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Informationen zum Dokument  BGer 9C_181/2017  Materielle Begründung
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BGer 9C_181/2017 vom 06.06.2017
 
9C_181/2017
 
 
Urteil vom 6. Juni 2017
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Pro Infirmis Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des
 
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 30. Dezember 2016.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1960 geborene A.________ erhielt ab 1. März 1996 eine ganze Invalidenrente sowie Kinderrenten für ihre drei Söhne B.________, C.________ und D.________ zugesprochen. Mitte März 2014 brach D.________ (geb. 1995) seine Lehre als Maler ab, besuchte aber die Berufsschule bis Ende des Schuljahres weiterhin. In der Folge forderte die IV-Stelle des Kantons Zürich unrechtmässig bezogene (Kinder-) Rentenleistungen von Fr. 3'010.- (April bis August 2014) zurück. Die Rückerstattungsverfügung vom 13. August 2014 erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Das von A.________ gestellte Erlassgesuch wies die IV-Stelle nach Gewährung des rechtlichen Gehörs ab, weil die Voraussetzung des guten Glaubens nicht erfüllt sei (Verfügung vom 14. Juli 2015).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 30. Dezember 2016 gut, hob die angefochtene Verfügung auf und erliess A.________ die Rückerstattung von Fr. 3'010.-.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Verfügung vom 14. Juli 2015 zu bestätigen und festzustellen, dass der gute Glaube der Versicherten nicht vorgelegen habe, weshalb das Gesuch um Erlass der Rückerstattung zu Recht abgewiesen worden sei.
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A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Sodann beantragt sie die unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Rentenanspruch von in Ausbildung stehenden Kindern (Art. 35 Abs. 1 IVG), den Begriff der Ausbildung an sich und deren Beendigung bzw. Unterbrechung (Art. 49bis und 49ter AHVV) zutreffend dargelegt. Ebenso korrekt sind die Ausführungen zur Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG). Richtig wiedergegeben hat die Vorinstanz sodann die Voraussetzungen, die für den Erlass der Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen erfüllt sein müssen (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG), nämlich zum guten Glauben (Urteil 8C_243/2016 vom 7. Juli 2016 E. 4 mit Hinweisen) und zum Vorliegen einer grossen Härte (Art. 5 Abs. 1 ATSV in Verbindung mit Art. 4 ELG). Darauf wird verwiesen.
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3. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Beschwerdegegnerin gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG gutgläubig war.
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3.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, die Beschwerdegegnerin habe schlüssig dargetan, dass sie vom Rechtsdienst des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Zürich die Auskunft erhalten habe, ihr Sohn D.________ dürfe die Berufsschule für Gestaltung auch ohne Lehrvertrag weiterhin drei Monate besuchen, ohne dass die Lehre während dieser Zeit als abgebrochen gelte. Damit sei nachvollziehbar, dass diese Information die Beschwerdegegnerin in der Annahme bestärkt habe, es bestehe nach wie vor Anspruch auf eine Kinderrente. Hinzu komme, dass die Zeitspanne zwischen der vorzeitigen Auflösung des alten und der Begründung des neuen Lehrverhältnisses rechtsprechungsgemäss nicht als rechtserhebliche Unterbrechung der Ausbildung gelte, wenn die Suche nach einer neuen Lehrstelle unverzüglich an die Hand genommen werde. Dass die Beschwerdegegnerin der IV-Stelle die Auflösung des Lehrvertrags nicht gemeldet bzw. sich bei ihr nicht über deren Auswirkungen informiert habe, sei unter diesen Umständen nicht als grobe Nachlässigkeit anzusehen. Da bloss leichte Fahrlässigkeit vorliege, sei die Voraussetzung des guten Glaubens erfüllt.
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3.2. Die Frage nach der gebotenen Aufmerksamkeit gilt als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 221 E. 3 S. 223; ARV 2015 S. 338, 8C_534/2015 E. 3.2).
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Erwägung 4
 
4.1. Die Beschwerdegegnerin stellt sich in ihrer Vernehmlassung erneut auf den Standpunkt, sie habe sich in gutem Glauben auf die Auskunft des Rechtsdienstes des kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamtes verlassen dürfen. Dem steht jedoch Folgendes entgegen: Hatte die Anfrage der Beschwerdegegnerin lediglich den Zweck, sich zu erkundigen, ob ihr Sohn D.________ trotz Lehrabbruch Mitte März 2014 bis auf weiteres die Gewerbeschule besuchen durfte, liegt zum vorneherein keine meldepflichtrechtlich relevante - entlastende - Handlung vor. Erfolgte die Anfrage beim Mittelschul- und Berufsbildungsamt hingegen auch mit Blick auf die laufende Kinderrente, so hegte die Beschwerdegegnerin selber Zweifel an der Rechtmässigkeit der weiteren Auszahlung. So oder anders hätte sie sich daher zwingend bei derjenigen Verwaltungsstelle, von welcher sie jeden Monat die Rente überwiesen erhielt, erkundigen müssen, was sie unstreitig zu keinem Zeitpunkt getan hat. Inwieweit eine solche Nachfrage aufgrund persönlicher Umstände (Urteilsfähigkeit, Gesundheitszustand, Bildungsgrad usw.) nicht zumutbar gewesen sein sollte (vgl. dazu Urteil 9C_286/2010 vom 8. Juni 2010 E. 2 mit Hinweisen), ist nicht ersichtlich. Damit ist eine grobe Nachlässigkeit zu bejahen. Die kurze Dauer des Ausbildungsunterbruches, worauf das kantonale Gericht weiter Bezug nimmt, ändert nichts, liegt doch darin kein relevanter Aspekt für die Erlassvoraussetzung des guten Glaubens: Vielmehr betrifft dieser Punkt einzig die Rechtmässigkeit der rückwirkenden Rentenaufhebung ab April 2014, was in einem allfälligen Verfahren gegen die Rückerstattungsverfügung vom 13. August 2014 hätte thematisiert werden können. Dies ist indes nicht geschehen, sondern die fragliche Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft; deren Rechtmässigkeit ist im Erlassverfahren nicht zu prüfen.
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4.2. Soweit sich das kantonale Gericht schliesslich auf Art. 88bis Abs. 2 IVV beruft und die Rückforderung von einer Meldepflichtverletzung abhängig machen will, kann auf das soeben Ausgeführte verwiesen werden.
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5. Zusammengefasst fehlt es am guten Glauben der Beschwerdegegnerin. Da die Erlassvoraussetzungen (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG) kumulativ erfüllt sein müssen, kann dahingestellt bleiben, ob eine grosse Härte vorliegt. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt (vgl. E. 1). Die Beschwerde ist begründet.
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6. Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber verzichtet (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Das von der unterliegenden Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor Bundesgericht gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist insoweit gegenstandslos. Eine Entschädigung unter dem Titel der unentgeltlichen Verbeiständung scheidet aus, da die Versicherte nicht durch eine Rechtsanwältin vertreten ist.
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1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Dezember 2016 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 14. Juli 2015 bestätigt.
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2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird abgewiesen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 6. Juni 2017
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Pfiffner
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Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder
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