VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_29/2011  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_29/2011 vom 08.07.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_29/2011
 
Urteil vom 8. Juli 2011
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber Traub.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Christe,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 23. November 2010.
 
Sachverhalt:
 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich sprach dem 1963 geborenen A.________ unter anderem gestützt auf ein interdisziplinäres Gutachten des medizinischen Zentrums X.________ vom 14. April 2008 eine befristete ganze Rente für den Zeitraum Juni 2005 bis April 2008 zu (Verfügungen vom 23. März 2009).
 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde ab, mit welcher der Versicherte (unter anderem mit Hinweis auf einen Bericht der Psychiatrischen Poliklinik am Spital Y.________ vom 31. Juli 2008) verlangt hatte, es sei ihm über den 30. April 2008 hinaus eine ganze Invalidenrente zuzusprechen (Entscheid vom 23. November 2010).
 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Ausserdem sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung) zu bewilligen.
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Strittig sind im Wesentlichen beweisrechtliche Gesichtspunkte. Konkret zu prüfen ist, ob die Nichtweitergewährung der Invalidenrente ab Mai 2008 auf einer vollständigen sachverhaltlichen Grundlage beruht.
 
1.2 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Die unvollständige Sachverhaltsfeststellung entspricht einer Bundesrechtsverletzung (Ulrich Meyer, in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zum BGG, 2008, Art. 105 N. 59). Keine Frage der Vollständigkeit der Sachverhaltsfeststellung ist, ob im Rahmen einer vorinstanzlich beantworteten Tatfrage erhebliche aktenkundige Tatsachenelemente auch vollständig erfasst worden sind. Eine unvollständige Auswertung der Beweise mit der Folge, dass wesentliche Aussagegehalte nicht in die Beweiswürdigung einfliessen, kann hingegen eine offensichtliche Unrichtigkeit im Sinne von Art. 105 Abs. 2 BGG begründen.
 
2.
 
2.1
 
2.1.1 Die IV-Stelle holte beim medizinischen Zentrum X.________ ein am 14. April 2008 erstattetes interdisziplinäres (internistisches, rheumatologisches und psychiatrisches) Gutachten ein. Dieses weist als Diagnose mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit ein chronisches Schmerzsyndrom der linken oberen Extremität (nach einer zweifach operativ behandelten Unfallverletzung des Schultergelenks) aus, darüber hinaus - als Diagnosen ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit - ein dysfunktionales Krankheitsverhalten und den Verdacht auf eine arterielle Hypertonie. Die körperliche Leistungsfähigkeit bestehe einzig in einer herabgesetzten Belastbarkeit des linken Schultergelenks; in einer behinderungsangepassten Tätigkeit sei der Beschwerdeführer nicht eingeschränkt. Aus psychiatrischer Sicht bestehe keine Beeinträchtigung. Ärzte der Psychiatrischen Poliklinik am Spital Y.________ diagnostizierten demgegenüber eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (seit Juli 2007), eine mittelgradige depressive Episode (seit Oktober 2005), dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (seit 2006), eine Benzodiazepinabhängigkeit (seit 2005) sowie akzentuierte Persönlichkeitszüge mit narzisstischen Anteilen. Aus diesen Befunden leiteten sie ab, "aktuell" bestehe aus psychiatrischer Sicht eine vollständige Arbeitsunfähigkeit (Bericht vom 31. Juli 2008).
 
