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Informationen zum Dokument  BGer 8C_351/2021  Materielle Begründung
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BGer 8C_351/2021 vom 05.11.2021
 
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8C_351/2021
 
 
Urteil vom 5. November 2021
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Bernhard Zollinger,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Invalditätsbemessung),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 3. März 2021 (UV.2020.00130).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
1
Der 1953 geborene A.________ ist Inhaber einer gleichnamigen Autowerkstatt und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 11. August 2015 rutschte er beim Herausheben eines Getriebes ab, sodass sein linker Arm mit der gesamten Last nach unten gerissen wurde. Die ärztliche Erstuntersuchung ergab Partialrupturen der Spinatus- und Supraspinatussehne. Nach zunächst konservativer Behandlung wurde A.________ Ende März 2016 in der Klinik B.________ an der betroffenen linken Schulter operiert. Im Oktober 2017 folgte eine zweite Operation. Die Suva erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld) und nahm medizinische sowie erwerbliche Abklärungen vor. Mit Verfügung vom 29. November 2019 sprach sie A.________ eine Integritätsentschädigung von 20 % zu, verneinte jedoch einen Rentenanspruch, da in einer den Unfallrestfolgen angepassten Tätigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt eine 100%ige Arbeitsfähigkeit bestehe. Demgegenüber könne beim 50 %-Pensum, das A.________ gegenwärtig im eigenen Betrieb ausübe, nicht von einer der Schadenminderungspflicht genügenden Eingliederung ausgegangen werden. Daran hielt die Suva mit Einspracheentscheid vom 28. April 2020 fest.
2
B.
3
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 3. März 2021 insoweit gut, als es den angefochtenen Einspracheentscheid vom 28. April 2020 aufhob und feststellte, A.________ habe ab Januar 2020 Anspruch auf eine Rente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 11 %.
4
C.
5
Die Suva führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei ihr Einspracheentscheid vom 28. April 2020 zu bestätigen.
6
A.________ lässt auf Bestätigung des angefochtenen Urteils schliessen und ferner die unentgeltliche Rechtspflege beantragen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
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1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
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2.
10
Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzliche Rentenzusprache vor Bundesrecht stand hält.
11
2.1. Ist eine versicherte Person infolge des Unfalles mindestens zu 10 % invalid, so hat sie gemäss Art. 18 Abs. 1 UVG Anspruch auf eine Invalidenrente.
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2.2. Zur Bestimmung des Invaliditätsgrades wird gemäss Art. 16 ATSG das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der unfallbedingten Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (sog. Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (sog. Valideneinkommen; zum Ganzen statt vieler: BGE 143 V 295 E. 2.1; 139 V 592 E. 2.2).
13
3.
14
Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen anhand des in den Jahren 2010 bis 2014 in der selbstständigen Erwerbstätigkeit durchschnittlich erzielten Verdienstes des Beschwerdegegners auf Fr. 36'167.- festgelegt. Sodann hat sie die vom Bundesamt für Statistik (BfS) herausgegebene Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE 2018, Tabelle TA1, Männer, Total, Kompetenzniveau 2; Fr. 5649.- x 12 = Fr. 67'788.-) herangezogen und das so ermittelte Einkommen an die Nominallohnentwicklung bis 2019 und die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit angepasst (Fr. 71'263.-). Nach einer Parallelisierung aufgrund des um rund 45 % branchenunüblich tiefen Valideneinkommens und einem Abzug vom Tabellenlohn von 5 % (vgl. BGE 126 V 75) ermittelte das kantonale Gericht ein Invalideneinkommen von Fr. 40'620.- (Fr. 71'263.- x 0.6 [45 % - 5 %] x 0.95). Angesichts des Valideneinkommens von Fr. 36'167.- hat es eine Erwerbseinbusse von Fr. 4453.- respektive einen Invaliditätsgrad von (gerundet) 11 % errechnet und folglich einen Rentenanspruch bejaht.
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4.
 
