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Informationen zum Dokument  BGer 9C_272/2021  Materielle Begründung
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BGer 9C_272/2021 vom 14.10.2021
 
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9C_272/2021
 
 
Urteil vom 14. Oktober 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
nebenamtliche Bundesrichterin Truttmann,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Ausgleichskasse Schwyz,
 
Rubiswilstrasse 8, 6438 Ibach,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Stéphanie Baur,
 
Beschwerdegegner,
 
B.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Stéphanie Baur.
 
Gegenstand
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 18. März 2021 (II 2020 115).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Am 18. Dezember 2019 erliess die Ausgleichskasse Schwyz "ausschliesslich zur Wahrung der Verjährungfrist" zwei Verfügungen, in denen sie A.________ und seine Ehefrau B.________ aufgrund provisorischer Zahlen verpflichtete, für das Jahr 2014 Nichterwerbstätigenbeiträge in der Höhe von je Fr. 25'200.- (einschliesslich Verwaltungskosten) zu entrichten, zuzüglich Verzugszinsen in der Höhe von je Fr. 6258.- für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 18. Dezember 2019.
1
A.b. Die von A.________ und B.________ erhobene Einsprache hiess die Ausgleichskasse teilweise gut. Sie setzte die Beiträge auf je Fr. 2524.20 und die Zinsen auf je Fr. 626.85 fest (Entscheid vom 13. November 2020).
2
B.
3
Beschwerdeweise liessen A.________ und B.________ das Rechtsbegehren stellen, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass weder Nichterwerbstätigenbeiträge noch Verzugszinsen zu bezahlen seien. Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz hiess die Beschwerde des A.________ teilweise gut, hob den Einspracheentscheid auf, soweit er ihn betraf, und verpflichtete die Ausgleichskasse, über die von ihm für das Jahr 2014 als Selbständigerwerbender geschuldeten Beiträge neu zu verfügen. Die Beschwerde der B.________ wies es ab (Entscheid vom 18. März 2021).
4
C.
5
Die Ausgleichskasse erhebt betreffend A.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 18. März 2021 sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 13. November 2020 zu bestätigen. Eventualiter sei die Sache zur Durchführung bzw. Ergänzung des Beweisverfahrens und Fällung eines neuen Entscheids an das kantonale Gericht oder an die Verwaltung zurückzuweisen.
6
A.________ und B.________ lassen in einer gemeinsamen Eingabe die Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
7
 
Erwägungen:
 
1.
8
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
9
2.
10
Der kantonale Entscheid wird von der Ausgleichskasse lediglich betreffend die Beitragspflicht des A.________ angefochten. Da er somit hinsichtlich B.________, welche sich gemeinsam mit ihrem Ehemann vernehmen liess, in Teilrechtskraft erwuchs, fällt die Ehefrau als Beschwerdegegnerin ausser Betracht. In ihrer Eigenschaft als Mitinteressierte ist sie indessen als zum Verfahren Beigeladene zu betrachten, dies aufgrund der in den vorinstanzlichen Erwägungen in Aussicht gestellten, vorliegend nicht weiter zu prüfenden Rückwirkung, welche die gemäss dem angefochtenen Entscheid von der Ausgleichskasse zu erlassende, den Beschwerdegegner betreffende Verfügung auf ihre Rechtsstellung haben könnte.
11
 
3.
 
