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Informationen zum Dokument  BGer 6B_919/2010  Materielle Begründung
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BGer 6B_919/2010 vom 22.12.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_919/2010
 
Urteil vom 22. Dezember 2010
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Gerichtsschreiber Keller.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Eric Stern,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, Bahnhofplatz 3a, 4410 Liestal,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Versuchte schwere Körperverletzung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, vom 27. Juli 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Strafgericht Basel-Landschaft verurteilte X.________ wegen mehrfacher Tätlichkeiten, mehrfachen (teilweise versuchten und teilweise geringfügigen) Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung, versuchter Nötigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs, mehrfachen Fahrens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand, mehrfacher grober Verletzung von Verkehrsregeln sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz durch Eigenkonsum zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 18 Monaten bei einer Probezeit von drei Jahren und unter Anrechnung von insgesamt 268 Tagen Untersuchungshaft sowie zu einer Busse von Fr. 300.--. Von den Vorwürfen der versuchten schweren Körperverletzung bzw. der einfachen Körperverletzung (Fall 8), der falschen Anschuldigung (Fälle 10b und 11), der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Fall 14), des versuchten Raubes (Fall 15), des mehrfachen, teilweise versuchten Verbreitens menschlicher Krankheiten (Fall 19), des Betrugs und der Erpressung (Fall 21), der mehrfachen versuchten Nötigung (Fall 22) sowie der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz durch Betäubungsmittelhandel (Fall 23) sprach es X.________ frei. Es ordnete ausserdem Bewährungshilfe an und verurteilte ihn zur Zahlung einer Zivilforderung gegenüber der C.________ AG im Betrag von Fr. 53'329.10. Weitere Zivilforderungen verwies es auf den Zivilweg.
 
B.
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft erhob gegen die Freisprüche in den Fällen 8, 10b, 15 und 19 sowie die Strafzumessung Appellation beim Kantonsgericht des Kantons Basel-Landschaft. Dieses bestätigte am 27. Juli 2010 das erstinstanzliche Urteil, sprach X.________ allerdings zusätzlich wegen versuchter schwerer Körperverletzung (Fall 8) schuldig. Es verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 21 Monaten bei einer Probezeit von drei Jahren und unter Anrechnung von insgesamt 268 Tagen Untersuchungshaft sowie zu einer Busse von Fr. 300.--
 
C.
 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt, das vorinstanzliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
D.
 
Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG kann grundsätzlich jede Rechtsverletzung geltend gemacht werden, die bei der Anwendung von materiellem Strafrecht oder Strafprozessrecht begangen wird (BGE 134 I 36 E. 1.4.3). Dies gilt auch für die Verletzung von Verfassungsrecht (Art. 95 lit. a BGG). Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist somit ausgeschlossen (Art. 113 BGG). Die mit der Beschwerde in Strafsachen erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist daher als Beschwerde in Strafsachen entgegenzunehmen.
 
2.
 
Gegenstand der Beschwerde bildet lediglich die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen versuchter schwerer Körperverletzung im Fall 8. Umstritten ist, ob er im Rahmen der Notwehrhilfe gehandelt hat. Die Vorinstanz geht hierbei von folgendem - unbestrittenen - Sachverhalt aus:
 
A.________ und B.________ hatten am 28. Mai 2006 frühmorgens um ca. 04.00 Uhr eine tätliche Auseinandersetzung in der Nähe der Turnhalle in O.________. Als A.________ auf dem am Boden liegenden B.________ kniete, diesen fixierte und schlug, verpasste ihm der Beschwerdeführer einen Fusstritt ins Gesicht. A.________ wurde ohnmächtig und erlitt einen Nasenbeinbruch, eine Zahnfraktur am Unterkiefer sowie zwei Rissquetschwunden am Hinterkopf.
 
3.
 
3.1
 
3.1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verletze das Willkürverbot (Art. 9 BV), indem sie zur Klärung des Vorsatzes seine Aussage über den Ablauf des Geschehens mit seinem tatsächlichen Willen gleichsetze.
 
