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Informationen zum Dokument  BGE 1 I 6 - Kantonale Freizügigkeit  Materielle Begründung
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BGE 1 I 100 - Ausländische Eheschliessung

Zitiert selbst:

Sachverhalt
A.
B.
C.
D.
E.
F.
G.
H.
J.
Auszug aus den Erwägungen:
Erwägung 1
1. Bezüglich des ersten Begehrens der Rekurrenten, daß ...
Erwägung 2
2. Nun ist vorerst davon, daß der Beschluß des Bezirk ...
Erwägung 3
3. Der Art. 5 der Uebergangsbestimmungen zu der Bundesverfassung  ...
Erwägung 4
4. Was dagegen die zweite Beschwerde betrifft, welche sich darauf ...
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Amanda Wittwer, Susan Emmenegger  
 
BGE 1 I, 6 (6)2. Urtheil in Sachen Wittwe Inauen
 
vom 23. September 1875  
 
Sachverhalt
 
 
A.
 
Frau von Wattenwyl-Sinner in Bern hatte an den Ehemann der Rekurrentin Wittwe Inauen ein Guthaben von 10,000 Franken.  Nach dessen Tode ließ Hr. Ständerath J. B. Rusch in Appenzell im Frühjahr 1870 sich dieses Guthaben für 7200 Franken cediren, machte dasselbe jedoch in vollem Betrage gegen die Inauen'sche Hinterlassenschaft geltend, worauf Wittwe Inauen sich bei der ursprünglichen Kreditorin über das Verhältniß erkundigte und den Bericht erhielt, Hr. Rusch habe den Nachlaß erhalten, weil er erklärt habe, er müsse vor Allem für Frau und Kinder etwas retten.
1
Gestützt auf diese Mittheilung beschwerte sich Wittwe Inauen bei Hrn. Rusch und dritten Personen über die Handlungsweise des Ersteren, indem sie in der Ansicht stand, daß Hr. Rusch den Gewinn von 2800 Franken unrechtmäßiger Weise für sich behalte.BGE 1 I, 6 (6)
2
BGE 1 I, 6 (7)Hr. Rusch ließ die Sache bis Anfang des Jahres 1875 auf sich beruhen. Kurz vor der dießjährigen Landsgemeinde fand er sich dagegen veranlaßt, es in einem öffentlichen Blatte als Verläumdung zu erklären, daß er einen Gewinn bezogen habe, der der Masse Inauen gehört hätte. Darauf antwortete Wittwe Inauen mit dem Abdrucke des von der Frau von Wattenwyl erhaltenen Briefes, unter Beifügung einiger erläuternder Bemerkungen.
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B.
 
Wegen dieser Antwort der Wittwe Inauen ließ Hr. Rusch dieselbe wegen Injurien vor das Bezirksgericht Appenzell laden. Sie erschien vor demselben mit Hrn. Fürsprecher Sutter von St. Gallen als Vertheidiger und auf ihr Begehren anerkannte das Bezirksgericht Appenzell durch Beschluß vom 7. April 1875 ihr Recht, sich durch einen Fürsprecher ihrer Wahl verbeiständen zu lassen. Durch Urtheil vom 13. April d.J. erkannte sodann das Bezirksgericht, Wittwe Inauen sei bis zu einem allfälligen richterlichen Entscheide gegen Frau von Wattenwyl von der gegen sie obwaltenden Klage entlassen.
4
 
C.
 
Nunmehr wandte sich Hr. Rusch unterm 19. April an die Standeskommission des Kantons Appenzell I.-Rh., mit dem Begehren, daß ihm die Appellation gegen das Urtheil des Bezirksgerichtes bewilligt werde, indem nicht bloß eine Injurien-, sondern eine Forderungssache obwalte. Die Standeskommission entsprach zwar diesem Begehren nicht, da nur eine Injuriensache vom Gerichte behandelt worden sei, gab aber dem Hrn. Rusch die Weisung, sich nochmals an das Bezirksgericht zu wenden, damit dasselbe untersuche, ob nicht eine Forderungssache vorgelegen habe. Und auf eine weitere Anregung ertheilte sie dem Hrn. Rusch, gestützt auf Art. 5 der appenzellischen Gerichtsordnung, das Recht, bei ferneren Verhandlungen in diesem Prozesse "einen allfällig eintreten wollenden Fürsprech (Advokat) zurückzuweisen."
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D.
 
