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Informationen zum Dokument  BGer 8C_305/2017  Materielle Begründung
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BGer 8C_305/2017 vom 20.10.2017
 
8C_305/2017
 
 
Urteil vom 20. Oktober 2017
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. Februar 2017 (IV 2016/85).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ litt unter einem Augenleiden (starke Hornhautverkrümmung), das seine Sehkraft zunehmend einschränkte. Er meldete sich deshalb erstmals am 21. November 1980 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Sie gewährte Kostengutsprache für Kontaktlinsen und medizinische Massnahmen.
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Am 30. Dezember 2003 meldete sich A.________ unter Hinweis auf ein Erschöpfungssyndrom erneut bei der IV-Stelle an. Er hatte zwischenzeitlich, nach zwei abgebrochenen Lehren als Automechaniker und als Verkäufer, den Fähigkeitsausweis als Büroangestellter sowie ein Diplom als Fondsberater erlangt und als Kundenberater bei einer Bank sowie als Aussendienstmitarbeiter bei einer Versicherung gearbeitet. Am 1. März 2003 hatte er eine selbstständige Erwerbstätigkeit im Bereich Marketing aufgenommen. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen liess A.________ interdisziplinär durch den regionalen ärztlichen Dienst (RAD) untersuchen, welcher am 30. März 2005 eine 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen bescheinigte. Daraufhin trat jedoch nach den Angaben des behandelnden Psychiaters eine Verschlechterung ein. Mit den Verfügungen vom 19. Dezember 2005 sprach die IV-Stelle A.________ für die Zeit vom 1. Oktober 2003 bis zum 30. Juni 2005 eine halbe und ab dem 1. Juli 2005 eine ganze Invalidenrente zu. Der Anspruch wurde am 16. Juli 2007, am 6. Oktober 2008 und am 17. Dezember 2012 revisionsweise bestätigt. Nach den Angaben der behandelnden Ärzte hatte sich insbesondere auch der Gesundheitszustand weiter verschlechtert, dies sowohl in psychischer Hinsicht als auch bezüglich des Augenleidens. Wegen extremer Ermüdbarkeit und Erschöpfung müssten auch der Haushalt und die Betreuung der 2001 und 2005 geborenen Kinder durch die berufstätige Ehefrau oder von Drittpersonen besorgt werden. Der Versicherte könne nur kürzere Reisen mit dem öffentlichen Verkehr auf ihm bekannten Strecken unternehmen, ansonsten brauche er Begleitung.
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Nach Eingang eines anonymen Hinweises und nach eigenen Recherchen der IV-Stelle im Internet zu einer allfälligen Erwerbstätigkeit liess sie den Versicherten observieren. Sie lud ihn zu einem Standortgespräch am 13. Mai 2014 ein, welches unter Anwesenheit seiner Ehefrau, seines Rechtsvertreters sowie seines behandelnden Psychiaters in dessen Arztpraxis stattfand. Am 27. August 2014 verfügte die IV-Stelle die vorsorgliche Einstellung der Rentenleistung mit sofortiger Wirkung. Sie holte die Gutachten des Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 20. August 2015 sowie der Augenklink des Spitals C.________ vom 23. Februar 2015 ein. Gestützt darauf verfügte die IV-Stelle am 10. Februar 2016 die rückwirkende Renteneinstellung per 30. August 2014.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde, mit der A.________ beantragte, es sei ihm auch weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten, hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 24. Februar 2017 teilweise gut. Es hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurück. Es verpflichtete sie, die Observationsergebnisse und (im Einzelnen aufgelistete) weitere Aktenstücke aus dem Dossier zu entfernen.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, ihre Verfügung vom 10. Februar 2016 sei unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides zu bestätigen, eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Erwägungen:
 
1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen wird und die Rückweisung auch nicht einzig der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient (SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007 E. 1.1), um einen - selbstständig eröffneten - Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f. mit Hinweisen). Die Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).
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Mit der vorinstanzlichen Ausschliessung der Verwertung des Observationsmaterials ist die Eintretensvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG erfüllt. Denn die IV-Stelle wäre damit gezwungen, das von ihr als entscheidwesentlich angesehene Beweismaterial ausser Acht zu lassen und eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Darin liegt ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Urteil 8C_272/2011 vom 11. November 2011 E. 1, nicht publ. in: BGE 137 I 327, aber in: SVR 2012 IV Nr. 26 S. 107; Urteil 8C_192/2017 vom 25. August 2017 E. 1.2).
