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Informationen zum Dokument  BGer 9C_6/2021  Materielle Begründung
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BGer 9C_6/2021 vom 02.06.2021
 
 
9C_6/2021
 
 
Urteil vom 2. Juni 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer,
 
Gerichtsschreiberin Huber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 29. Oktober 2020 (IV.2020.00176).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Zürich einen Rentenanspruch von A.________ mit Verfügungen vom 23. April 2010 und 19. Juli 2013 (diese wurde vom Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 28. Januar 2015 bestätigt) abgewiesen hatte, meldete er sich am 27. März 2015 ein weiteres Mal bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die Verwaltung veranlasste eine polydisziplinäre Begutachtung bei der MEDAS Interlaken Unterseen GmbH (Expertise vom 10. Juni 2016) und wies das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 14. März 2017 wiederum ab. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 28. Dezember 2018 in dem Sinne gut, dass es die Verfügung vom 14. März 2017 aufhob und die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückwies.
1
In der Folge holte diese ein orthopädisches Gutachten bei Dr. med. B.________, Fachärztin für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates, vom 25. September 2019 sowie eine Expertise bei der psychiatrischen Klinik C.________ vom 2. Oktober 2019 ein. Zuvor hatte zwischen Dr. med. B.________ und den Gutachtern der psychiatrischen Klinik C.________ am 23. September 2019 eine Konsensbesprechung stattgefunden. Mit Verfügung vom 7. Februar 2020 verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf eine Invalidenrente. Zudem wies sie mit Verfügung vom 26. März 2020 das Gesuch um unentgeltlichen Rechtsbeistand im Verwaltungsverfahren ab.
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B. Die von A.________ gegen die Verfügungen vom 7. Februar 2020 und 26. März 2020 erhobenen Beschwerden vereinigte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Verfügung vom 30. Juni 2020. Mit Urteil vom 29. Oktober 2020 wies es die Beschwerde gegen die Verfügung vom 7. Februar 2020 betreffend Rente ab (Dispositiv-Ziffer 1). Die Beschwerde gegen die Verfügung vom 26. März 2020 hiess das Sozialversicherungsgericht gut, hob die angefochtene Verfügung auf und stellte fest, dass A.________ ab 21. Januar 2020 Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren habe (Dispositiv-Ziffer 2).
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Zusprache einer ganzen Invalidenrente. Eventualiter verlangt er die Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zu weiteren Abklärungen.
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Erwägungen:
 
 
1.
 
1.1. Der vom Beschwerdeführer neu eingereichte Bericht des Dr. med. D.________, Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie, vom 8. Dezember 2020 ist als echtes Novum von vornherein unzulässig (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen).
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1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Das kantonale Gericht mass dem Gutachten von Dr. med. B.________ vom 25. September 2019 Beweiswert zu und stellte gestützt darauf sowie auf den internistischen und rheumatologischen Teil der MEDAS-Expertise vom 10. Juni 2016 fest, dass dem Beschwerdeführer die angestammte Tätigkeit als Gipser nicht mehr zumutbar sei. Eine angepasste Arbeit könne er jedoch im Umfang von 100 % ausüben. In psychiatrischer Hinsicht kam die Vorinstanz zum Schluss, dass die Expertise der psychiatrischen Klinik C.________ vom 2. Oktober 2019 den allgemeinen bundesgerichtlichen Vorgaben an ein beweiskräftiges Gutachten entspreche. Die Experten hätten substanziiert dargelegt, aus welchen Gründen die erhobenen Befunde das funktionelle Leistungsvermögen und die psychischen Ressourcen in qualitativer, quantitativer und in zeitlicher Hinsicht schmälern würden. Insbesondere hätten sie ausgeführt, inwiefern und inwieweit die von ihnen erhobenen Befunde die beruflich-erwerbliche Arbeitsfähigkeit einschränken würden, und zwar - zu Vergleichs-, Plausibilisierungs- und Kontrollzwecken - unter Miteinbezug der sonstigen persönlichen, familiären und sozialen Aktivitäten des Beschwerdeführers. Es sei mithin auf das Gutachten abzustellen und aufgrund der diagnostizierten chronischen Schmerzstörung von einer 85%igen Arbeitsfähigkeit auszugehen.
7
 
3.
 
3.1. Das kantonale Gericht stellte fest, Dr. med. B.________ habe nachvollziehbar dargelegt, dass die häufige Nutzung der Unterarmgehstützen bei fehlenden Schwielen an den Händen und eine körperliche Inaktivität nach Betrachten der Fusssohlen auszuschliessen seien. Inwiefern es sich dabei seitens der Vorinstanz um Mutmassungen handeln soll, vermag der Beschwerdeführer - insbesondere mit Blick darauf, dass es sich um fachärztliche Aussagen handelt, die das kantonale Gericht übernahm - nicht aufzuzeigen. Die Vorinstanz erkannte weiter, Dr. med. B.________ habe die radiologischen Befunde aus den Akten bestens gekannt und sei folglich mit der Bildgebung vertraut gewesen. Dies reiche aus, um über allfällige Schäden am Bewegungsapparat genau im Bilde zu sein und um eine exakte Einschätzung zu den Funktionseinschränkungen vornehmen zu können, zumal Dr. med. B.________ mit ihrer eigenen Diagnose die in der Bildgebung vorhandenen Befunde habe überprüfen können. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, das kantonale Gericht sei dabei in Willkür verfallen, da ein reines Aktenstudium nicht ausreiche, kann ihm nicht gefolgt werden. Einerseits untersuchte Dr. med. B.________ den Beschwerdeführer persönlich. Anderseits waren der Ärztin die radiologischen Befunde aus den Vorakten bekannt und sie erachtete es offenbar nicht als notwendig, weitere bildgebende Untersuchungsverfahren anzuwenden, was denn auch in ihrem Ermessen lag (vgl. Urteile 9C_148/2020 vom 2. Juli 2020 E. 4.2.2; 9C_514/2016 vom 18. Januar 2017 E. 4.2).
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Nach dem Gesagten sind die Tatsachenfeststellungen des kantonalen Gerichts in Bezug auf den somatischen Gesundheitszustand weder offensichtlich unrichtig noch sonstwie bundesrechtswidrig und somit für das Bundesgericht verbindlich (E. 1.2). Daran vermag auch der Hinweis des Beschwerdeführers auf den Bericht seines behandelnden Arztes Dr. med. D.________ vom 14. Mai 2019 nichts zu ändern, hat sich doch die Vorinstanz ausführlich damit auseinandergesetzt und nachvollziehbar aufgezeigt, weshalb der Bericht das Gutachten von Dr. med. B.________ nicht in Frage zu stellen vermag.
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3.2.
 