In dubio pro reo sei zudem davon auszugehen, dass das Geschehen dynamisch verlaufen und ein gezielter Tritt an den Oberkörper oder Kopf nicht möglich gewesen sei. Die Vorinstanz habe nicht widerlegt, dass B.________ sich weiteren Schlägen von A.________ entziehen wollte. Dieser habe sich daher genauso heftig bewegt wie A.________, der die Schläge ausgeteilt habe. Eine Nasenbeinfraktur und Zahnverletzung wären auch bei einem mittleren oder leichten Tritt ohne weiteres möglich. Zudem sei ein Zusammenhang zwischen der Rissquetschwunde am Hinterkopf mit dem Fusstritt beweismässig nicht erstellt. Die Vorinstanz verletze hierbei das Willkürverbot sowie die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV; Beschwerde, S. 11 f.).
 
3.1.2 Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Vorinstanz verletze Bundesrecht, indem sie nicht von einem widerrechtlichen Angriff von A.________ ausgehe und eine Notwehrsituation bei B.________, dem er habe helfen wollen, verneine. Ein widerrechtlicher Angriff könne auch vorliegen, wenn der Auslöser des Konflikts vom Angegriffenen ausgegangen sei (Beschwerde, S. 13). Ebenfalls liege keine unangemessene Abwehr vor. Es sei nicht geklärt, welche Verletzungen B.________ ohne Notwehrhilfe erlitten hätte. Sich selber in die Schlägerei zu stürzen und eigene Körperverletzungen zu riskieren, sei für ihn nicht zumutbar gewesen. Eine Alarmierung von Security-Mitarbeitern hätte B.________ nicht vor weiteren Schlägen verschont. Die Vorinstanz verletze daher Art. 15 StGB (Beschwerde, S. 14). Schliesslich hätte auch bei einer Verneinung von Art. 15 StGB geprüft werden müssen, ob die Voraussetzungen von Art. 16 StGB (entschuldbare Notwehr) als Strafmilderungs- oder Ausschlussgrund erfüllt gewesen wären. Indem die Vorinstanz dies unterlassen habe, verletze sie Bundesrecht (Beschwerde, S. 15).
 
3.2
 
3.2.1 Die Vorinstanz führt aus, der Beschwerdeführer habe in der Voruntersuchung wiederholt davon gesprochen, A.________ einen Kick ins Gesicht versetzt zu haben. Seine erstmalige Aussage vor der ersten Instanz, er habe das Opfer lediglich im Bereich der Brust treffen wollen, sei als Schutzbehauptung zu qualifizieren. Als Hobbyfussballer könne er durchaus gezielt zutreten, zumal das Tatgeschehen nicht besonders dynamisch einzustufen sei. A.________ sei ohnmächtig geworden und habe gravierende Verletzungen erlitten. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer mit grosser Wucht in das Gesicht des Opfers getreten habe. Wer eine solch massive Gewalt gegen den Kopf bzw. das Gesicht eines Menschen ausübe, müsse damit rechnen oder nehme zumindest in Kauf, das Opfer schwer zu verletzen. Aufgrund der Empfindlichkeit der Kopfregion könne grundsätzlich jeder Tritt von gewisser Wucht schwere Verletzungen hervorrufen. Es sei lediglich dem Zufall zu verdanken, dass keine Augenverletzungen, Schädel-Hirnverletzungen oder sonstige dauerhaften Schädigungen eingetreten seien. Es sei daher der Versuch einer schweren Körperverletzung zu bejahen (angefochtenes Urteil, S. 6 f.).
 
3.2.2 Die Vorinstanz verneint einen Rechtfertigungsgrund im Sinne der Notwehrhilfe. Es fehle bereits am rechtswidrigen Angriff von A.________ gegenüber B.________, da dieser die tätliche Auseinandersetzung zwischen den beiden ausgelöst habe. Es fehle auch an der angemessenen Abwehr. Der Tritt ins Gesicht sei unverhältnismässig gewesen. Bei B.________ hätten lediglich die Lippen leicht geblutet, weshalb der Beschwerdeführer eine schwere Körperverletzung nicht hätte in Kauf nehmen dürfen. Zudem wären mehrere mildere Mittel zur Abwehr möglich gewesen. So hätte der Beschwerdeführer A.________ wegstossen, ihm ein Tritt ins Bein geben oder die Security zu Hilfe holen können (angefochtenes Urteil, S. 7 f.).
 