3.1. Die Vorinstanz legte die gesetzlichen Grundlagen zur Beitragspflicht der Erwerbstätigen (Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 AHVG) und der Nichterwerbstätigen (Art. 10 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 28 AHVV) zutreffend dar. Richtig wiedergegeben wurde im angefochtenen Entscheid auch, dass nach Art. 10 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 28bis Abs. 1 AHVV Personen, die nicht dauernd voll erwerbstätig sind (d.h. entweder nicht während mindestens neun Monaten pro Kalenderjahr [nicht dauernd] oder nicht während mindestens der halben üblichen Arbeitszeit [nicht voll]; BGE 140 V 338 E. 1.2 mit Hinweisen; vgl. dazu auch Rz. 2035 und 2039 der Wegleitung des BSV über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen in der AHV, IV und EO [WSN]), Beiträge wie Nichterwerbstätige leisten, wenn ihre Beiträge vom Erwerbseinkommen, gegebenenfalls zusammen mit denen ihres Arbeitgebers, in einem Kalenderjahr nicht mindestens der Hälfte des Beitrages nach Art. 28 AHVV entsprechen (wobei ihre Beiträge vom Erwerbseinkommen auf jeden Fall den Mindestbeitrag nach Art. 28 AHVV erreichen müssen). Darauf wird verwiesen.
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Zu ergänzen ist, dass für das betreffende Jahr bezahlte Beiträge vom Erwerbseinkommen auf Verlangen angerechnet werden (Art. 28bis Abs. 2 AHVV in Verbindung mit Art. 30 AHVV und Art. 10 Abs. 3 Satz 2 AHVG).
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3.2. Die Frage, welche Anforderungen eine dauernd volle Erwerbstätigkeit zu erfüllen hat, ist rechtlicher Natur und damit letztinstanzlich frei überprüfbar. Feststellungen der Vorinstanz zu den konkreten Umständen der Beschäftigung sind dagegen Tatfragen und für das Bundesgericht deshalb grundsätzlich verbindlich (BGE 140 V 338 E. 2.1; Urteil 9C_454/2018 vom 13. November 2018 E. 3, in: SVR 2019 AHV Nr. 6 S. 17).
14
4.
15
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Ausgleichskasse verpflichtete, die vom Beschwerdegegner für das Jahr 2014 als Selbständigerwerbender geschuldeten Beiträge (zuzüglich Verzugszinsen) neu zu verfügen.
16
 
5.
 
5.1. Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner, welcher der Ausgleichskasse mit Wirkung auf 1. September 2008 als Selbständigerwerbender angeschlossen worden war, aus seiner Tätigkeit in den ersten Jahren, d.h. 2008 bis 2013, Verluste erwirtschaftete, bevor er 2014 erstmals einen Gewinn von Fr. 4517.- erzielte. Aufgrund dieser Verhältnisse entrichtete er in den Jahren 2008 bis 2014 jeweils den Mindestbeitrag. Nachdem die Ausgleichskasse gestützt auf zusätzliche Abklärungen festgestellt hatte, dass der Beschwerdegegner im Jahr 2014 nicht dauernd voll erwerbstätig gewesen war, nahm sie eine Vergleichsrechnung nach Art. 28bis Abs. 1 AHVV vor, welche ergab, dass der Beschwerdegegner Beiträge wie ein Nichterwerbstätiger zu leisten hatte (Verfügung vom 18. Dezember 2019, betraglich korrigiert mit Einspracheentscheid vom 13. November 2020).
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5.2. Die Vorinstanz erwog, der Beschwerdegegner sei im streitigen Jahr 2014 zwar dauernd, aber überwiegend wahrscheinlich nicht voll, d.h. nicht während mindestens der halben üblichen Arbeitszeit, erwerbstätig gewesen. Es sei allerdings wenig stringent, dass die Beschwerdeführerin ihm allein deshalb bei unveränderter Tätigkeit für ein einzelnes Jahr den Status eines Nichterwerbstätigen statt eines Selbständigerwerbenden zuerkenne. Diese Beurteilung sei zwar einzeljahrbezogen formell nicht falsch, aber das Ergebnis stossend und in sich widersprüchlich. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung sei wenig wahrscheinlich, dass sich ein Beitragsstatus innert drei Jahren (2013 bis 2015) bei an und für sich unveränderten Verhältnissen zweimal ändere. Hinzu komme, dass die Kasse in den vorangehenden Geschäftsjahren (2008 bis 2013), in welchen ebenfalls Verluste resultiert hätten, die Frage der vollen Erwerbstätigkeit nicht geprüft und eine solche mithin stets als gegeben betrachtet habe. Umso stossender scheine es, diese Ermittlung gerade im ersten Jahr mit einem positiven Geschäftsergebnis (2014) vorzunehmen und überdies keinen Vergleich mit den Vorjahren anzustellen. Aus diesen Gründen sei der Einspracheentscheid betreffend den Beschwerdegegner aufzuheben. Die Ausgleichskasse habe die geschuldeten Beiträge gestützt auf den Status als Selbständigerwerbender (zuzüglich Zinsen) neu zu verfügen. Weiter habe sie die Auswirkungen der zu erlassenden Beitragsverfügung auf die Rechtsstellung der Ehefrau zu prüfen.
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6.
 