Gestützt auf diesen Bescheid der Standeskommission nahm Hr. Rusch neuerdings Vorstand vor dem Bezirksgerichte und verlangte, als Wittwe Inauen wieder mit Hrn. Fürsprech Sutter erschien, gestützt auf Art. 5 der Gerichtsorganisation und die InBGE 1 I, 6 (7)BGE 1 I, 6 (8)terpretation dieses Artikels durch die Standeskommission, daß Hr. Sutter zurückgewiesen werde. Wirklich entsprach nun das Bezirksgericht diesem Gesuche durch Beschluß vom 25. Mai d. Jahres gestützt auf die Bestimmung und den Wortlaut des angerufenen Gesetzesartikels, sowie dessen Interpretation seitens der Standeskommission.
6
 
E.
 
Ueber dieses Erkenntniß beschwerte sich nun Hr. Sutter Namens der Wittwe Inauen bei der Standeskommission wegen Rechtsverweigerung und Verletzung der Rechtsgleichheit; allein diese ließ ihm mit Zuschrift vom 5. Juni d.J. anzeigen, daß sie mit Rücksicht auf die mehrerwähnte Gesetzesbestimmung das Bezirksgericht nicht anhalten könne, einen berufsmäßigen Advokaten zuzulassen.
7
 
F.
 
Gegen diesen Entscheid der Standeskommission meldete Hr. Sutter bei derselben den Rekurs an den Großen Rath an. Die Standeskommission gab jedoch dem Rekurs keine Folge, sondern beschloß unterm 9. Juni d.J., in Erwägung:
8
    1. daß nach Art. 5, Lemma 1 der Gerichtsordnung in fraglicher Streitsache eine Vertretung durch einen berufsmäßigen Fürsprech unstatthaft sei;
9
    2. daß nach Art. 30 der kantonalen Verfassung und speziell nach Lemma 3, 5 und 9 des citirten Artikels es in der Kompetenz der Standeskommission liege, Anstände, wie den in Rede stehenden, zu erledigen, --
10
es sei der Entscheid vom 4. gl. Mts. aufrecht zu erhalten und eine Weiterziehung der Sache an den Großen Rath nicht zulässig.
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G.
 
Ueber diesen Beschluß beschwerte sich Hr. Sutter beim Bundesrathe und verlangte, daß der Wittwe Inauen der Acceß an die oberste kantonale Behörde zur Beschwerdeführung wegen Rechtsverweigerung und Verfassungsverletzung geöffnet werde.
12
Mit Schreiben vom 16. Juni d.J. sandte jedoch der Bundesrath die Beschwerdeschrift dem Rekurrenten zurück, indem in Folge der Organisation der Bundesrechtspflege der Entscheid über solche Rechtsbegehren in den Geschäftskreis des Bundesgerichtes falle.BGE 1 I, 6 (8)
13
 
BGE 1 I, 6 (9)H.
 
Gestützt hierauf hat nun Hr. Sutter die gleichen Begehren beim Bundesgerichte gestellt und denselben noch sowohl im eigenen Namen als für die Wittwe Inauen die Klage über Verletzung des Art. 33 der Bundesverfassung und Art. 5 der Uebergangsbestimmungen zu derselben zugefügt. Rekurrenten erblicken nämlich eine Verletzung dieser Bestimmungen darin, daß Herr Sutter, trotzdem er im Besitze eines Fähigkeitszeugnisses als Anwalt sich befinde, von den appenzellischen Gerichten zur Ausübung dieses Berufes nicht zugelassen worden sei, während die angeführten Verfassungsbestimmungen im Prinzipe das Recht jedes Schweizerbürgers, seinen wissenschaftlichen Beruf im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft auszuüben, anerkennen und dasselbe nur an die einzige Bedingung knüpfen, daß der Betreffende, wenn es in einem Kanton verlangt werde, sich über seine Befähigung ausweise. Demgemäß verlangten Rekurrenten:
14
    Daß der Beschluß des Bezirksgerichtes Appenzell vom 25. Mai betreffend die Unzulässigkeit der Verbeiständung der Wittwe Inauen durch Hrn. Sutter kassirt, eventuell
15
    der Wittwe Inauen der Acceß an den Großen Rath mit ihrer Beschwerde über Rechtsverweigerung und Verletzung der Rechtsgleichheit eröffnet werde.
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J.
 
Die Standeskommission von Appenzell I.-Rh. und Herr Rusch beantragten Abweisung der Beschwerde im Wesentlichen gestützt auf die in dem Beschlusse vom 5. Juni 1875 enthaltene Begründung.
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Auszug aus den Erwägungen:
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1
 
