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Informationen zum Dokument  BGer 6B_717/2010  Materielle Begründung
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BGer 6B_717/2010 vom 13.12.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_717/2010
 
Urteil vom 13. Dezember 2010
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari
 
Gerichtsschreiberin Horber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Fürsprech Beat Widmer,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Aufschub des Strafvollzugs zu Gunsten einer ambulanten Massnahme,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 10. Juni 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Bezirksgericht Kulm sprach X.________ mit Entscheid vom 2. März 2010 der mehrfachen sexuellen Handlung mit einem Kind sowie der mehrfachen Pornographie schuldig. Es verurteilte ihn unter Anrechnung der Untersuchungshaft von einem Tag zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten. Die Strafe schob es zugunsten einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung auf.
 
B.
 
Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau mit Urteil vom 10. Juni 2010 gut und sprach die ambulante Massnahme vollzugsbegleitend aus.
 
C.
 
Gegen dieses Urteil erhebt X.________ Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 10. Juni 2010 sei aufzuheben und der Entscheid des Bezirksgerichts Kulm vom 2. März 2010 sei zu bestätigen. Zudem sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
 
D.
 
Die Vorinstanz sowie die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten auf Vernehmlassungen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe ihm zu Unrecht den Strafaufschub gemäss Art. 63 Abs. 2 StGB verwehrt. Die Erfolgsaussichten einer psychotherapeutischen Massnahme seien im gewohnten Umfeld grösser als bei einer Therapie im Strafvollzug. Dadurch verliere er seine Arbeitsstelle sowie das soziale Netz und sei insbesondere auch die Beziehung zu seiner Partnerin gefährdet. Hierbei handle es sich um Faktoren, die ihm Stabilität geben und die Chancen auf eine Resozialisierung steigern würden. Aus dem psychiatrischen Gutachten vom 19. Oktober 2009 gehe zudem klar hervor, dass die Gutachter die Anordnung einer ambulanten Massnahme mit Gewährung des Strafaufschubs empfehlen.
 
2. Die Vorinstanz zieht in Erwägung, es seien keine Gründe ersichtlich, die einen Strafaufschub im Hinblick auf die psychotherapeutische Behandlung rechtfertigen würden. Aus dem psychiatrischen Gutachten vom 19. Oktober 2009 lasse sich nichts anderes schlussfolgern, als dass der Therapie auch bei gleichzeitigem Strafvollzug Rechnung getragen werden könne. Allgemein destabilisierende Folgen des Strafvollzugs - wie Verlust des beruflichen und sozialen Umfelds sowie möglicher Abbruch der Beziehung zum jetzigen Therapeuten - würden zur Begründung eines Strafaufschubs nicht genügen.
 
3.
 
3.1 Gemäss Art. 63 Abs. 2 StGB kann das Gericht den Vollzug einer zugleich ausgesprochenen unbedingten Freiheitsstrafe [...] zu Gunsten einer ambulanten Behandlung aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen.
 
3.2 Gemäss der Praxis des Bundesgerichts gilt der Grundsatz, dass die Strafe vollstreckt und die ambulante Massnahme gleichzeitig durchgeführt werden. Es ist vom Ausnahmecharakter des Strafaufschubs auszugehen. Ein Aufschub muss sich aus Gründen der Heilbehandlung hinreichend rechtfertigen. Zur Beurteilung dieser Frage ist ein psychiatrisches Gutachten einzuholen. Ein Aufschub ist anzuordnen, wenn die Aussicht auf erfolgreiche Behandlung durch den Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde. Die Therapie geht vor, falls eine sofortige Behandlung gute Resozialisierungschancen bietet, welche durch den Strafvollzug klarerweise verhindert oder vermindert würden. Der Sachrichter verfügt über ein weites Beurteilungsermessen, in welches das Bundesgericht nur bei Ermessensüberschreitung oder -missbrauch eingreifen kann (vgl. zum Ganzen BGE 129 IV 161 E. 4.1 - 4.4; Urteil 6B_724/2008 vom 19. März 2009 E. 3.2.3; je mit Hinweisen).
 
3.3 Gemäss psychiatrischem Gutachten der Psychiatrischen Dienste Aargau vom 19. Oktober 2009 liegt beim Beschwerdeführer eine Pädophilie mit heterosexueller Ausrichtung vor. Aus Sicht der Gutachter stehen die begangenen Straftaten in eindeutigem Zusammenhang mit der Störung der sexuellen Präferenz, und es bestehe die Gefahr neuerlicher, ähnlich gelagerter Delinquenz. Zur Therapierung der Pädophilie sei die Anordnung einer ambulanten Behandlung im Sinne von Art. 63 StGB geboten. Eine stationäre Behandlung erachten die Gutachter als nicht zweckmässig. Hingegen bejahen sie die Frage, ob der Art der Behandlung auch bei gleichzeitigem oder vorherigem Strafvollzug Rechnung getragen werden könne (vgl. vorinstanzliche Akten, act. 208 ff.).
 
3.4 Die vorinstanzlichen Erwägungen sind überzeugend, stehen in Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und stützen sich auf die Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen. Ihr Ermessen überschreitet oder missbraucht die Vorinstanz in keiner Weise. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, im Gutachten werde ein Strafaufschub empfohlen, entspricht nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Vielmehr bejahen die Gutachter ausdrücklich die Möglichkeit eines gleichzeitigen Vollzugs von Strafe und ambulanter Massnahme. Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was dieses Ergebnis in Zweifel ziehen würde. Seine Einwände, durch den Vollzug der Strafe würde er seine Arbeitsstelle sowie das soziale Netz verlieren und insbesondere auch die Beziehung zu seiner Partnerin gefährden, mögen zwar zutreffend sein. Diese allgemeinen destabilisierenden Folgen des Strafvollzugs reichen jedoch nicht zur Begründung eines Strafaufschubs (Urteil 6B_724/2008 vom 19. März 2009 E. 3.2.4 mit Hinweis). Ein solcher kann nicht schon deshalb angezeigt sein, weil sich dadurch die Erfolgsaussichten einer ambulanten Behandlung verbessern würden (BGE 129 IV 161 E. 4.2). Vielmehr kommt er nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. E. 3.2) nur in Betracht, wenn der Strafvollzug den Erfolg der Therapie vereiteln oder zumindest erheblich beeinträchtigen würde. Dafür liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor.
 
4. Damit ist die Beschwerde abzuweisen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist ebenfalls abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Lage ist bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 13. Dezember 2010
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Favre Horber
 
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