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Informationen zum Dokument  BGer 9C_686/2020  Materielle Begründung
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BGer 9C_686/2020 vom 11.01.2021
 
 
9C_686/2020
 
 
Urteil vom 11. Januar 2021
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Antonia Ulrich,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz, Kollegiumstrasse 28, 6430 Schwyz,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (vorinstanzliches Verfahren; unentgeltlicher Rechtsbeistand),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 16. September 2020 (II 2020 50).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ meldete sich im September 2019 zum Bezug von Ergänzungsleistungen zur Altersrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung an. Die Ausgleichskasse Schwyz anerkannte einen Anspruch auf monatlich Fr. 1136.- (inklusive Prämienpauschale für Krankenversicherungen) ab 1. September 2019 und monatlich Fr. 1140.- (inklusive Prämienpauschale für Krankenversicherungen) ab 1. Januar 2020. Bei der Ergänzungsleistungsberechnung berücksichtigte sie insbesondere ein hypothetisches Einkommen der Ehefrau (jährlich Fr. 36'783.-) als anrechenbare Einnahme des Versicherten (Verfügungen vom 31. Oktober und 20. Dezember 2019). Daran hielt die Ausgleichskasse mit Einspracheentscheid vom 10. März 2020 fest.
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B. Dagegen liess A.________ Beschwerde führen; gleichzeitig liess er für das kantonale Beschwerdeverfahren ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellen. Mit Entscheid vom 16. September 2020 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz sowohl die Beschwerde (Dispositiv Ziff. 1) als auch den Antrag betreffend den unentgeltlichen Rechtsbeistand (Dispositiv Ziff. 3) ab.
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C. A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, in Aufhebung von Dispositiv Ziff. 3 des Entscheids vom 16. September 2020 sei ihm die unentgeltliche Rechtsverbeiständung unter Einsetzung von Rechtsanwältin Antonia Ulrich zu gewähren, und diese sei für das vorinstanzliche Verfahren mit Fr. 3337.30 (inklusive Auslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung des Anspruchs auf unentgeltlichen Rechtsbeistand an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Ferner lässt er auch für das bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.
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Erwägungen:
 