1. Bezüglich des ersten Begehrens der Rekurrenten, daß der Beschluß des Bezirksgerichtes Appenzell vom 25. Mai d.J., durch welchen dem Hrn. Fürsprech Sutter die Verbeiständung der Wittwe Inauen untersagt worden ist, kassirt werde, handelt es sich für das Bundesgericht nur um die Frage, ob durch den angefochtenen Beschluß Bestimmungen der Bundesverfassung verletzt seien. Denn Rekurrenten haben dasselbe ausdrücklich nur auf den Art. 33 der Bundesverfassung und Art. 5 der Uebergangsbestimmungen zu derselben gestützt; im Uebrigen aber,BGE 1 I, 6 (9) BGE 1 I, 6 (10)soweit die Anwendung und Auslegung kantonaler Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen, insbesondere des Art. 5 der appenzellischen Gerichtsorganisation in Frage kommt, einzig verlangt, daß ihnen der Acceß an den appenzellischen Großen Rath mit ihrer Beschwerde bewilligt werde.
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Erwägung 2
 
2. Nun ist vorerst davon, daß der Beschluß des Bezirksgerichtes Appenzell den Art. 33 der Bundesverfassung verletze, keine Rede. Dieser Verfassungsartikel stellt es lediglich den Kantonen anheim, die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten von einem Ausweise der Befähigung abhängig zu machen und erklärt es in seinem zweiten Lemma als Sache der Bundesgesetzgebung, dafür zu sorgen, daß derartige Ausweise für die ganze Eidgenossenschaft gültig erworben werden können. Dagegen ist in demselben die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft weder ausdrücklich noch stillschweigend gewährleistet; die Auslegung, welche Rekurrenten jener Verfassungsbestimmung geben, daß die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten lediglich von dem Ausweise der Befähigung abhängig gemacht werden könne, im Uebrigen aber ohne Einschränkung garantirt sei, findet in dem Inhalt derselben keine Begründung.
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Erwägung 3
 
3. Der Art. 5 der Uebergangsbestimmungen zu der Bundesverfassung bestimmt allerdings, daß Personen, welche den wissenschaftlichen Berufsarten angehören und welche bis zum Erlaß des in Art. 33 vorgesehenen Bundesgesetzes von einem Kanton oder von einer Konkordatsbehörde den Ausweis der Befähigung erlangt haben, befugt seien, ihren Beruf in der ganzen Eidgenossenschaft auszuüben. Allein auch diese Bestimmung hat ohne Zweifel nur den Sinn, daß Personen, welche vor einer Kantons- oder Konkordatsbehörde den Ausweis der Befähigung zur Ausübung einer wissenschaftlichen Berufsart geleistet haben, diesen Beruf auch im übrigen Gebiete der Eidgenossenschaft ausüben dürfen, ohne in den andern Kantonen gemäß den dortigen Gesetzen weitere Prüfungen bestehen zu müssen. Soweit dagegen nach der kantonalen Gesetzgebung die Ausübung einer wissenschaftlichen Berufsart, insbesondere z.B.BGE 1 I, 6 (10) BGE 1 I, 6 (11)des Anwaltsberufes, gar nicht oder nur mit gewissen Einschränkungen zulässig ist, hat der Art. 5 der Uebergangsbestimmungen zur Bundesverfassung nichts geändert und ist daher die Ausübung eines solchen Berufes in dem betreffenden Kantone überhaupt nicht oder nur nach Maßgabe des bezüglichen Gesetzes statthaft. Das erste Begehren der Rekurrenten muß somit abgewiesen werden.
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Erwägung 4
 
4. Was dagegen die zweite Beschwerde betrifft, welche sich darauf bezieht, daß die Standeskommission den an den Großen Rath gerichteten Rekurs der Wittwe Inauen gegen den Beschluß der Standeskommission vom 4. Juni d.J. nicht dem Großen Rathe vorgelegt, sondern von sich aus zurückgewiesen hat, so erscheint dieselbe begründet. Nach Art. 7 der appenzellischen Verfassung vom 24. Wintermonat 1872 ist allen Kantonseinwohnern das Recht, an die Orts- und Kantonsbehörden Wünsche und Verlangen zu stellen, gewährleistet, und es hätte daher die Standeskommission, auch wenn sie die Kompetenz des Großen Rathes zur Behandlung des Rekurses nicht als begründet ansah, denselben doch jedenfalls dem Großen Rathe vorlegen sollen, indem es unzweifelhaft Sache des letzteren ist, seine Zuständigkeit zu prüfen und darüber, sowie über die Rechtsbeständigkeit der Beschlüsse der Standeskommission, insbesondere auch betreffend Auslegung des Art. 5 der Gerichtsorganisation Beschluß zu fassen.
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Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
 
Die Beschwerde ist, soweit sie gegen den Entscheid der Standeskommission vom 4. Juni d.J. gerichtet ist, begründet, und es wird demnach die Standeskommission von Appenzell I.-Rh. eingeladen, die Beschwerde der Rekurrenten dem dortigen Großen Rathe zur Beschlußfassung vorzulegen; im Uebrigen ist der Rekurs als unbegründet abgewiesen.BGE 1 I, 6 (11)
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