3.2.1. Das kantonale Gericht führte in Bezug auf die Expertise der psychiatrischen Klinik C.________ vom 2. Oktober 2019 aus, es komme nicht auf die Dauer der Untersuchung an; massgebend sei in erster Linie, ob die Expertise inhaltlich vollständig und im Ergebnis schlüssig sei, was auf das Gutachten vom 2. Oktober 2019 zutreffe. Ausserdem erkannte die Vorinstanz, dass sich die Gutachter der psychiatrischen Klinik C.________ eingehend mit dem psychiatrischen Teilgutachten der MEDAS vom 18. April 2016 auseinandergesetzt hätten und legte ausführlich dar, dass die Expertise der psychiatrischen Klinik C.________ keine unerkannte oder ungewürdigt gebliebenen Aspekte aufweise. Indem der Beschwerdeführer lediglich die Aussagen aus dem psychiatrischen Teilgutachten der MEDAS wiedergibt, vermag er nicht (substanziiert) aufzuzeigen, inwiefern die Feststellungen im angefochtenen Urteil offensichtlich unrichtig sein sollen.
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Die Vorinstanz mass dem Gutachten der psychiatrischen Klinik C.________ vom 2. Oktober 2019 Beweiswert (vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a) zu, ohne Bundesrecht zu verletzen. Sie kam zum Schluss, dass anhand des psychiatrischen Gutachtens das für die Annahme einer rechtlich relevanten psychischen Funktionseinbusse erforderliche stimmige Gesamtbild (vgl. BGE 143 V 418 E. 6; Urteil 9C_765/2019 vom 11. Mai 2020 E. 4.4.4) resultiert.
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3.2.2. Der Beschwerdeführer stellt dem eine eigene Indikatorenprüfung gegenüber. Entgegen seiner Auffassung gingen weder die Gutachter der psychiatrischen Klinik C.________ noch das kantonale Gericht von einer Aggravation oder einem definitiven Scheitern einer Therapie aus. Die Vorinstanz stellte fest, die Experten der psychiatrischen Klinik C.________ hätten beim Beschwerdeführer zwar narzisstische Persönlichkeitszüge eruiert, die wohl die Beziehung zu Drittpersonen beeinflussen würden, jedoch seien die diagnostischen Kriterien einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gemäss den Gutachtern nicht erfüllt, womit allfällige diesbezügliche Beeinträchtigungen nicht auf krankheitswerte psychische Leiden zurückzuführen seien. Inwiefern das kantonale Gericht dabei in Willkür verfallen sein soll, vermag der Versicherte nicht (substanziiert) darzutun. Auch die weiteren Rügen des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit den von der Vorinstanz vom Gutachten der psychiatrischen Klinik C.________ übernommenen Aussagen in Bezug auf die Ressourcen und die von den Experten abgegebene Einschätzung zur Konsistenz zielen ins Leere. Die Gutachter konnten diverse Fähigkeiten und Ressourcen feststellen. Sie berichteten, der Beschwerdeführer sei gut in die Familie eingebettet, habe ein selbstsicheres und gepflegtes Auftreten, eine gewählte Sprache, eine sehr gute Konzentrations- und Gedächtnisleistung sowie eine biografisch nachgewiesene Anpassungs- und Lernfähigkeit. Bei den bestehenden Ressourcen offenbare sich jedoch eine Diskrepanz zwischen dem, was dem Beschwerdeführer an Arbeit möglich wäre und der Tatsache, dass er seit dem Unfall vom Oktober 2007 keine ernsthaften Versuche gezeigt habe, sich beruflich umzuorientieren, weiterzubilden oder einzugliedern. Der Beschwerdeführer vermag nicht aufzuzeigen, weshalb die Vorinstanz diesen begründeten Ausführungen nicht hätte folgen dürfen.
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3.2.3. Nach dem Gesagten kam das kantonale Gericht zu Recht zum Schluss, dass die von den Gutachtern der psychiatrischen Klinik C.________ in der Expertise vom 2. Oktober 2019 attestierte Arbeitsfähigkeit von 85 % mit Blick auf die Standardindikatoren aus rechtlicher Sicht überzeugt. Es besteht kein zusätzlicher Abklärungsbedarf im Sinne des Eventualbegehrens des Beschwerdeführers.
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3.3. Der vom kantonalen Gericht ermittelte rentenausschliessende Invaliditätsgrad von 26 % wird nicht gerügt. Weiterungen erübrigen sich. Die Beschwerde ist unbegründet. Damit hat es beim vorinstanzlichen Urteil sein Bewenden.
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4. Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer im Sinne der unentgeltlichen Prozessführung gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 BGG). Es wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn er später dazu in der Lage ist.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 2. Juni 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber
 
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