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Informationen zum Dokument  BGer 9C_748/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_748/2020 vom 22.03.2021
 
 
9C_748/2020
 
 
Urteil vom 22. März 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin N. Möckli.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Maron,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 25. September 2020 (IV.2020.00074).
 
 
Sachverhalt:
 
A. 
1
A.a. Die 1959 geborene, über eine Ausbildung als Krankenschwester und Journalistin verfügende A.________ war zuletzt als freiberufliche Schriftstellerin tätig und trug im Nebenerwerb noch Zeitungen aus. Im März 2005 meldete sie sich nach einer Brustkrebserkrankung bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich nahm daraufhin verschiedene Abklärungen vor, insbesondere veranlasste sie eine psychiatrische Begutachtung. Nach Eingang des Gutachtens der Dr. med. B.________ vom 3. März 2006 und nach Rücksprache mit dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) sprach die Verwaltung der Versicherten mit Verfügung vom 11. Mai 2006 rückwirkend ab 1. April 2005 eine ganze Rente zu. Diesen Rentenanspruch bestätigte die IV-Stelle anlässlich eines ersten Revisionsverfahrens (Mitteilung vom 3. August 2009).
2
A.b. Im April 2013 informierte das Amt für Zusatzleistungen der Stadt Zürich die IV-Stelle, dass die Deutsche Rentenversicherung die Leistungen im Jahr 2011 eingestellt habe. Die IV-Stelle leitete eine weitere Revision ein, wobei sie die Versicherte insbesondere durch das Ärztliches Begutachtungsinstitut (ABI) GmbH, Basel, begutachten liess (Gutachten vom 16. Juni 2014). Gestützt darauf verfügte die Verwaltung die Rentenaufhebung per 1. April 2011 (Verfügung vom 22. Juli 2015) und forderte eine Rückerstattung von Fr. 63'357.- (Verfügung vom 29. Juli 2015). Die dagegen eingereichte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. März 2017 in dem Sinne gut, als es die angefochtenen Verfügungen aufhob und die Sache an die IV-Stelle zur stationären diagnostisch-therapeutischen Abklärung und anschliessend neuem Entscheid zurückwies. In der Folge wurde die Versicherte in der Klinik C.________ begutachtet (polydisziplinäre Expertise vom 3. April 2019 mit verschiedenen Teilgutachten). Gestützt darauf hob die IV-Stelle nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 18. Dezember 2019 den Rentenanspruch per 31. März 2011 auf.
3
B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 25. September 2020 teilweise gut, indem es in Aufhebung der angefochtenen Verfügung feststellte, die bisherige ganze Rente werde auf den ersten Tag des zweiten der Zustellung der Revisionsverfügung vom 22. Juli 2015 folgenden Monats aufgehoben.
4
C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die bisherige Invalidenrente sei unverändert weiter zuzusprechen, zumindest solange, als Eingliederungsmassnahmen zu prüfen und durchzuführen seien. Ferner ersuchte sie um unentgeltliche Rechtspflege.
5
 
Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen BGE 145 V 57 E. 4 S. 61 f.).
6
 
2.
 
