VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_687/2010  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_687/2010 vom 30.12.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_687/2010
 
Urteil vom 30. Dezember 2010
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG, Bundesplatz 15, 6003 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
N.________,
 
Beschwerdegegnerin,
 
Dr. med. E.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Tomas Poledna.
 
Gegenstand
 
Krankenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 14. Juni 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
N.________, geboren 1963, ist bei der CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG (nachfolgend: Concordia) obligatorisch krankenpflegeversichert. Nachdem sie sich am 12. Oktober 2007 auf Verordnung ihrer HMO-Ärztin im Zentrum X.________ (nachfolgend: Zentrum) bei Dr. med. E.________, Spezialarzt für Orthopädische Chirurgie FMH, einer Untersuchung unterzogen hatte, reichte sie der Concordia einen Rückforderungsbeleg im Betrag von Fr. 1'293.45 ein. Mit Schreiben vom 20. November 2007 teilte die Concordia N.________ mit, dass sie "vorläufig nur unbestrittene Kosten" von Fr. 523.85 übernehme. Sie begründete es damit, sie habe die Abrechnungspraxis des Dr. med. E.________ "eingehend geprüft" und sei "klar der Ansicht", dass die Tarifanwendung für die Untersuchung (funktionelles MRI) nicht korrekt sei. Sie habe den Arzt "schon vor einigen Monaten darauf hingewiesen", dass seine Praxis nicht tarifkonform sei. Dieser sei mit der Tarifinterpretation der Concordia und ihrem Abrechnungsvorschlag nicht einverstanden. Zurzeit würden "Bestrebungen zur definitiven Klärung der hängigen Tariffrage" laufen.
 
Mit Schreiben vom 19. September 2008 teilte N.________ der Concordia mit, die Intervention des Ombudsmanns der sozialen Krankenversicherung habe offenbar zu keinen neuen Standpunkten geführt, da weder die Versicherung noch der Arzt sich aufeinander zubewegen würden. Sie werde "im Regen stehen gelassen" und bitte darum um eine "die volle Kostenübernahme ablehnende einsprachefähige Verfügung", damit sie diese auf dem Rechtsweg anfechten könne. Am 14. Oktober 2008 erliess die Concordia "auf Wunsch hin" eine Verfügung. Sie befand, es könnten hier nur TARMED-Positionen im Betrag von insgesamt Fr. 523.85 vergütet werden. Sie begründete dies vorab damit, Dr. med. E.________ halte sich nicht an die Gepflogenheiten des KVG. Für die funktionellen Wirbelsäulenuntersuchungen gebe es eine klare Tarifregelung. Das Zentrum missachte diese, indem es zusätzliche Positionen verrechne. Es bestehe kein Anlass, eine funktionelle Wirbelsäulenuntersuchung mit mehreren Sitzungen abzurechnen. Mit Entscheid vom 15. Dezember 2008 wies die Concordia die von N.________ erhobene Einsprache ab.
 
B.
 
Wie ihr in der Rechtsmittelbelehrung vorgegeben reichte N.________ gegen den Kassenentscheid Beschwerde beim kantonalen Versicherungsgericht ein mit dem Antrag, die Concordia sei zu verpflichten, den ganzen vom Zentrum in Rechnung gestellten Betrag zu übernehmen. Mit Entscheid vom 14. Juni 2010 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde teilweise gut; es hob den Einspracheentscheid auf und verpflichtete die Concordia, der Versicherten (zusätzlich) einen Betrag von Fr. 266.50 zu bezahlen. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
 
C.
 
Die Concordia führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt insofern Aufhebung des kantonalen Entscheides, als sie dazu verpflichtet wird, den zusätzlichen Betrag von Fr. 266.50 zu bezahlen.
 
Der beigeladene Dr. med. E.________ lässt Abweisung der Beschwerde beantragen; eventualiter sei die Concordia anzuweisen, "die Analogiepositionen für die nicht im TARMED ausdrücklich aufgeführten Leistungen zu Gunsten der Beschwerdeführerin zu ermitteln" und gestützt hierauf die Kosten zu übernehmen.
 
Vorinstanz, Versicherte und Bundesamt für Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
 
2.
 
Es handelt sich hier um einen Tarifstreit zwischen Versicherer und Leistungserbringer (ausführlich zum Ganzen vgl. EUGSTER, Bundesgesetz über die Krankenversicherung, 2010, S. 544 f. Rz. 10-13). Zudem gilt das System des Tiers garant, da die Versicherte dem Leistungserbringer die Vergütung der Leistung schuldet. Sie hat in diesem Fall gegenüber dem Versicherer einen Anspruch auf Rückerstattung (Art. 42 Abs. 1 KVG).
 
3.
 
Streitigkeiten zwischen Versicherern und Leistungserbringern entscheidet ein Schiedsgericht. Es ist auch zuständig, wenn die versicherte Person die Vergütung schuldet; in diesem Fall vertritt ihr Versicherer sie auf eigene Kosten (Art. 89 Abs. 1 und 3 KVG).
 
