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Informationen zum Dokument  BGer 8C_652/2011  Materielle Begründung
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BGer 8C_652/2011 vom 05.12.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_652/2011
 
Urteil vom 5. Dezember 2011
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiberin Weber Peter.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
W.________,
 
vertreten durch Gewerkschaft X.________,
 
diese wiederum vertreten durch Rechtsanwältin Bernadette Häfliger Berger,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 30. Juni 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1957 geborene W.________ meldete sich am 9. Februar 2007 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, nachdem im Dezember 2006 Multiple Sklerose diagnostiziert worden war. Die IV-Stelle des Kantons Bern tätigte in der Folge diverse Abklärungen in beruflicher und medizinischer Hinsicht. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach sie der Versicherten mit Verfügung vom 14. Juli 2009 eine ganze Invalidenrente ab dem 1. Juli 2008 zu.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 30. Juni 2011 in dem Sinne teilweise gut, als es die Verfügung der IV-Stelle vom 14. Juli 2009 aufhob und der Versicherten ab dem 1. März 2008 eine ganze Rente zusprach.
 
C.
 
W.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Rechtsbegehren, der Zeitpunkt des Beginns der erheblichen Arbeitsunfähigkeit und der Zeitpunkt der Eröffnung der Wartezeit seien spätestens auf den 1. Juli 2006 festzusetzen. Ihr sei nach Ablauf der Wartezeit ab dem 1. Juli 2007 eine ganze IV-Rente zuzusprechen. Eventualiter sei die Vorinstanz anzuhalten, weitere Abklärungen betreffend Eintritt der erheblichen Arbeitsunfähigkeit vorzunehmen, um im Nachgang den Beginn der Wartezeit zweifelsfrei festzulegen.
 
Die kantonalen Akten wurden eingeholt. Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wurde verzichtet.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht (Art. 107 Abs. 1 BGG) nur zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist der Zeitpunkt des Beginns der Arbeitsunfähigkeit und damit der Zeitpunkt der Eröffnung der Wartezeit sowie der Rentenbeginn. Unbestritten ist dagegen der Anspruch der Versicherten auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung.
 
3.
 
3.1 Im angefochtenen Entscheid werden die zur Beurteilung des streitigen Leistungsanspruchs massgebenden gesetzlichen Grundlagen und die dazu ergangene Rechtsprechung zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird.
 
3.2 Zu betonen bleibt, dass unter relevanter Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG eine Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zu verstehen ist. Das heisst, es muss arbeitsrechtlich in Erscheinung treten, dass die versicherte Person an Leistungsvermögen eingebüsst hat, so etwa durch einen Abfall der Leistungen mit entsprechender Feststellung oder gar Ermahnung des Arbeitgebers oder durch gehäufte, aus dem Rahmen fallende gesundheitlich bedingte Arbeitsausfälle. Mit anderen Worten: Die Leistungseinbusse muss in aller Regel dem seinerzeitigen Arbeitgeber aufgefallen sein. Eine erst nach Jahren rückwirkend festgelegte medizinisch-theoretische Arbeitsunfähigkeit genügt nicht (SVR 2008 IV Nr. 11 S. 32, I 687/06 E. 5.1; E. 4.2 des in SZS 2003 S. 434 zusammengefassten Urteils B 13/01 vom 5. Februar 2003). Umgekehrt ist eine in der beruflichen Tätigkeit im Vergleich zu einer gesunden Person tatsächlich nur reduziert erbrachte Leistung für sich allein gesehen in aller Regel ebenso wenig ausreichend für die Bejahung einer Arbeitsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes. Vielmehr bedarf es dazu regelmässig zusätzlich einer (überzeugenden) medizinischen Einschätzung, die ordentlicherweise echtzeitlicher Natur ist (SVR 2010 IV Nr. 17, 8C_195/2009 E. 5). Der Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit muss mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360 mit Hinweisen) nachgewiesen sein. Dieser Nachweis darf nicht durch nachträgliche erwerbliche oder medizinische Annahmen und spekulative Überlegungen ersetzt werden (Urteil 8C_41/2011 vom 17. Mai 2011 mit Hinweisen).
 
4.
 
4.1 Nach umfassender Auseinandersetzung mit den medizinischen Akten gelangte die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid im Rahmen einer bundesrechtskonformen Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) zum nachvollziehbar begründeten Ergebnis, dass gestützt auf die echtzeitliche medizinische Einschätzung der Neurologen der Neurologischen Poliklinik des Inselspitals Bern (vom 2. März 2007) von einer vollen Arbeitsunfähigkeit ab März 2007 auszugehen ist. Sie erwog, mittels echtzeitlicher ärztlicher Atteste sei erstellt, dass im Jahr 2006 eine Arbeitsunfähigkeit lediglich während einigen Tagen im März und April und einigen Wochen im Mai attestiert wurde. Es sei deshalb im Jahre 2006 keine durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit von 40% für die Dauer eines Jahres ausgewiesen. Auch nachdem eine gesicherte Diagnose für die geklagten Beschwerden Ende Dezember 2006 mit der Erhebung einer Multiplen Sklerose vorlag, sei der Versicherten echtzeitlich keine Arbeitsunfähigkeit von zumindest 20% attestiert worden.
 
4.2 Die Einwendungen der Beschwerdeführerin vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Sie sind nicht geeignet, die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als offensichtlich unrichtig oder unvollständig erscheinen zu lassen. Insbesondere vermögen die in der Beschwerde erwähnten Arztberichte keine vorgängige echtzeitliche Arbeitsunfähigkeit zu belegen. Es handelt sich dabei vielmehr weitgehend um nachträgliche medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeitsbeurteilungen, die für sich allein rechtsprechungsgemäss nicht genügen (vgl. E. 3.2 hievor). Zudem ist aufgrund der Akten eine anderweitig nachgewiesene gesundheitsbedingte Einbusse im Leistungsvermögen nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 117 V 261 E. 3b S. 263 f.) erstellt. So lässt sich entgegen der Beschwerdeführerin aufgrund des Kündigungsschreibens der letzten Arbeitgeberin, der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kinder, vom 31. Mai 2006 nicht unmissverständlich auf eine gesundheitsbedingte Überforderung schliessen. Im Kündigungsschreiben ist diesbezüglich nichts erwähnt. Inwiefern sich etwas Entsprechendes aus den Standortbestimmungen ergeben sollte, wird nicht näher begründet. Dem Fragebogen der IV-Stelle für Arbeitgeber vom 16. Februar 2007 wie auch dem Arbeitszeugnis vom 31. August 2006 ist vielmehr zu entnehmen, dass das Arbeitsverhältnis bei der Stiftung aufgelöst worden war, da die Kompetenzen nicht mit den Anforderungen der Stelle übereinstimmten. Entgegen den Einwendungen der Beschwerdeführerin bestand bei dieser Aktenlage für die Vorinstanz kein Grund für zusätzliche Abklärungen hinsichtlich des Beginns der erheblichen Arbeitsunfähigkeit. Eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes ist nicht zu erkennen. Im Lichte der Akten durfte das kantonale Gericht eine vor dem März 2007 vorhandene relevante Arbeitsunfähigkeit verneinen, ohne gegen Bundesrecht zu verstossen. Die Beschwerde ist somit abzuweisen.
 
5.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 5. Dezember 2011
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Leuzinger
 
Die Gerichtsschreiberin: Weber Peter
 
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