2.1. Streitig ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Aufhebung des Rentenanspruchs auf Ende des der Zustellung der Verfügung vom 22. Juli 2015 folgenden Monats vor Bundesrecht standhält. Zum Streitgegenstand gehört bei der Rentenaufhebung auch die Frage der Zumutbarkeit der Selbsteingliederung (Urteile 8C_494/2018 vom 6. Juni 2019 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 145 V 209, und 8C_597/2019 vom 12. Dezember 2019 E. 2).
7
2.2. Eine verbesserte oder neu festgestellte Arbeitsfähigkeit ist grundsätzlich auf dem Weg der Selbsteingliederung zu verwerten (Urteil 8C_84/2019 vom 29. August 2019 E. 7.2.1). Bei Personen, deren Rente revisionsweise herabgesetzt oder aufgehoben werden soll, sind nach mindestens 15 Jahren Bezugsdauer oder wenn sie das 55. Altersjahr zurückgelegt haben, praxisgemäss in der Regel vorgängig Massnahmen zur Eingliederung durchzuführen, bis sie in der Lage sind, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial mittels Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu verwerten (BGE 145 V 209 E. 5.1 S. 211 mit Hinweisen). Massgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung dieser Kriterien ist der Erlass der rentenaufhebenden Verfügung (BGE 141 V 5 E. 4.2.1 S. 7 f.).
8
Ausnahmen von der grundsätzlichen ("vermutungsweisen") Unzumutbarkeit einer Selbsteingliederung liegen namentlich vor, wenn die langjährige Abstinenz vom Arbeitsmarkt auf invaliditätsfremde Gründe zurückzuführen ist, die versicherte Person besonders agil, gewandt und im gesellschaftlichen Leben integriert ist oder über besonders breite Ausbildungen und Berufserfahrungen verfügt. Verlangt sind immer konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss zulassen, die versicherte Person könne sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters und/oder der langen Rentenbezugsdauer mit entsprechender Absenz vom Arbeitsmarkt ohne Hilfestellungen wieder in das Erwerbsleben integrieren. Die IV-Stelle trägt die Beweislast dafür, dass entgegen der Regel die versicherte Person in der Lage ist, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial auf dem Weg der Selbsteingliederung erwerblich zu verwerten (BGE 145 V 209 E. 5.1 S. 11 mit Hinweisen).
9
 
3.
 
3.1. Die Vorinstanz stellte gestützt auf das Gutachten der Klinik C.________ fest, dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten seit der Rentenzusprechung verbessert habe und inzwischen von einem aggravatorischen Verhalten im Sinne einer Übertreibung von Restbeschwerden auszugehen sei. Ein psychischer Gesundheitsschaden könne nicht mit der notwendigen Zuverlässigkeit festgestellt werden, weshalb der Versicherten zu Recht eine volle Arbeitsfähigkeit in jeglicher Tätigkeit attestiert worden sei. Auf die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit respektive neu im Vordergrund stehende Aggravation sei nach der Publikation des Romans der Beschwerdeführerin im März 2014 in Verbindung mit der kurz darauf im April/Mai 2014 stattgehabten Begutachtung im ABI zu schliessen. Vorgängige (vor der Renteneinstellung) Eingliederungsmassnahmen seien nicht beantragt worden und solche seien mit Blick auf die Rechtsprechung auch nicht angezeigt, zumal die Versicherte erst nach Erstattung des ABI-Gutachtens das 55. Altersjahr vollendet habe und nicht nur gut sozial integriert sei, sondern bereits jetzt die gleiche Tätigkeit wie vor der Krebserkrankung ausübe.
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3.2. Die Beschwerdeführerin rügt einzig, dass die Vorinstanz von einer zumutbaren Selbsteingliederung ausging. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb das kantonale Gericht als Stichtag für die Frage der Alterslimite (Erreichen des 55. Altersjahres) auf das ABI-Gutachten vom 16. Juni 2014 abgestellt habe. Zudem sei die vorinstanzliche Erwägung offensichtlich unrichtig, wonach sie (die Versicherte) nicht nur gut sozial integriert, sondern bereits jetzt die gleiche Tätigkeiten wie vor der Krebserkrankung ausübe. Die letzte schriftstellerische Tätigkeit habe mit der Veröffentlichung des Buches im März 2014 stattgefunden und letztmals öffentlich wahrnehmbar sei sie Ende Juni 2014 auf YouTube in einer Radiosendung gewesen. Danach könne von spürbarer schriftstellerischer Tätigkeit nicht mehr die Rede sein.
11
 
4.
 
