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Informationen zum Dokument  BGer 6B_450/2010  Materielle Begründung
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BGer 6B_450/2010 vom 04.04.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_450/2010
 
Urteil vom 4. April 2011
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Gerichtsschreiber Briw.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Josephsohn,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Mehrfache Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz; Strafzumessung; Rückversetzung in den Strafvollzug,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 11. März 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Obergericht des Kantons Zürich ging im Appellationsverfahren am 11. März 2010 betreffend die Anklageziffer 4 sachverhaltlich davon aus, dass X.________ in mitverantwortlicher Weise versucht hatte, durch eine Kurierin eine Kokainlieferung von der Dominikanischen Republik in die Schweiz zu organisieren (gemäss Anklageschrift 2 kg gegen eine Entschädigung von 20'000 Franken). Das scheiterte, weil es nicht gelang, in der Dominikanischen Republik eine Kokainlieferung bereitzustellen. Im Rahmen der Anklageziffer 6 war er in massgeblicher Weise an der Organisation von in die Schweiz eingeführtem Kokain beteiligt. Die Kurierin erhielt von ihm dafür über eine Mitbeteiligte 10'000 Franken. Er selber war mit 0,7 kg reinen Kokains im Auto unterwegs, und er hätte weitere 5,36 kg reines Kokain transportieren sollen (angefochtenes Urteil S. 41 f.).
 
Das Obergericht stellte die Rechtskraft der bezirksgerichtlichen Freisprüche vom 12. Juni 2009 betreffend Anklageziffer 2 (recte), 3 sowie 5 fest und sprach ihn vom Vorwurf betreffend Anklageziffer 1 frei. Es fand ihn in den Anklageziffern 4 und 6 des mehrfachen Verbrechens gemäss Art. 19 Ziff. 1 Abs. 3, 5 und 6 i.V.m. Ziff. 2 lit. a BetmG schuldig.
 
Es versetzte ihn zurück in den Strafvollzug für den Strafrest von insgesamt 711 Tagen hinsichtlich einer Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren im Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 26. Mai 2000 sowie der Freiheitsstrafe von 5 Jahren im Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 2. September 2003. Es bestrafte ihn unter Einbezug dieses Strafrests mit einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren als Gesamtstrafe (wovon 963 Tage erstanden waren).
 
B.
 
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, er sei bezüglich Anklageziffer 4 freizusprechen, von der Rückversetzung in den Vollzug der Reststrafen für die zwei bedingten Entlassungen sei abzusehen, und die Probezeit sei angemessen zu verlängern oder er zu verwarnen, er sei mit einer Freiheitsstrafe von maximal 3 Jahren zu bestrafen, die Kosten des kantonalen Verfahrens seien anders zu verteilen, eventuell sei das obergerichtliche Urteil in Ziff. 1, 3, 4, 5 und 7 des Dispositivs aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und auf einen Kostenvorschuss zu verzichten.
 
Das Bundesgericht stellte im Oktober 2010 und Januar 2011 die Gerichtsakten wegen eines dort anhängigen Verfahrens dem Bezirksgericht Zürich zu.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerdeschrift vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Es gilt eine qualifizierte Rügepflicht, insbesondere auch hinsichtlich eines Willkürvorwurfs (BGE 136 I 229 E. 4.1; 133 IV 286 E. 1). Das Bundesgericht legt die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), wenn sie nicht offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet willkürlich (BGE 133 II 249 E. 1.2.2). Willkür (vgl. BGE 134 I 140 E. 5.4) muss der Beschwerdeführer anhand des angefochtenen Urteils darlegen. Auf appellatorische Kritik ist nicht einzutreten (BGE 136 I 49 E. 1.4.1; 136 II 101 E. 3, 489 E. 2.8).
 
2.
 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Verschlechterungsverbots (reformatio in peius). Dieses Verbot habe Verfassungsrang und betreffe nicht nur das Strafmass, sondern auch weitere Punkte, welche einen direkten Einfluss auf die Höhe der Strafe hätten. Die Staatsanwaltschaft habe den bezirksgerichtlichen Schuldspruch in Anklageziffer 4 akzeptiert, dass er nämlich nicht als Organisator, sondern nur als einfacher Mitbeteiligter angesehen werde (Beschwerde S. 21).
 
2.1 Dem Verschlechterungsverbot kommt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kein konventions- oder verfassungsmässiger Rang zu (vgl. Urteil 6B_332/2009 vom 4. August 2009 E. 2.4). Es handelt sich um ein Institut des kantonalen Strafprozessrechts und ist in der Schweiz unterschiedlich geregelt (vgl. HAUSER/SCHWERY/HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 98 Rz 3). Die Anwendung und Auslegung des kantonalen Rechts prüft das Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der Willkür.
 
2.2 Wurde vom Angeklagten oder von der Staatsanwaltschaft zu Gunsten des Angeklagten ein Rechtsmittel eingelegt, so darf gemäss § 399 StPO/ZH das Urteil nicht zu Ungunsten des Angeklagten geändert werden, sofern nicht auch die Gegenpartei das Rechtsmittel ergriffen hat.
 
Die Vorinstanz stellt fest, in Anklageziffer 4 stelle sich hinsichtlich der Würdigung der Umstände, dass der Beschwerdeführer als Organisator des versuchten Kokaintransports fungiert habe, die Frage des Verschlechterungsverbots, da die Staatsanwaltschaft den Schuldpunkt nicht angefochten habe. Das Verschlechterungsverbot beziehe sich aber klarerweise nur auf die Strafe. Eine schärfere Qualifikation des Sachverhalts oder ein Wechsel der Begründung des Entscheids stelle keine Schlechterstellung dar (angefochtenes Urteil S. 7 f. mit Hinweis auf SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Auflage, Zürich 2004, NN 984 und 987). Die Staatsanwaltschaft habe eine schärfere Bestrafung beantragt. In einer anderen Beweiswürdigung liege keine Verletzung des Schlechterstellungsverbots.
 
