VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_386/2021  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 15.01.2022, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_386/2021 vom 15.12.2021
 
[img]
 
 
9C_386/2021
 
 
Urteil vom 15. Dezember 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Huber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
SWICA Krankenversicherung AG,
 
Römerstrasse 38, 8401 Winterthur,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. Juni 2021 (IV 2020/128).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
1
A.A.________ (Jahrgang 2005) wurde im Januar 2019 unter Hinweis auf einen Spitalaufenthalt vom 25. April bis 24. Mai 2018 zur Behandlung einer Epiphyseolysis capitis femoris rechts bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Mit Vorbescheid vom 5. August 2019 kündigte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen an, A.A.________ habe sich die Epiphysenlösung am 25. April 2018 beim Fussballspielen zugezogen. Es handle sich somit um eine unfallbedingte Ätiologie, weshalb keine Kostengutsprache für medizinische Massnahmen durch die Invalidenversicherung erfolgen könne. Daran hielt sie mit Verfügung vom 13. Mai 2020 fest.
2
B.
3
Dagegen erhob die SWICA Krankenversicherung AG (nachfolgend: SWICA) Beschwerde. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hob die Verfügung vom 13. Mai 2020 auf und sprach A.A.________ die Heilbehandlung der Epiphyseolysis femoris capitis rechts zu Lasten der IV-Stelle zu. Es wies die Sache zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 1. Juni 2021).
4
C.
5
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie die Bestätigung ihrer Verfügung vom 13. Mai 2020.
6
Die SWICA und die Vorinstanz äussern sich, ohne einen formellen Antrag zu stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
7
 
Erwägungen:
 