4.1. Für die Ermittlung, ob der Eckwert des 55. Altersjahres vorliegt, ist der Zeitpunkt der rentenaufhebenden Verfügung massgebend (E. 2.2 hiervor). Alsdann war die 1959 geborene Beschwerdeführerin bereits 55 Jahre alt. Eine Selbsteingliederung ist ihr daher entgegen dem vorinstanzlichen Entscheid grundsätzlich ("vermutungsweise") nicht zumutbar.
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4.2. Die Vorinstanz berücksichtigte aber nicht nur das Alter, sondern machte auch andere Umstände aus, die auf eine objektiv zumutbare Selbsteingliederung schliessen liessen. Zum einen verwies das kantonale Gericht auf eine gute soziale Integration der Beschwerdeführerin und zum anderen auf die Ausübung einer gleichen Tätigkeit wie vor der Krebserkrankung. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass sie über ein intaktes Beziehungsnetz verfügt und es ist mit Blick auf die gutachterlichen Ausführungen auch nicht ersichtlich, inwiefern dies unrichtig sein soll. Ergänzend kann festgestellt werden (Art. 105 Abs. 2 BGG), dass im Gutachten der Klinik C.________ auf eine ganze Reihe weiterer Ressourcen hingewiesen wird - gutes Intelligenzniveau, gutes Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Selbstakzeptanz, Neugier, Offenheit, Durchhaltevermögen, positive Gestimmtheit, Humor, Kreativität, aktives Bewältigungsverhalten, Fähigkeit soziale Unterstützung zu mobilisieren, Fähigkeit sich in soziale Gruppen zu integrieren, gute Kommunikationsfähigkeiten und hohe Motivation mit Schwierigkeiten fertig zu werden -, dem lediglich leichte Beeinträchtigungen einer möglichen dissoziativen Störung gegenüberstehen. Die Beschwerdeführerin berichtete im Rahmen der Begutachtung in der Klinik C.________ zudem über einen strukturierten Tages-/Wochenablauf bestehend aus Erwerbstätigkeit (Zeitungen verteilen), weitgehend selbständiger Erledigung des Haushalts und regelmässigen Freizeitaktivitäten (Vitaparcours, Sauna, Reisen, Musik und Vorlesungen hören, Zeitung lesen, Teilnahme an Führungen im Museum und an Sprachkursen). Vergleichbares wurde auch im ABI-Gutachten vom 16. Juni 2014 oder dem Bericht des Spitals D.________ vom 12. Januar 2015 festgehalten. Verändert hat sich aber seit der Begutachtung im ABI, dass die Beschwerdeführerin ihre schriftstellerische Tätigkeit nun weitgehend eingestellt hat. Sie gab in der Klinik C.________ an, die letzte Lesung sei vor drei bis vier Jahren gewesen und aktuell schreibe sie nur noch in kurzform Tagebuch. Es trifft somit nicht zu, dass die Beschwerdeführerin "jetzt" wie vor der Krebserkrankung die gleichen Tätigkeiten ausübt. Gleichwohl zeigt die (sicher) bis Anfang des Jahres 2015 verrichtete Tätigkeit als Autorin und die zeitlich darüber hinaus ausgeübte Arbeit als Zeitungsverträgerin sowie das übrige Aktivitätsniveau der Beschwerdeführerin, dass nach objektiven Gesichtspunkten von einer zumutbaren rentenausschliessenden Selbsteingliederung ausgegangen werden kann. Dies insbesondere auch, weil die Beschwerdeführerin hierfür kein sehr hohes Einkommen erzielen muss, denn gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen hat sich die Versicherte bereits vor Eintritt des Gesundheitsschadens mit einem bescheidenen Einkommen von rund Fr. 35'000.- begnügt.
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4.3. Die Vorinstanz verletzte somit im Ergebnis kein Bundesrecht, indem sie auf eine zumutbare Selbsteingliederung schloss. Die Beschwerde ist unbegründet.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung, Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG) kann gewährt werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
15
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Jürg Maron wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. März 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli
 
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