Eine willkürliche Auslegung und Anwendung von § 399 StPO/ZH ist nicht ersichtlich. Die Vorinstanz stützt sich für die Auslegung auf die kantonale Rechtsprechung (vgl. ebenso HAUSER/SCHWERY/HARTMANN, a.a.O, § 98 Rz 14 mit Hinweisen auf die Zürcher Praxis). Da die Staatsanwaltschaft eine schärfere Bestrafung beantragt und damit nicht zugunsten des Beschwerdeführers appelliert hatte, ist der Beschwerde die Grundlage entzogen.
 
2.3 Wie erwähnt, kommt die Vorinstanz in Anklageziffer 4 (anders als das Bezirksgericht) zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer als Organisator fungiert hatte (angefochtenes Urteil S. 34 - 38).
 
Der Beschwerdeführer räumt zwar ein, dass A.________ angegeben hatte, er sei der Auftraggeber gewesen, hält aber diese Aussage für missverständlich (Beschwerde S. 6). Ihre Aussagen seien widersprüchlich und teilweise unmöglich, soweit sie ihn belasteten. Sie seien aufgrund ihrer Psyche und ihres Aussageverhaltens nicht ernst zu nehmen (Beschwerde S. 16). Es liesse sich höchstens annehmen, dass er "im Sinne einer Gehilfenschaft oder dann einer Mittäterschaft in äusserst geringem Ausmasse in untergeordneter Funktion im Anklagevorwurf gemäss Anklageziffer 4 beteiligt gewesen wäre" (Beschwerde S. 18). Auch aus Plausibilitätsgründen liege die Darstellung vollkommen jenseits jeglicher Realität (Beschwerde S. 19).
 
Diese erwägenden Vorbringen, die damit begründet werden, dass die Aussagen von A.________ nicht ernst genommen werden könnten und dass Plausibilitätsgründe dagegen sprächen, belegen keine willkürliche, d.h. schlechterdings unhaltbare Beweiswürdigung. Sie erweisen sich vielmehr als appellatorisch. Darauf ist nicht weiter einzutreten.
 
3.
 
Im Zusammenhang mit Anklageziffer 6 ist nach dem Beschwerdeführer daran festzuhalten, dass sein Beitrag "zur Einfuhr vom 23. Juli 2007 in erster Linie das in Kontaktbringen von B.________ und A.________ war, dann die Bestellung eines Flugtickets und die Übergabe des Tickets via eine Drittperson an A.________, allenfalls die Bitte an C.________, A.________ am Flughafen abzuholen, allenfalls die Übergabe des Lohnes an A.________ via C.________ und schliesslich das Verbringen eines Teils in der Wohnung D.________ zwischengelagerten Kokains an B.________, resp. der Versuch dazu. Wobei klar zu stellen ist, dass der angebliche Auftrag zum Abholen am Flughafen nicht angeklagt worden ist" (Beschwerde S. 26). Dass er eine "Organisationsfunktion" gehabt hätte, sei nicht aufrecht zu halten (Beschwerde S. 27).
 
Diese Vorbringen sind appellatorisch.
 
4.
 
4.1 Der Beschwerdeführer macht zur Strafzumessung unter anderem geltend, aufgrund des zu erfolgenden Freispruchs hinsichtlich Anklageziffer 4 und der weniger intensiven Beteiligung betreffend Anklageziffer 6 sei eine Einsatzstrafe von 7 1/2 Jahren nicht aufrecht zu erhalten. Die Vorinstanz habe darauf hingewiesen, dass er bei seiner Verhaftung 1,8 kg Kokain mit sich hatte und dass er weitere 6 kg hätte befördern wollen. Es sei ihm aber gar nichts anderes übrig geblieben, als das Kokain wegzubringen. Das könne nicht als eigenständige Handlung betrachtet werden. Die Strafe sei zu hoch ausgefallen und widerspreche den Strafzumessungskriterien des StGB.
 
Diese und weitere Vorbringen sind nur schwer nachvollziehbar. Eine Verletzung von Bundesrecht wird damit nicht begründet (Art. 42 Abs. 2 BGG).
 
4.2 Eben so wenig stichhaltig sind die Einwände gegen die Rückversetzung gemäss Art. 89 StGB. Dass die Vorinstanz (wie bereits das Bezirksgericht) eine eigentliche Schlechtprognose stellt (angefochtenes Urteil S. 55 f.), ist offenkundig nicht zu beanstanden. Er wurde im Mai 2000 wegen Vergehen gegen das BetmG mit 2 Jahren und 6 Monaten Gefängnis bestraft. Im März 2001 wurde er bedingt entlassen. Ein halbe Jahr später begann er erneut einschlägig zu delinquieren. Im September 2003 erfolgte eine Verurteilung zu 5 Jahren Zuchthaus. Schliesslich wurde er im November 2006 bedingt entlassen. Kurze Zeit später erfolgten die hier zu beurteilenden Straftaten. Es ist auf das angefochtene Urteil zu verweisen (Art. 109 Abs. 3 BGG).
 
5.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren abzuweisen (Art. 64 StGB). Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 4. April 2011
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Favre Briw
 
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