1.
8
Im vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid hat das kantonale Gericht die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 12 IVG zur Übernahme der Heilbehandlungskosten verpflichtet und die Sache zur Prüfung und Vergütung der entsprechenden Forderungen der medizinischen Leistungserbringer an diese zurückgewiesen. Weil die Rückweisung damit einzig noch der Umsetzung des von der Vorinstanz Angeordneten dient und der IV-Stelle kein Entscheidungsspielraum mehr verbleibt, handelt es sich materiell nicht - wie bei Rückweisungsentscheiden sonst grundsätzlich der Fall (vgl. BGE 138 I 143 E. 1.2; 133 V 477 E. 4.2) - um einen Zwischenentscheid, gegen den ein Rechtsmittel letztinstanzlich bloss unter den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG zulässig ist. Vielmehr liegt ein von der Verwaltung anfechtbarer Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG vor (BGE 140 V 282 E. 4.2 mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist ohne Weiteres einzutreten.
9
2.
10
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
11
3.
12
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht die IV-Stelle bundesrechtskonform verpflichtet hat, die Kosten der medizinischen Behandlung der Epiphyseolysis femoris capitis rechts in Anwendung von Art. 12 IVG zu übernehmen.
13
4.
14
4.1. Die Vorinstanz erwog, es stelle sich die Frage, was unter dem Begriff "Unfallversicherung" in Art. 64 Abs. 2 lit. b ATSG zu verstehen sei. Gemäss Bundesgericht sei damit nicht der Sozialversicherungszweig der obligatorischen Unfallversicherung nach UVG, sondern die Leistungspflicht für jede medizinische Massnahme gemeint, die bei einer unfallbedingten Gesundheitsbeeinträchtigung notwendig sei. Das kantonale Gericht legte Art. 64 Abs. 2 ATSG aus und kam zum Schluss, entgegen der Auffassung des Bundesgerichts (Urteil 8C_421/2018 vom 28. August 2018 E. 5.2, in: SVR 2019 IV Nr. 9 S. 26) könne diese Regelung nur Sozialversicherungszweige und nicht die Ursache einer Gesundheitsbeeinträchtigung meinen.
15
Das kantonale Gericht erkannte weiter, A.A.________ sei nicht im Sinne des UVG obligatorisch unfallversichert gewesen. Die Abdeckung des Unfallrisikos sei bei ihm in Anwendung des Art. 8 KVG in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung eingeschlossen, was bedeute, dass er unabhängig von der Ursache einer Gesundheitsbeeinträchtigung (Krankheit, Unfall oder unfallähnliche Körperschädigung) von vornherein nur einen Anspruch auf eine Heilbehandlung durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung nach Massgabe des KVG gehabt hätte, wenn die allfällige Leistungspflicht der Invalidenversicherung ausgeklammert würde.
16
Die Vorinstanz prüfte in der Folge die Voraussetzungen von Art. 12 IVG. Sie hielt fest, ohne eine medizinische Behandlung hätte die Epiphyseolysis femoris capitis links (richtig: rechts) zu einer bleibenden Hüftfehlstellung führen können. Es habe eine Heilung mit Defekt oder ein sonstwie stabilisierter Zustand gedroht, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beides beeinträchtigt gewesen wäre. Der Eingriff habe somit nicht der Behandlung des Leidens an sich, sondern der (späteren) Eingliederung in das Erwerbsleben gedient. Die Kosten der medizinischen Behandlung seien deshalb in Anwendung des Art. 12 IVG von der Invalidenversicherung zu übernehmen.
17
4.2. Die IV-Stelle macht geltend, A.A.________ habe beim Fussballspielen am 28. April 2018 (richtig: 25. April 2018) einen Zusammenstoss sowie einen Sturz erlitten und sich dabei das Bein verdreht. Die Heilbehandlungskosten seien daher nicht mit Blick auf die Eingliederung, sondern aufgrund der direkten Folge eines Unfalls und der daraus resultierenden Verletzung entstanden. Medizinische Massnahmen bei Epiphysenlösungen, die nach Unfällen aufgetreten seien oder zum ersten Mal Beschwerden machten, würden gemäss Ziffern 734/934.1-4 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME, gültig ab 1. Januar 2021) nicht in den Bereich der Leistungen der Invalidenversicherung fallen.
18
5.
19
5.1. Nach Art. 64 Abs. 1 ATSG wird die Heilbehandlung, soweit die Leistungen gesetzlich vorgeschrieben sind, ausschliesslich von einer einzigen Sozialversicherung übernommen. Sind die Voraussetzungen des jeweiligen Einzelgesetzes erfüllt, so geht gemäss Art. 64 Abs. 2 ATSG die Heilbehandlung im gesetzlichen Umfang und in nachstehender Reihenfolge zu Lasten: der Militärversicherung (lit. a); der Unfallversicherung (lit. b); der Invalidenversicherung (lit. c); der Krankenversicherung (lit. d).
20
5.2. Die Anwendbarkeit von Art. 64 ATSG bedingt, dass die Leistungsvoraussetzungen mehrerer Sozialversicherer gleichzeitig erfüllt sind. Hinsichtlich der Leistungspflicht des jeweiligen Versicherers stellt Art. 64 ATSG keine von den Einzelgesetzen abweichende materielle Regelung auf; vielmehr regelt er nur die Koordination der Heilbehandlungen, wenn mehrere Einzelgesetze jeweils eine Leistungspflicht vorsehen (BGE 134 V 1 E. 6.1; MARC HÜRZELER/BETTINA BÜRGI, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 3 und 4 zu Art. 64 ATSG).
21
5.3. Vor diesem Hintergrund ist auf die vorinstanzlichen Erwägungen zu Art. 64 Abs. 2 ATSG nicht weiter einzugehen. Im vorliegenden Fall steht nicht eine Koordinationsproblematik im Fokus, sondern es ist unabhängig von Art. 64 Abs. 2 ATSG, der keine von den jeweiligen Einzelgesetzen abweichende materielle Reglung aufstellt, zu klären, ob die Invalidenversicherung hier eine Leistungspflicht trifft oder nicht.
22
6.
23
6.1.
24
6.1.1. Gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren.
25
Der Bundesrat ist befugt, die Massnahmen gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG von jenen, die auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sind, abzugrenzen. Er kann zu diesem Zweck insbesondere die von der Versicherung zu gewährenden Massnahmen nach Art und Umfang näher umschreiben und Beginn und Dauer des Anspruchs regeln. Von dieser Befugnis hat der Bundesrat in Art. 2 IVV Gebrauch gemacht. Nach Abs. 4 dieser Bestimmung gilt insbesondere die Behandlung von Verletzungen, Infektionen sowie inneren und parasitären Krankheiten nicht als medizinische Massnahme im Sinne von Art. 12 IVG. Weitere Konkretisierungen enthält das KSME.
26
6.1.2. Art. 12 IVG bezweckt namentlich, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 140 V 246 E. 7.5.1; Urteile 8C_203/2016 vom 12. August 2016 E. 4.1; 8C_106/2014 vom 9. April 2014 E. 7.1 mit weiteren Hinweisen; vgl. auch ULRICH MEYER/MARCO REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014 N. 76 zu Art. 12 IVG).
27
6.2. Die Vorinstanz hat die Leistungspflicht der Invalidenversicherung damit begründet, dass die Behandlung der Epiphyseolysis femoris capitis rechts der (späteren) Eingliederung ins Erwerbsleben gedient habe. Diese Ausführungen greifen hier zu kurz. Denn das kantonale Gericht lässt dabei ausser Acht, dass namentlich die Behandlung von Verletzungen gemäss Art. 2 Abs. 4 IVV nicht als medizinische Massnahmen gelten. Nichts anderes geht aus Ziffer 734/934.1 KSME hervor, wonach medizinische Massnahmen bei Epiphysenlösungen, die nach Unfällen aufgetreten seien oder zum ersten Mal Beschwerden gemacht hätten, keine Leistungen der Invalidenversicherung auslösen würden.
28
Das kantonale Gericht hat zu diesem Punkt lediglich erkannt, das Beschwerdeverfahren beschränke sich auf die Frage, ob die Voraussetzungen für medizinische Massnahmen im Sinne des Art. 12 IVG im Zusammenhang mit einer im April 2018 eingetretenen Epiphyseolysis femoris capitis rechts erfüllt gewesen seien. Daraus kann allerdings nicht ohne Weiteres abgeleitet werden, es sei davon ausgegangen, die Epiphyseolysis sei als Folge eines erlittenen Sportunfalles eingetreten, wie die IV-Stelle geltend macht. Da die Vorinstanz keine weiteren Feststellungen dazu getroffen hat, ist die Sache aus Rechtsschutzgründen (kein Verlust der ersten und einzigen Instanz mit freier Beweiswürdigung) an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es diese Frage kläre und hernach neu über den Anspruch auf medizinische Massnahmen nach Art. 12 IVG entscheide.
29
7.
30
Rechtsprechungsgemäss gilt die Rückweisung der Sache zu neuem Entscheid als volles Obsiegen (BGE 141 V 281 E. 11.1; 137 V 210 E. 7). Die Gerichtskosten werden daher der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
31
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. Juni 2021 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 6000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, A.B.________ und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. Dezember 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber
 
© 1994-2022 Das Fallrecht (DFR).