2.1.2 Das kantonale Gericht führte aus, sofern man, wie vom Beschwerdeführer beantragt, in erster Linie auf die Beurteilung des Spitals Y.________ von Juli 2008 abstelle, sei die attestierte Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen gemäss der einschlägigen Praxis (BGE 131 V 49) rechtlich zu würdigen. Sollte sich dabei keine anspruchserhebliche Arbeitsunfähigkeit ergeben, so sei die Annahme der IV-Stelle, eine leistungsbegründende Invalidität sei weggefallen, aus diesem Grund (und nicht wegen der im Gutachten des medizinischen Zentrums X.________ fehlenden psychiatrischen Diagnose) zutreffend. Weiter erwog die Vorinstanz, der Bericht des Spitals Y.________ weise keine Komorbidität aus; die diagnostizierte Depression stelle kein verselbständigtes Leiden dar. Auch anhand der übrigen Kriterien erscheine die Ausschöpfung des unter physischem Gesichtspunkt gegebenen Leistungsvermögens nicht als unzumutbar. Das kantonale Gericht schloss, die Annahme der Verwaltung, es liege auch im psychiatrischen Bereich keine relevante Arbeitsunfähigkeit vor, sei selbst dann zutreffend, wenn mit dem Beschwerdeführer nicht auf das Gutachten des medizinischen Zentrums X.________, sondern auf die Beurteilungen der behandelnden Ärzte des Spitals Y.________ abgestellt werde.
 
2.2 Die Beurteilung der Frage, ob eine somatoforme Schmerzstörung (allenfalls gemeinsam mit begleitenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen) invalidisierend wirke, setzt unter anderem eine Feststellung darüber voraus, ob eine psychische Komorbidität oder weitere Umstände gegeben sind, welche die Schmerzbewältigung behindern (zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in diesem Zusammenhang: SVR 2008 IV Nr. 23 S. 71 E. 2.2, I 683/06).
 
2.2.1 Die vorinstanzliche Schlussfolgerung, die Einschätzung des Spitals Y.________ von Juli 2008 lasse keine Komorbidität annehmen, beruht unter anderem auf der Erwägung, die Depressivität sei gemäss einem früheren Bericht des Spitals Y.________ von Oktober 2006 als Reaktion auf den Verlust der Arbeitsfähigkeit charakterisiert worden. Nachdem der Verlust der Arbeitsfähigkeit seinerseits den (damaligen) somatischen Beschwerden zuzuschreiben sei, stelle die Depression kein verselbständigtes Leiden dar, das als Komorbidität im Sinne der Rechtsprechung betrachtet werden könnte (E. 4.2 S. 11). Die vorinstanzlich hervorgehobene Entstehungsweise der aktuell attestierten Depression (Reaktion auf den früheren organischen Gesundheitsschaden) ist als solche indessen nicht ausschlaggebend für die Beurteilung der Frage, ob eine Depression nunmehr einem nach Massgabe der Rechtsprechung eigenständigen Leiden entspreche (dazu SVR 2008 IV Nr. 1 E. 5.2, I 176/06).
 
2.2.2 Zum Kriterium des sozialen Rückzugs führt das kantonale Gericht aus, gewisse Rückzugstendenzen seien vorhanden, jedoch liessen die Angaben in den Berichten des Spitals Y.________ nicht auf einen Rückzug in allen Belangen des Lebens schliessen. Im neusten Bericht des Spitals Y.________ vom 31. Juli 2008 ist davon die Rede, es bestehe ein fremdanamnestisch bestätigtes ausgeprägtes Rückzugsverhalten, soziale Kontakte bestünden nur noch zur Kernfamilie und seien auch dort erheblich eingeschränkt (S. 3 Ziff. 1.3 und S. 5 oben Ziff. 4.5). Das kantonale Gericht legt nicht dar, wie es trotz dieser fachärztlichen Ausführungen zur Feststellung blosser Rückzugstendenzen gelangt.
 