4.1. Die Beschwerdeführerin wendet zu Recht ein, die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung verletze Art. 16 ATSG. Schon Art. 7 ATSG sieht vor, dass sich die Höhe der Erwerbsunfähigkeit nach dem Ausmass des Verlusts der Erwerbsmöglichkeiten bemisst. Diese Festlegung konkretisiert Art. 16 ATSG dadurch, dass als massgebende Vergleichskriterien das Validen- und das Invalideneinkommen gelten. Der im Vergleich resultierende - durch die Invalidität bedingte - Rückgang des Einkommens bestimmt den Invaliditätsgrad (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, N. 9 zu Art. 7 ATSG). Demnach ist hinsichtlich dessen Berechnung beim Validen- und nicht beim Invalideneinkommen anzuknüpfen ([Valideneinkommen abzüglich Invalideneinkommen, multipliziert mit hundert] geteilt durch Valideneinkommen), was vorliegend zum Fehlen einer Einkommenseinbusse führt (negativer Invaliditätsgrad). Soweit das kantonale Gericht umgekehrt verfahren ist, hält dies vor Bundesrecht nicht stand.
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4.2. Was der Beschwerdegegner dagegen in seiner Vernehmlassung vorbringt, verfängt nicht. Soweit er insbesondere (erneut) geltend macht, eine weitere Erwerbstätigkeit führe zu einer Überlastung der gesunden rechten Schulter, kann ohne Weiteres auf die Ausführungen des kantonalen Gerichts verwiesen werden, wonach die beweiskräftige Abschlussbeurteilung des Kreisarztes med. pract. C.________ (Bericht vom 13. September 2019) nur - aber immerhin - den Schluss zulässt, dass rechts keine Einschränkungen bezüglich der zu hebenden und tragenden Lasten bestehen (vorinstanzliche Erwägung 4.2). Ein Anhaltspunkt für die behauptete Überlastungsproblematik - in angepasster Tätigkeit - ist weder ersichtlich noch (substanziiert) dargelegt. Ob sodann dem Invalideneinkommen das Kompetenzniveau 1 (Fr. 5417.- [LSE 2018, Tabelle TA1, Männer, Total]) zugrunde gelegt werden müsste, weil der Beschwerdegegner - wie er geltend macht - schriftlich nicht sattelfest sei und eine rein administrative Tätigkeit daher nicht in Frage komme, kann offen bleiben. Denn in diesem Fall beliefe sich das Invalideneinkommen, der insoweit zu Recht unbestrittenen Berechnung des kantonalen Gerichts folgend, auf (gerundet) Fr. 38'958.- ([Fr. 5417.- x 12] : 40 x 41.7 x 106.0 /105.1 [BfS, Tabelle T1.1.10, Nominallohnindex 2011-2020 / Basis 2010 = 100, Männer, Total] = Fr. 68'347.- x 0,95 x 0,6). Mit Blick auf das tiefere Valideneinkommen (Fr. 36'167.-) fällt ein Rentenanspruch folglich unverändert ausser Betracht. Bringt der Beschwerdegegner schliesslich vor, seine Arbeitsfähigkeit sei aufgrund seines Alters nicht verwertbar respektive es dürfe ihm altersbedingt kein Stellenwechsel mehr zugemutet werden, so ist ihm entgegen zu halten, dass der Unfallversicherer mit Blick auf den hier unbestritten anwendbaren Art. 28 Abs. 4 UVV nicht zu prüfen hat, ob und inwieweit eine versicherte Person fortgeschrittenen Alters die ihr verbliebene medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit zu verwerten vermag (statt vieler: Urteil 8C_732/2018 vom 26. März 2019 E. 7.2 mit Hinweisen). Auch anhand der sonstigen Vorbringen ergibt sich nichts Substanzielles zu Gunsten des Beschwerdegegners.
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5.
18
Nach dem Gesagten erübrigen sich Weiterungen zur - an sich berechtigten - Rüge der Beschwerdeführerin, das anhand des Durchschnitts der tatsächlich in den Jahren 2010 bis 2014 erzielten Löhne ermittelte Valideneinkommen von Fr. 36'167.- müsse, dem Invalideneinkommen entsprechend, auf das massgebliche Jahr 2019 indexiert werden (zum Erfordernis der zeitidentischen Grundlage: BGE 129 V 222 E. 4.3.1; 128 V 174 E. 4a in fine). Die Beschwerde ist begründet.
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6.
20
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung) kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. Die Sache ist zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 68 Abs. 5 BGG).
21
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 3. März 2021 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) vom 28. April 2020 bestätigt.
 
2.
 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Bernhard Zollinger wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4.
 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Entschädigungsfolgen des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
6.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 5. November 2021
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
 
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