das Berufungsgericht grundsätzlich für das Revisionsgericht bindend ist. Dies gilt jedoch nicht, soweit die landesrechtlichen Bestimmungen und Begriffe für das bundesrechtlich geregelte Verfahrensrecht von Bedeutung sind, wie z.B. die Begriffe Verwaltungsakt oder subjektives Recht, oder -- wie hier -- gar zu einer Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung führen können. Die zu Unrecht erBVerwGE 21, 184 (185)BVerwGE 21, 184 (186)folgte Verneinung oder Bejahung eines Spielraums ist zugleich ein Verstoß gegen Verfahrensrecht und nach § 137 Abs. 1 VwGO in diesem Umfang vom Revisionsgericht nachzuprüfen, wobei die landesrechtlichen Vorschriften heranzuziehen sind (BVerwGE 1, 263). Das Berufungsgericht hat jedoch -- soweit seine Entscheidung nachgeprüft werden kann -- mit Recht verneint, daß die oben angegebenen Bestimmungen den Behörden den behaupteten Spielraum einräumen. Nach deren Wortlaut handelt es sich um die Feststellung, ob ein Konzert künstlerisch hochstehend ist. Es mag zwar hierüber verschiedene Ansichten geben. Nach der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung kann es aber nicht mehrere richtige Entscheidungen, sondern nur eine richtige Entscheidung geben. Der vom Beklagten behauptete Spielraum ergibt sich auch nicht etwa aus der verfahrensmäßigen Ausgestaltung, etwa aus der Einschaltung besonders sachverständiger Gremien. Denn nach § 28 Nrn. 1 und 2 des Vergnügungsteuergesetzes steht die Entscheidung nicht nur dem Kultusminister, sondern jeder Gemeinde zu. Es mag sein, daß mit den Worten "künstlerisch hochstehend" eine besondere Wertung verbunden ist. Aber auch dieser Gesichtspunkt allein rechtfertigt die Anerkennung eines behördlichen Spielraums nicht zwingend. Denn solche Wertungen sind in weitem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung in vollem Umfang unterworfen, wie das Bundesverwaltungsgericht wiederholt ausgeführt hat. So sieht der I. Senat ästhetische Begriffe des Baurechts wie die "anständige Baugesinnung", die ästhetische Beurteilung einer Werbeanlage und die einwandfreie Einfügung einer Anlage in die Umgebung für voll nachprüfbar an, ohne daß der Behörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird (vgl. z.B. Urteil vom 28. Juni 1955, BVerwGE 2, 172; Beschluß vom 6. Januar 1961 -- BVerwG 1 B 17 I.60 --, BB 1961, 1144; Beschluß vom 24. April 1962 -- BVerwG I B 60.62 --, Urteil vom 19. Dezember 1963, BVerwGE 17, 322). Auch der Begriff von "Sitte und Anstand" wird vom I. Senat für voll nachprüfbar angesehen (vgl. Urteil vom 23. Februar 1960, BVerwGE 10, 164). Demgegenüber wollen die Revision unter Berufung auf Kellner (DÖV 1962, 572 [578]) und der Oberbundesanwalt der Behörde einen Beurteilungsspielraum aus dem Grunde zubilligen, weil wertende Begriffe objektiven und allgemeingültigen Erkenntnissen kaum zugänglich seien, sondern immer ein subjektives Erkennen des Betrachters eine entscheidende Rolle spiele. WäreBVerwGE 21, 184 (186) BVerwGE 21, 184 (187)diese Ansicht richtig, dann müßte für sämtliche Begriffe aus dem geistigseelischen Bereich den Behörden ein Beurteilungsspielraum eingeräumt werden, weil auf diesem Gebiet eine "objektive" Erkenntnis zum wenigsten erschwert ist. Die oben angeführten Beispiele zeigen, daß das Bundesverwaltungsgericht die Verwaltungsgerichte bisher ständig für befugt angesehen hat, solche Begriffe voll nachzuprüfen. In dem Beschluß vom 6. Januar 1961 hat der I. Senat darauf hingewiesen, daß es nicht ungewöhnlich sei, daß der Richter bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf den verschiedensten Lebensgebieten seine persönliche Empfindung und Anschauung zurückdrängt und zum "objektiven" Maßstab seiner wertenden Beurteilung die Empfindungen und Anschauungen der Allgemeinheit oder bestimmter Gruppen von Menschen macht. Es sei ihm daher Gewohnheit, sich in die seelisch-geistige Verfassung anderer Menschen - der gedachten Repräsentanten der Allgemeinheit oder der Gruppen, vielfach auch der am Einzelfall beteiligten Personen - zu versetzen.
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Es darf schließlich nicht übersehen werden, daß aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem dort vorgeschriebenen umfassenden Rechtsschutz entnommen werden muß, daß auch solche Wertungen der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen, zumal die Gerichte in zweifelhaften Fällen Sachverständige beiziehen können. Mit Recht hat deshalb das Berufungsgericht den Sachverhalt in vorliegendem Falle in vollem Umfang überprüft. Jedenfalls kann hierin ein Verstoß gegen Verfahrensrecht nicht erblickt werden.BVerwGE 21, 184 (187)
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