4.
 
Nach der Rechtsprechung bestimmt sich die Zuständigkeit des Schiedsgerichts danach, welche Parteien einander in Wirklichkeit gegenüber stehen. Der Streitgegenstand muss die besondere Stellung der Versicherer oder Leistungserbringer im Rahmen des KVG betreffen. Als Streitigkeiten im Rahmen des KVG fallen z.B. Honorar- und Tariffragen in Betracht (BGE 131 V 191 E. 2 S. 192 f. mit Hinweisen). Die Voraussetzungen für den Vertretungsanspruch vor Schiedsgericht sind hier klar erfüllt. In den Akten (Korrespondenz, Verfügung, Einspracheentscheid) hat die Beschwerdeführerin mehrfach klar aufgezeigt, welche Kontrahenten in dieser prinzipiellen Tarifstreitigkeit einander gegenüber stehen. Sie hätte darum die Versicherte vor dem Schiedsgericht zu vertreten gehabt, anstatt durch Verfügung an die Versicherte ihre Leistungspflicht über den von ihr als gerechtfertigt erachteten Betrag hinaus abzulehnen. Die Vertretung ist eine besondere KV-rechtliche Leistungskategorie, denn die versicherte Person soll im System des Tiers garant davor geschützt werden, die Folgen tragen zu müssen, wenn der Arzt tarifwidrig fakturiert, Tarifschutzbestimmungen verletzt oder eine unwirtschaftliche Leistung erbracht hat. Sonst würde ein Schutz vor zu hohen verrechneten Tarifen wegfallen, wodurch die Gefahr, dass Leistungserbringer zu hohe Taxen in Rechnung stellen, zunehmen und der Tarifschutz teilweise ausgehöhlt würde. Im System des Tiers garant ist der Krankenversicherer verpflichtet, die versicherte Person im Schiedsgerichtsverfahren gegen den Leistungserbringer zu vertreten, wenn streitig ist, ob dieser zu hohe Rechnungen gestellt hat. Der Krankenversicherer hat auf diesem Wege den Tarifschutz durchzusetzen (Urteil K 129/06 vom 29. Juni 2007 E. 4.3 und 5).
 
5.
 
Nach Art. 27 Abs. 1 ATSG sind die Versicherer verpflichtet, die Versicherten über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären. Hier war die Beschwerdegegnerin sich des ihr gesetzlich garantierten Rechts auf Vertretung vor dem Schiedsgericht durch die Beschwerdeführerin ganz offensichtlich nicht bewusst. Daher wäre es an der Beschwerdeführerin gewesen, sich der Sache anzunehmen, die Versicherte aufzuklären und deren Vertretung im Klageverfahren vor dem Schiedsgericht zu übernehmen. Dieser Sichtweise steht Art. 1 Abs. 2 lit. e KVG nicht entgegen, wonach die Bestimmungen des ATSG im Bereich "Verfahren vor dem kantonalen Schiedsgericht (Art. 89)" unanwendbar sind. Denn dieser Ausschluss will nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck nur verhindern, dass der ATSG im Schiedsgerichtsverfahren zur Anwendung gelangt, hingegen nicht, dass der Krankenversicherer die versicherte Person gegebenenfalls auf die Möglichkeit der Einleitung eines Schiedsgerichtsverfahrens und seiner Vertretung (Prozessstandschaft) aufmerksam zu machen hat.
 
6.
 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens, insbesondere auch die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde oder Klage eingetreten ist. Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte und hat sie materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufgehoben wird (BGE 128 V 89 E. 2a, 125 V 345 E. 1a S. 347, 122 V 320 E. 1 S. 322). Hier hat die Vorinstanz übersehen, dass es wegen fehlender sachlicher Zuständigkeit an einer Prozessvoraussetzung fehlte. Weil sie zu Unrecht auf die Beschwerde eingetreten ist, ist ihr Entscheid aufzuheben. Die Beschwerdeführerin wird die Beschwerdegegnerin im Leistungsstreit vor dem kantonalen Schiedsgericht zu vertreten haben.
 
7.
 
Dieses Ergebnis ist als Unterliegen der Beschwerdeführerin zu werten, auch wenn der vorinstanzliche Entscheid aufgehoben wird. Die Gerichtskosten werden daher der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat dem anwaltlich vertretenen Beigeladenen überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, als der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 14. Juni 2010 sowie der Einspracheentscheid der Beschwerdeführerin vom 15. Dezember 2008 aufgehoben werden. Die CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG wird verpflichtet, die Beschwerdegegnerin im Verfahren vor dem kantonalen Schiedsgericht gegen Dr. med. E.________ betreffend Vergütung für die Leistung vom 12. Oktober 2007 zu vertreten.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat den Beigeladenen für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, Dr. med. E.________, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. Dezember 2010
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Schmutz
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).