1. Streitig und zu prüfen ist einzig der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand im (grundsätzlich kostenlosen; vgl. Art. 61 lit. a ATSG) kantonalen Beschwerdeverfahren. Nach dem auf diese Frage anwendbaren Art. 61 lit. f Satz 2 ATSG wird der Beschwerde führenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt, wo die Verhältnisse es rechtfertigen. Praxisgemäss setzt die unentgeltliche Verbeiständung voraus, dass der Prozess nicht aussichtslos erscheint, die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch geboten ist (Urteile 9C_196/2012 vom 20. April 2012 E. 4.1; 8C_679/2009 vom 22. Februar 2010 E. 2; vgl. auch BGE 125 V 201 E. 4a S. 202).
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2. 
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2.1. Die Vorinstanz hat die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers und die Nichtaussichtslosigkeit seines Rechtsmittels bejaht. Indessen hat sie die Notwendigkeit der Verbeiständung verneint mit folgender Begründung: Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau hätten aus früheren sozialversicherungsgerichtlichen Verfahren (vgl. insbesondere die entsprechenden Urteile 9C_359/2010 vom 9. Juli 2010; 9C_343/2012 vom 11. Oktober 2012) bereits eine gewisse prozessuale Erfahrung, auch wenn sie schon damals "beanwaltet" gewesen seien. Der Versicherte wäre in der Lage gewesen, die im Kern einzig massgebenden ärztlichen Unterlagen betreffend seine Ehefrau zusammenzustellen und dem Gericht mit einer kurz begründeten Beschwerde samt einfachem Antrag auf Nichtanrechnung eines hypothetischen Einkommens zuzustellen. Im Verfahren gelte der Untersuchungsgrundsatz und der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen. Dass im Einspracheverfahren trotz "Beanwaltung" kein Antrag auf unentgeltlichen Rechtsbeistand gestellt worden sei, spreche ebenfalls gegen die geltend gemachte Notwendigkeit.
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2.2. Ob die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder geboten ist, beurteilt sich nach den konkreten objektiven und subjektiven Umständen, Es ist im Einzelfall zu fragen, ob eine nicht bedürftige Partei unter sonst gleichen Umständen vernünftigerweise eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt beiziehen würde, weil sie selber zu wenig rechtskundig ist und das Interesse am Prozessausgang den Aufwand rechtfertigt (Urteile 9C_196/2012 vom 20. April 2012 E. 4.2.2; I 812/05 vom 24. Januar 2006 E. 4.1 mit Hinweisen).
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Die Frage nach der sachlichen Gebotenheit der anwaltlichen Verbeiständung ist eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (vgl. betreffend das Administrativverfahren Urteile 8C_353/2019 vom 2. September 2019 E. 3.2; 9C_29/2017 vom 6. April 2017 E. 1; 8C_246/2015 vom 6. Januar 2016 E. 2.2).
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2.3. Die vorinstanzliche Begründung (obenstehende E. 2.1) hält nicht stand. Aus dem blossen Umstand, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau vor Jahren durch ihre Rechtsvertreter gegen Verfügungen der Invalidenversicherung Beschwerden erheben liessen und damit über eine " gewisse" prozessuale Erfahrung verfügten, lässt sich nicht folgern, dass der Versicherte ohne professionelle Hilfe gegen die Ergänzungsleistungsberechnung eine Beschwerde mit Aussicht auf Erfolg hätte erheben können. Auch unter Geltung des Untersuchungsgrundsatzes und bei Rechtsanwendung von Amtes wegen trifft den Beschwerdeführer eine Mitwirkungs- und Begründungsobliegenheit, deren gewissenhafte und sorgfältige Erfüllung sich positiv auf die Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels auswirken kann. Schliesslich präjudiziert der Verzicht auf die Beanspruchung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes für das Verwaltungsverfahren (vgl. Art. 37 Abs. 4 ATSG) nicht die Notwendigkeit eines solchen für das gerichtliche Beschwerdeverfahren, zumal diesbezüglich ohnehin weniger strenge Anforderungen gelten (SVR 2017 IV Nr. 57 S. 177, 8C_669/2016 vom 7. April 2017 E. 2.1; Urteil 8C_178/2018 vom 6. August 2018 E. 5.3).
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2.4.
 