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2. Die Vorinstanz hat die Observation und die Verwertung der Überwachungsergebnisse als unzulässig erachtet. Streitig ist, ob diese Beurteilung vor Bundesrecht standhält.
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3. Das kantonale Gericht stellte fest, dass für die Observation keine gesetzliche Grundlage bestehe. Das dabei beschaffte Datenmaterial sowie namentlich die danach erstatteten ärztlichen Gutachten, Stellungnahmen des RAD, ein Auszug aus dem Protokoll des Standortgesprächs vom 13. Mai 2014, von den IV-Mitarbeitern erstellte Aktennotizen sowie der Vorbescheid und die rentenablehnende Verfügung seien aus den Akten zu entfernen.
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Die beschwerdeführende IV-Stelle macht geltend, dass die Überwachung rechtmässig gewesen und das dabei erhobene Beweismaterial verwertbar sei.
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Erwägung 4
 
4.1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom 18. Oktober 2016 in Sachen Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10) über die EMRK-Konformität einer Observation, die im Auftrag eines (sozialen) Unfallversicherers durch einen Privatdetektiv erfolgt war, befunden. Er erkannte, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Observation nicht besteht, weshalb er auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) schloss. Hingegen verneinte er eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Gebot eines fairen Verfahrens) durch die erfolgte Verwendung der Observationsergebnisse.
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Das Bundesgericht hat unter Berücksichtigung der betreffenden Erwägungen des EGMR entschieden, dass es trotz Art. 59 Abs. 5 IVG ("Zur Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs können die IV-Stellen Spezialisten beiziehen") auch im Bereich der Invalidenversicherung an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage fehlt, die die Observation umfassend klar und detailliert regelt. Folglich verletzen solche Handlungen, seien sie durch den Unfallversicherer oder durch eine IV-Stelle veranlasst, Art. 8 EMRK beziehungsweise den einen im Wesentlichen gleichen Gehalt aufweisenden Art. 13 BV (Urteil 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017, zur Publikation vorgesehen).
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4.2. Was die Verwendung des im Rahmen der widerrechtlichen Observation gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem Recht. Das Bundesgericht hat in seinem Urteil 9C_806/2016 im Wesentlichen erkannt, dass die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse (und damit auch der gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise) grundsätzlich zulässig ist, es sei denn, bei einer Abwägung der tangierten öffentlichen und privaten Interessen würden diese überwiegen (E. 5.1.1). Mit Blick auf die gebotene Verfahrensfairness hat es sodann in derselben Erwägung (mit Hinweisen) eine weitere Präzisierung angebracht: Eine gegen Art. 8 EMRK verstossende Videoaufnahme ist verwertbar, solange Handlungen des "Beschuldigten" aufgezeichnet werden, die er aus eigenem Antrieb und ohne äussere Beeinflussung machte, und ihm keine Falle gestellt worden war. Ferner hat es erwogen, dass von einem absoluten Verwertungsverbot wohl immerhin insoweit auszugehen ist, als es um Beweismaterial geht, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum zusammengetragen wurde (E. 5.1.3; Urteile 8C_735/2016 vom 27. Juli 2017 E. 5.3.6; 8C_45/2017 vom 26. Juli 2017 E. 4; vgl. zum öffentlich einsehbaren Raum: BGE 137 I 327).
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5. Mit Blick auf diese jüngste Rechtsprechung ist mit dem kantonalen Gericht eine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV und Unzulässigkeit der Observation festzustellen. Hingegen erweist sich der angefochtene Entscheid insoweit als bundesrechtswidrig, als er die Nichtverwertbarkeit der Observationsergebnisse betrifft und ohne Weiteres deren Entfernung aus den Akten angeordnet wurde. Es bleibt zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Verwertung erfüllt sind.