2.2.3 Ebenfalls auf einer unvollständigen Verarbeitung der Aussagen im aktuellen Bericht des Spitals Y.________ beruht die vorinstanzliche Feststellung, der Beschwerdeführer lasse eine therapiebezogene Eigenanstrengung vermissen. Das kantonale Gericht verweist dazu auf ein früheres Dokument des Spitals Y.________ (Austrittsbericht vom 31. Juli 2007), wonach der Versicherte Therapievorschläge (ambulante Ergo- oder Physiotherapie oder Akupunktur, Tagesklinik) abgelehnt hat (E. 4.3 in Verbindung mit E. 3.6). Der neuste Bericht des Spitals Y.________ vom 31. Juli 2008 enthält Hinweise auf eine abwehrende Haltung des Versicherten unter anderem gegenüber einer Einbindung der Angehörigen in eine Therapie (S. 5 Ziff. 4.7), dies vor dem Hintergrund von "verantwortbar eigene[n] Anteile[n] an der Krankheitsentwicklung" und einer nicht völlig auszuschliessenden "Funktionalität der Symptomatik im Sinne eines sekundären Krankheitsgewinns und zur Unterstreichung eines Anspruchs auf finanzielle Unterstützung" (S. 2). Die Verfasser fügen allerdings an, "eine derartige Dynamik [wäre] in diesem Fall jedoch als Zusatzbefund zu werten und nicht als monokausale Erklärung, da die psychopathologischen Symptome zu eindeutig, langanhaltend und in sich medizinisch nachvollziehbar sind". Die Vorinstanz hat diese Aussagen im Verhältnis zu den im Bericht des Spitals Y.________ vom 31. Juli 2008 attestierten Gesundheitsschädigungen weder eingeordnet noch gewichtet. Eine solche Würdigung ist indes im Hinblick auf die ärztliche Einschätzung unumgänglich, bei der "vorhandenen erheblichen Störung der Ich-Funktionen" sei "nicht davon auszugehen, dass es dem Patienten möglich ist, auf die vorgeschlagenen therapeutischen Elemente (Psychotherapie, Schmerzmanagement) adäquat einzugehen" (S. 3 oben); der Versicherte sei "bislang ambulant-psychiatrisch [...] in einem sozialpsychiatrischen und supportiv ausgerichteten Setting behandelt" worden; ein "höher strukturierter psychotherapeutischer Ansatz, beispielsweise im Sinne einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung, wie sie für die Therapie einer somatoformen Schmerzstörung und einer affektiven Komorbidität nach dem heutigen Stand der Wissenschaft gefordert wird, war bislang aufgrund der geringen Introspektionsfähigkeit des Patienten und der Unfähigkeit, eine reflektierte Aussenposition einzunehmen, nicht möglich" (S. 5 Ziff. 4.7). Schliesslich bejahen die Ärzte des Spitals Y.________ die Frage, ob der Versicherte alle Behandlungsmöglichkeiten wahrnehme (S. 7 Ziff. 6.5). Diese bezüglich des Kriteriums der gescheiterten Behandlung doch erheblichen fachärztlichen Ausführungen sind im angefochtenen Entscheid nicht berücksichtigt worden.
 
2.3 Nach dem Gesagten haben verschiedene für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit im angefochtenen Entscheid wesentliche Feststellungen erhebliche aktenkundige medizinische Einschätzungen unberücksichtigt gelassen. Hierdurch wird der vorinstanzlichen Prämisse die Grundlage entzogen, bei zutreffendem Verständnis des Berichts des Spitals Y.________ sei die medizinische Entscheidungsbasis eine einheitliche; dieser Schluss durfte nach dem Gesagten rechtlich (noch) nicht gezogen werden. Die Vorinstanz wird daher den rechtserheblichen Sachverhalt anhand des medizinischen Dossiers, namentlich des Gutachtens des medizinischen Zentrums X.________ und des Berichts des Spitals Y.________ vom 31. Juli 2008, nötigenfalls gestützt auf weitere Abklärungen, in freier Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) umfassend festzustellen haben. Anschliessend ist neu zu prüfen, wie es sich gemäss BGE 131 V 49 mit dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten invalidisierenden Gesundheitsschaden verhält.
 
3.
 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG). Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos. Dem im vorinstanzlichen Prozess entstandenen Vertretungsaufwand wird das kantonale Gericht im neuen Kostenentscheid Rechnung tragen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. November 2010 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu entscheide.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse Grosshandel + Transithandel und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 8. Juli 2011
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Traub
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).