2.4.1. Nach Art. 9 Abs. 1 ELG entspricht die jährliche Ergänzungsleistung dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Gemäss Art. 9 Abs. 2 ELG werden die anerkannten Ausgaben sowie die anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten zusammengerechnet. Als Einnahmen angerechnet werden auch Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 11 Abs. 1 lit. g i.V.m. lit. a ELG). Unter dem Titel des Verzichtseinkommens ist auch ein hypothetisches Einkommen des Ehegatten eines EL-Ansprechers anzurechnen, sofern dieser auf eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder auf deren zumutbare Ausdehnung verzichtet. Bei der Ermittlung der zumutbaren Erwerbstätigkeit der Ehefrau oder des Ehemannes ist der konkrete Einzelfall unter Anwendung familienrechtlicher Grundsätze zu berücksichtigen. Dementsprechend ist auf das Alter, den Gesundheitszustand, die Sprachkenntnisse, die Ausbildung, die bisherige Tätigkeit, die konkrete Arbeitsmarktlage sowie gegebenenfalls auf die Dauer der Abwesenheit vom Berufsleben abzustellen. Bei der Festlegung eines hypothetischen Einkommens ist unter anderem, in Anlehnung an die Festsetzung von nachehelichen Unterhaltsansprüchen, eine realistische Übergangsfrist für die Aufnahme oder Erhöhung des Arbeitspensums einzuräumen, bevor ein hypothetisches Einkommen angerechnet wird (BGE 142 V 12 E 3.2 S. 14 f. mit Hinweisen).
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Von zentraler Bedeutung war in concreto, ob für die Ehefrau, die mehrmals erfolglos um Leistungen der Invalidenversicherung ersucht (vgl. insbesondere Urteil 9C_359/2010 vom 9. Juli 2010) und sich im Mai 2020 erneut zum Leistungsbezug angemeldet hatte, namentlich mit Blick auf deren Gesundheitszustand ein hypothetisches jährliches Einkommen von Fr. 36'783.- angerechnet werden durfte. Objektiv stellten sich damit Rechts- und Tatfragen von einer gewissen Komplexität, und deren Beantwortung wirkt sich in erheblichem Ausmass auf die Höhe der Ergänzungsleistung aus.
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2.4.2. Was die subjektiven Aspekte anbelangt, so ist Folgendes zu berücksichtigen: Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau stammen beide aus Serbien, zudem bezogen sie mindestens vom 1. Januar 2018 bis zum 31. August 2019 wirtschaftliche Sozialhilfe. Laut verbindlicher (vgl. Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) vorinstanzlicher Feststellung war die Ehefrau seit 2003 nicht mehr erwerbstätig und verfügt sie allein aufgrund ihrer langjährigen Anwesenheit in der Schweiz "zwangsläufig" über "gewisse" Kenntnisse der deutschen Sprache. Weitere Informationen, insbesondere betreffend die Sprachkenntnisse und andere Fähigkeiten des Versicherten, lassen sich aufgrund der Akten nicht eruieren. Wie es sich damit genau verhält, kann indessen offenbleiben. Ein Anhaltspunkt dafür, dass der Beschwerdeführer oder seine Ehefrau rechtskundig, mit dem kantonalen Beschwerdeverfahren vertraut oder aus einem anderen Grund im Umgang mit dem kantonalen Gericht genügend beschlagen sein sollen, ist nicht ersichtlich.
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2.5. Nach dem Gesagten würde eine nicht bedürftige Partei unter sonst gleichen Umständen vernünftigerweise eine Rechtsanwältin beiziehen (vgl. E. 2.2). Nachdem auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. E. 2.1 in initio), ist dem Beschwerdeführer für das vorinstanzliche Verfahren entsprechend seinem Antrag seine (im schwyzerischen Anwaltsregister eingetragene) Rechtsvertreterin als unentgeltliche Anwältin beizugeben.
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2.6. Die Höhe der Entschädigung für die unentgeltliche Rechtsvertreterin richtet sich grundsätzlich nach kantonalem Recht. Die Vorinstanz hat sich dazu bisher nicht geäussert. Sie wird die Entschädigung festzusetzen haben. In diesem Zusammenhang fehlt dem Beschwerdeführer ohnehin ein schutzwürdiges Interesse (vgl. Urteil 9C_376/2019 vom 10. September 2019 E. 1), weshalb diesbezüglich auf seine Beschwerde nicht einzutreten ist. Im Übrigen ist die Beschwerde begründet.
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3. Dem Kanton Schwyz sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen (vgl. Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Indessen hat der Kanton die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Für die Höhe der Parteikosten kann auf die den jeweiligen Zeitaufwand detailliert ausweisende Honorarnote vom 29. Oktober 2020 abgestellt werden (vgl. Art. 12 Abs. 2 des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.110.210.3]; Urteile 9C_800/2016 vom 9. Mai 2017 E. 5; 9C_184/2016 vom 27. Mai 2016 E. 6.2).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv Ziff. 3 des Entscheids des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 16. September 2020 wird insoweit abgeändert, als das Gesuch um unentgeltlichen Rechtsbeistand gutgeheissen und Rechtsanwältin Antonia Ulrich als unentgeltliche Anwältin bestimmt wird.
 
2. Die Sache wird zur Festsetzung des Honorars der unentgeltlichen Rechtsvertreterin für das vorangegangene Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird auf die Beschwerde nicht eingetreten.
 
3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
4. Der Kanton Schwyz hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2833.90 zu entschädigen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse Schwyz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 11. Januar 2021
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann
 
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