3.3 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 133 II 249 E. 1.2.2), oder wenn sie auf einer Verletzung von schweizerischem Recht im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Rüge der offensichtlich unrichtigen Feststellung des Sachverhalts (Art. 105 Abs. 2 BGG) prüft das Bundesgericht ebenfalls unter den in Art. 106 Abs. 2 BGG vorgegebenen Bedingungen.
 
3.4 Der Beschwerdeführer, der die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz anfechten will, muss substantiiert darlegen, inwiefern die Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen wäre. Andernfalls kann ein Sachverhalt, der von dem im angefochtenen Entscheid festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden. Der Beschwerdeführer kann sich nicht damit begnügen, den bestrittenen Feststellungen eigene tatsächliche Behauptungen gegenüberzustellen oder darzulegen, wie die Beweise seiner Ansicht nach zu würdigen gewesen wären. Vielmehr hat er klar und substantiiert aufzuzeigen, inwiefern die gerügten Feststellungen bzw. die Unterlassung von Feststellungen offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen. Auf eine Kritik an den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die diesen Anforderungen nicht genügt, ist nicht einzutreten (vgl. BGE 133 III 462 E. 2.4).
 
3.5 Dem Sachgericht steht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zu (BGE 134 IV 132 E. 4.2; 129 IV 6 E. 6.1). Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur ein, wenn das Sachgericht diesen missbraucht, insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche willkürlich ausser Acht lässt (vgl. BGE 132 III 209 E. 2.1). Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn der angefochtene Entscheid auf einer unhaltbaren oder widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 135 V 2 E. 1.3; 134 I 140 E. 5.4).
 
3.6 Die Rügen des Beschwerdeführers erschöpfen sich in einer appellatorischen Kritik am Urteil der Vorinstanz, die für die Begründung erheblicher und nicht zu unterdrückender Zweifel an der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung nicht geeignet ist. Dies betrifft seine Vorbringen im Zusammenhang mit der angeblich fehlenden Dynamik des Tatgeschehens und der A.________ zugefügten Verletzungen. Selbst wenn diese Verletzungen auch bei einem mittleren oder leichten Tritt möglich gewesen wären, wie vom Beschwerdeführer behauptet, erklärt dies nicht, weshalb A.________ ohnmächtig geworden ist. Hierauf ist nicht einzutreten.
 
3.7 Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, indem sie eine Notwehrsituation bei B.________ verneint. Gemäss den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen wies dieser im Zeitpunkt der inkriminierten Handlung des Beschwerdeführers lediglich leicht blutende Lippen auf. Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf, und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern die Abwehr von A.________ gegen den Angriff von B.________ widerrechtlich gewesen wäre und seinerseits eine Notwehrhandlung gerechtfertigt hätte. Die Vorinstanz hat daher zu Recht eine Notwehrhilfe-Situation des Beschwerdeführers verneint. Es kann somit offenbleiben, ob die Abwehr des Beschwerdeführers angemessen war, da er sich nicht auf den Rechtfertigungsgrund der Notwehrhilfe berufen kann.
 
3.8 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers verletzt die Vorinstanz auch kein Bundesrecht, wenn sie den Strafmilderungs- beziehungsweise Strafausschlussgrund der entschuldbaren Notwehr gemäss Art. 16 StGB nicht prüft. Diese Bestimmung kommt lediglich zum Zug, wenn eine Notwehrsituation vorliegt, was die Vorinstanz - wie vorstehend E. 3.7 ausgeführt - zutreffend verneint. Im Übrigen hält sie dem Beschwerdeführer im Rahmen der Strafzumessung die Motivation seiner Handlung, nämlich den Schutz seines Kollegen B.________, zu Gute (angefochtenes Urteil, S. 17).
 
4.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Verfahrensausgang sind die bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war. Seiner finanziellen Lage ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Dezember 2010
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Favre Keller
 
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