6.1. Im angefochtenen Entscheid wurde nicht offensichtlich unrichtig und damit für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (auch wenn die Vorinstanz ihr in E. 4.3.4 getroffenes Beweisergebnis in E. 4.4.2 aufgrund einer Gesamtbetrachtung des Zeitraumes 2008 bis 2015 wieder relativierte), dass der Beschwerdegegner im Jahr 2014 mit knapp 400 fakturierbaren Stunden, auch unter Berücksichtigung nicht verrechenbarer Aufwendungen, das für eine volle Erwerbstätigkeit erforderliche Jahressoll von über 900 Arbeitsstunden nicht erreichte und damit überwiegend wahrscheinlich nicht voll erwerbstätig war. Daran vermögen die beschwerdegegnerischen Vorbringen - soweit es sich nicht um von vornherein unzulässige appellatorische Kritik handelt - nichts zu ändern. Nicht stichhaltig ist insbesondere das Argument, seine Gewinnabsicht ergebe sich bereits aus dem Abschluss des Franchisevertrags, denn die Qualifikation als nicht dauernd voll Erwerbstätiger stellt seine Erwerbsabsicht nicht in Frage, beruht sie doch allein darauf, dass er im Jahr 2014 nicht überwiegend wahrscheinlich während mindestens der halben üblichen Arbeitszeit tätig war. Ebenso wenig dringt der Beschwerdegegner mit seinem Einwand durch, dass sich die Beurteilung der wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht auf ein einzelnes Jahr stützen könne, sondern einen Einbezug mehrerer Jahre erfordere, worauf im Rahmen der nachfolgenden E. 6.2 näher einzugehen ist.
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6.2. Gilt der Beschwerdegegner als nicht dauernd voll erwerbstätig, ist aufgrund der in Art. 28bis Abs. 1 AHVV vorgesehenen Vergleichsrechnung zu prüfen, ob er allenfalls Beiträge wie ein Nichterwerbstätiger zu leisten hat (unter Anrechnung der Beiträge vom Erwerbseinkommen, Art. 28bis Abs. 2 AHVV in Verbindung mit Art. 30 AHVV und Art. 10 Abs. 3 Satz 2 AHVG). Wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt, geht es - entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung - nicht an, von dieser gesetzlich vorgesehenen Vergleichsrechnung abzusehen und stattdessen (ohne entsprechende normative Grundlage) eine sich über mehrere Jahre erstreckende "Gesamtbetrachtung" vorzunehmen. Ohnehin warf die Vorinstanz der Beschwerdeführerin zu Unrecht vor, sie habe den Beschwerdegegner innert drei Jahren (d.h. 2013 bis 2015) zweimal "umqualifiziert", nämlich 2014 von einem Selbständigerwerbenden zu einem Nichterwerbstätigen und 2015 wieder zu einem Selbständigerwerbenden: Nicht dauernd voll Erwerbstätige werden nach Art. 28bis Abs. 1 AHVV nicht etwa als Nichterwerbstätige qualifiziert, sondern diesen lediglich gleichgestellt, indem sie Beiträge
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6.3. Bei dieser Sachlage erübrigt sich ein Beizug der Buchhaltungsunterlagen von 2008 bis 2014 sowie 2016/2017 sowie der Steuermeldungen Selbständigerwerbende von 2008 bis 2017, zu deren Einreichung sich die Beschwerdeführerin aufgrund der im angefochtenen Entscheid vorgenommenen Gesamtbetrachtung im letztinstanzlichen Verfahren veranlasst sah. Ob diese Akten novenrechtlich zulässig gewesen wären (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG), kann mithin offen gelassen werden.
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6.4. Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdegegner für das Jahr 2014 als nicht dauernd voll Erwerbstätiger Beiträge wie ein Nichterwerbstätiger zu bezahlen hat (unter Anrechnung der von ihm als Selbständigerwerbender entrichteten Beiträge), dies entsprechend dem Einspracheentscheid. Soweit die Vorinstanz ihn aufgrund einer Gesamtbetrachtung lediglich zur Entrichtung von Beiträgen als Selbständigerwerbender verpflichtete, ist ihr Entscheid bundesrechtswidrig und aufzuheben.
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7.
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Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 18. März 2021 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse Schwyz vom 13. November 2020 bestätigt, soweit sie den Beschwerdegegner betreffen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 900.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, B.________, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 14. Oktober 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann
 
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