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Informationen zum Dokument  BGer 1B_315/2011  Materielle Begründung
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BGer 1B_315/2011 vom 06.09.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_315/2011
 
Urteil vom 6. September 2011
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Raselli, Merkli,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
1. Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
2. Vera Delnon,
 
Beschwerdeführer,
 
beide vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Vera Delnon,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510 Frauenfeld.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Nichtbekanntgabe von Zeugennamen / Rechtsverweigerung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 5. Mai 2011
 
des Obergerichts des Kantons Thurgau.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen X.________ wegen Urkundendelikten setzte die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität auf den 23. März 2011 die Einvernahme von drei Zeugen und auf den 5. April 2011 die Einvernahme eines Zeugen an. Sie hielt fest, sie werde die Namen der Zeugen jeweils eine Stunde im Voraus bekannt geben und ab diesem Zeitpunkt die Akten zur Vorbereitung der Einvernahme vorlegen.
 
Mit Eingabe vom 16. März 2011 setzte sich die Verteidigerin von X.________ gegen dieses Vorgehen zur Wehr. Die Staatsanwaltschaft antwortete gleichentags per E-Mail, sie halte am "Marschplan" fest; bei Bedarf könnten die Zeugen an einem zweiten Termin durch die Verteidigung befragt werden.
 
X.________ und Rechtsanwältin Delnon erhoben Beschwerde ans Obergericht und beantragten u.a., die Einvernahmen vom 23. März und vom 5. April 2011 abzusetzen und ihnen rechtzeitig vor den neu anzusetzenden Einvernahmen unter Anordnung eines Kontaktverbots die Namen der Zeugen bekanntzugeben. Das Obergericht setzte die Einvernahmen nicht ab. Nach deren Durchführung beantragten X.________ und Rechtsanwältin Delnon zusätzlich, es sei festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft mit dem beanstandeten Vorgehen ihr rechtliches Gehör verletzt habe.
 
Das Obergericht des Kantons Thurgau wies die Beschwerde am 5. Mai 2011 ab, soweit es darauf eintrat. Es liess offen, ob die Verteidigerin zur Beschwerdeführung in eigenem Namen befugt sei.
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragen X.________ und Rechtsanwältin Delnon, diesen Obergerichtsentscheid aufzuheben und festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft durch die Nichtbekanntgabe der Zeugennamen ihr rechtliches Gehör im Sinn von Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK bzw. die Verteidigungsrechte im Sinn von Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. b und d EMRK verletzt habe.
 
C. Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Angefochten ist der Entscheid des Obergerichts, mit welchem es auf die Beschwerde gegen das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, Zeugeneinvernahmen anzusetzen und die Namen der Zeugen dem Angeschuldigten und seiner Verteidigerin erst eine Stunde im Voraus bekannt zugeben, abwies, soweit es darauf eintrat. Es handelt sich um den Entscheid einer letzten kantonalen Instanz in einer Strafsache, gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1 BGG). Er schliesst das Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab, ist mithin ein Zwischenentscheid. Als solcher ist er nach Art. 93 Abs. 1 BGG nur anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4) bewirken könnte (lit. a), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Die Beschwerdeführer machen zu Recht nicht geltend, die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG seien erfüllt.
 
Einwände gegen die Erhebung von Beweismitteln bzw. gegen deren Verwertbarkeit können ohne Einschränkung dem Sachrichter unterbreitet werden. Die von den Beschwerdeführern beanstandete Beschränkung der Verteidigungsrechte bei der (erstmaligen) Einvernahme von bestimmten Zeugen begründet daher keinen Nachteil rechtlicher Natur, der mit einem für den Angeschuldigten günstigen, z.B. die Verwertbarkeit der beanstandeten Beweismittel ausschliessenden Entscheid, nicht behoben werden könnte.
 
Einem prozessarmen Angeschuldigten, der sich gegen komplexe oder schwerwiegende Anschuldigungen zur Wehr setzen muss, die unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu verweigern mit der Folge, dass er unverteidigt bleibt, kann einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirken, z.B. wenn die Berufungsinstanz auf die ungenügend bzw. laienhaft begründete Berufungsschrift nicht eintritt (BGE 129 I 281 E. 1.1). Die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung ist allerdings in ihrer umfassenden Tragweite offensichtlich nicht vergleichbar mit der eng begrenzten, relativ geringfügigen und vorübergehenden Beschränkung der Verteidigungsrechte, über die sich die Beschwerdeführer vorliegend beklagen, zumal der angeschuldigte Beschwerdeführer selber rechtskundig ist. Aus dem erwähnten Bundesgerichtsentscheid können sie nichts zu ihren Gunsten ableiten.
 
Die Beschwerdeführer berufen sich zwar ausserdem auf die Rechtsprechung, wonach das Erfordernis des nicht wieder gutzumachenden Nachteils nicht erfüllt sein muss, wenn der Rechtsuchende Rechtsverzögerung oder Rechtsverweigerung substanziiert geltend macht (BGE 134 IV 43 E. 2.2 - 2.5 S. 45; Urteil 1B_367/2009 vom 17. Mai 2010 E. 3.1.3). Da sie indessen, wie erwähnt, ihre Einwände gegen die Durchführung der Zeugenaussagen bzw. deren Verwertung ohne Einschränkung beim Sachrichter erheben können, ist von vornherein auszuschliessen, dass der angefochtene Entscheid eine formelle Rechtsverweigerung bewirken könnte.
 
Damit ergibt sich zusammenfassend, dass die Eintretensvoraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG nicht erfüllt sind. Auf die Beschwerde ist nicht einzutreten, ohne dass die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen - insbesondere die (fragliche) Legitimation der Beschwerdeführerin - geprüft werden müssten.
 
2.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden den Beschwerdeführern auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. September 2011
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Störi
 
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