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Informationen zum Dokument  BGer 8C_536/2010  Materielle Begründung
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BGer 8C_536/2010 vom 22.10.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_536/2010
 
Urteil vom 22. Oktober 2010
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiber Kathriner.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
T.________, vertreten durch Rechtsanwalt Bruno Bauer,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Invalidenrente, Invaliden-einkommen),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 2. Juni 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a
 
Der 1951 geborene T.________ war als Giesser der Firma X.________ AG bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Unfall und Berufskrankheiten versichert. Nachdem er berufsbedingte Beschwerden an den Händen geltend gemacht hatte, erliess die SUVA am 20. November 1997 eine Nichteignungsverfügung für Arbeiten mit Kontakt zu Mineralölen. Mit Verfügung vom 20. September 2005 und Einspracheentscheid vom 8. November 2006 verneinte die SUVA einen Anspruch auf Invalidenrente und Integritätsentschädigung. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hob mit Entscheid vom 27. November 2007 den Einspracheentscheid in Bezug auf die Invaliditätsleistungen auf und wies die Sache zu ergänzenden Abklärungen des Valideneinkommens an die SUVA zurück.
 
A.b
 
Nach Vornahme weiterer Abklärungen sprach die SUVA T.________ mit Verfügung vom 26. September 2008 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 11 % zu. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 9. April 2009 fest.
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 2. Juni 2010 gut und erhöhte den der Rente zugrunde liegenden Invaliditätsgrad auf 20 %.
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt die SUVA, der Entscheid des kantonalen Gerichts sei aufzuheben.
 
T.________ lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Das kantonale Gericht ermittelte mittels Einkommensvergleich einen Invaliditätsgrad von 20 %. Das Invalideneinkommen berechnete es auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2004 des Bundesamtes für Statistik (LSE 2004). Dabei nahm es - anders als die Beschwerdeführerin - einen Abzug vom Tabellenlohn von 10 % gemäss BGE 126 V 75 vor.
 
2.
 
Die Beschwerdeführerin rügt, der Abzug vom Tabellenlohn gemäss BGE 126 V 75 sei nicht gerechtfertigt, weshalb der Invaliditätsgrad lediglich 11 % betrage.
 
2.1 Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323) und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80). Der Abzug ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen. Er darf 25% nicht übersteigen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80).
 
2.2 Ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage dar (Urteil 8C_652/2008 vom 8. Mai 2009 E. 4 in fine, nicht publiziert in: BGE 135 V 297). Die Frage nach der Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Abzuges vom Tabellenlohn dagegen ist eine Ermessensfrage. Deren Beantwortung ist letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung (vgl. zu diesen Rechtsbegriffen: BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).
 
2.3 Im massgeblichen Gutachten der Dermatologischen Universitäts-Klinik und Poliklinik Y.________ vom 8. April 2005 wurde dem Beschwerdegegner eine Arbeitsfähigkeit von 100 % bescheinigt, soweit Kontakte zu Substanzen mit nachgewiesener Sensibilisierung sowie Feuchtkontakte oder andere Kontakte mit Potenzial zur chronischen Irritation vermieden werden. Empfohlen wurde eine Arbeit im trockenen Milieu, wie z.B. Überwachungsarbeiten.
 
Soweit das kantonale Gericht im Wesentlichen von diesem Zumutbarkeitsprofil ausging, ist dies nicht zu beanstanden. Zu Recht berücksichtigte es die zusätzlichen gesundheitlichen Probleme des Beschwerdegegners, insbesondere die Dermatitis artefacta, nicht. Diese stellen keine Berufskrankheiten dar.
 
2.4 Die Vorinstanz begründet ihren Abzug vom Tabellenlohn in der Höhe von 10 % gemäss BGE 126 V 75 mit dem Argument, dem Beschwerdegegner seien lediglich noch Tätigkeiten mit den medizinisch bescheinigten Einschränkungen, das heisse in trockenem Milieu und mit eingeschränktem Metallkontakt, zumutbar. Arbeitsplätze mit Wasserkontakt kämen im gesamten Industrie- und Dienstleistungssektor vor. Möglicherweise habe der Beschwerdegegner einen tieferen Lohn in Kauf zu nehmen, weil ihm bestimmte Arbeiten in einem Betrieb, z.B. Reinigungsarbeiten, nicht zugewiesen werden könnten. Es rechtfertige sich daher ein Abzug von 10 %. Das Vorliegen weiterer Merkmale wie Alter, Dienstjahre und Nationalität/Aufenthaltskategorie verneinte das kantonale Gericht hingegen.
 
2.5 Der Argumentation des kantonalen Gerichts kann nicht gefolgt werden. Soweit kein Kontakt mit den von den Fachärzten bescheinigten Substanzen vorliegt, bestehen keinerlei Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdegegners. Ein Abzug gemäss BGE 126 V 75 lässt sich nicht schon damit begründen, dass der in Betracht fallende Arbeitsmarkt gesundheitsbedingt eingeschränkt ist. Vielmehr rechtfertigt sich ein Abzug nur, wenn der Versicherte auch im Rahmen einer von den Ärzten als geeignet erachteten Tätigkeit in der Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist und deshalb mit einem reduzierten Lohn zu rechnen hat (vgl. BGE 126 V 75 E. 5a/bb S. 78). Entgegen der Annahme der Vorinstanz bietet der massgebende ausgeglichene Arbeitsmarkt (BGE 110 V 273 E. 4b S. 276 und seitherige Entscheide) dem Beschwerdegegner hinreichend entsprechende Stellen an, bei denen er nicht mit Wasser in Kontakt kommt, wie etwa bei den von den Ärzten vorgeschlagenen Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten.
 
Nichts anderes lässt sich auch aus dem Urteil 8C_350/2009 vom 22. September 2009 ableiten, auf welches die Vorinstanz hinweist. In diesem Entscheid wurde die Zulässigkeit eines von der Vorinstanz gewährten Abzugs gemäss BGE 126 V 75 wegen der bereits vorgenommenen Parallelisierung der Vergleichseinkommen offen gelassen (Urteil 8C_350/2009 vom 22. September 2009 E. 2.3 in fine). Zudem lag dort eine zusätzliche Einschränkung der mechanischen Belastbarkeit der versicherten Person vor.
 
Die Beschwerde erweist sich damit als begründet und ist gutzuheissen. Ohne Abzug vom Tabellenlohn steht dem Beschwerdegegner eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 11 % zu.
 
3.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Rechtsvertretung) kann entsprochen werden, da die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 2. Juni 2010 aufgehoben.
 
2.
 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Rechtsanwalt Bruno Bauer wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdegegners bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Entschädigungsfolgen des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
 
6.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. Oktober 2010
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Ursprung Kathriner
 
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