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5.1. Bei der IV-Stelle ging am 30. August 2013 ein anonymer schriftlicher Hinweis ein. Der Versicherte unternehme täglich Autofahrten, sei selbstständig mit einem Boot unterwegs und gehe einer mit PC-Arbeiten verbundenen Erwerbstätigkeit nach. Gemäss Stellungnahme des RAD vom 22. Oktober 2013 soll der Versicherte demgegenüber eine extreme Ermüdbarkeit, einen Erschöpfungszustand, Schwächezustände, Schwindel, starke Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Orientierungsprobleme die Unfähigkeit, komplexere Arbeiten zu erfüllen, geltend gemacht haben. Er leide unter chronischen Rückenschmerzen sowie unter einer sehr starken Sehbehinderung und bedürfe der Unterstützung und Begleitung von Angehörigen. Er lebe sozial zurückgezogen. Medizinisch seien die Diagnosen einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischen Symptomen, einer Neurasthenie, eines leichten bis mittelgradigen obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms, einer Refluxösophagitis, eines Zustands nach Operation einer lumbalen Diskushernie 2011, eines Keratokonus beidseitig mit Status nach Keratoplastik beidseits, einer Cataracta senilis links, einer Adipositas Grad I und multipler Allergien gestellt worden. Die ursprüngliche Rentenzusprechung ab dem Jahr 2003 und Heraufsetzung der Rente im Jahr 2005 seien aus psychischen Gründen erfolgt. Der Versicherte sei durch das Augenleiden zunehmend eingeschränkt gewesen; in den Arztberichten werde erwähnt, dass er Lesehilfen brauche und in der Öffentlichkeit einen Blindenstock verwende. Es lägen allerdings keine aktuellen ophthalmologischen Berichte vor. Angesichts der damit bestehenden Widersprüche zur eingegangenen Anzeige war ein Anfangsverdacht gegeben.
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5.2. Der Versicherte wurde an vier Tagen (am 25. und am 26. Oktober 2013, am 29. November 2013 und am 7. März 2014) während jeweils mehreren Stunden tagsüber observiert. Er wurde im Wesentlichen bei kürzeren Autofahrten, teilweise in Begleitung seiner Kinder, beim Einkaufen, beim Hantieren mit Kisten mit Cheminéeholz und mit Autoreifen, bei Gesprächen mit anderen Personen und beim Schreiben von SMS-Nachrichten beobachtet.
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5.3. Es wurden ausschliesslich alltägliche Verrichtungen im öffentlich einsehbaren Raum aufgezeichnet. Diese erfolgten aus eigenem Antrieb. Der zeitliche Umfang der Überwachung beschränkte sich auf vier Tage. Die Privatsphäre des Versicherten war dadurch nur geringfügig betroffen. Es kann daher nicht von einer schweren Verletzung der Persönlichkeit ausgegangen werden. Dem gegenüberzustellen gilt es das Interesse des Versicherungsträgers und der Versichertengemeinschaft, unrechtmässige Leistungsbezüge abzuwenden. Dieses ist unter den hier gegebenen Umständen höher zu gewichten als das Interesse des Versicherten an einer unbehelligten Privatsphäre.
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Damit können im vorliegenden Fall die ohne ausreichende gesetzliche Grundlage erhobenen Observationsergebnisse in Form des entsprechenden Berichts sowie der Foto- und Videoaufnahmen verwertet werden, zumal der Kerngehalt von Art. 13 BV bei der hier gegebenen Überwachung und der damit verbundenen geringen Eingriffsschwere unangetastet blieb (Urteile 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017 E. 5.1.2; 8C_735/2016 vom 27. Juli 2017 E. 5.3.5 und E. 5.3.6.3). Gleiches gilt auch für die danach ergangenen weiteren Beweise, namentlich die im Nachgang dazu erstellten Gutachten sowie die Stellungnahmen des RAD und diverse Notizen von IV-Sachbearbeitern. Daran vermögen sämtliche Vorbringen des Beschwerdegegners nichts zu ändern. Die Beschwerde der IV-Stelle gegen die vorinstanzlich angeordnete Entfernung dieser Beweismittel aus den Akten ist daher gutzuheissen.
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5.4. Die Sache ist an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es die übrigen Einwände des Versicherten prüfe und über seine Beschwerde neu befinde.
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6. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Rückweisung der Sache an das kantonale Gericht oder an den Versicherungsträger zur erneuten Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt praxisgemäss für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als volles Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235; Urteil 8C_715/2016 vom 6. März 2017 E. 6). Die Gerichtskosten werden daher dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt. Er hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. Februar 2017 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 20. Oktober 2017
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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