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Informationen zum Dokument  BGer 8C_526/2010  Materielle Begründung
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BGer 8C_526/2010 vom 15.09.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_526/2010
 
Urteil vom 15. September 2010
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.________, vertreten durch Rechtsanwalt Mauro Lardi,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Ver-sicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 28. Mai 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1978 geborene B.________ schloss am 30. Juni 1997 ihre Lehre als Bahnbetriebsangestellte erfolgreich ab und blieb bis 31. Juli 1999 im ehemaligen Lehrbetrieb tätig. Danach nahm sie verschiedene Gelegenheitsjobs an. Am 21. September 2004 meldete sie sich zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Nach Abklärung der gesundheitlichen und erwerblichen Situation verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit je einer Verfügung vom 2. Dezember 2005 einen Rentenanspruch unter Hinweis auf einen Invaliditätsgrad von 30 % und einen Anspruch auf berufliche Massnahmen. Diese Verwaltungsakte erwuchsen unangefochten in Rechtskraft.
 
Am 10. November 2006 ersuchte B.________ die IV-Stelle um "Neubeurteilung" der "Rentensituation" und verwies auf veränderte Umstände nach zwei Arbeitsversuchen, welche sie in eine Überforderung gebracht hätten. Mit Verfügung vom 21. Juni 2007 trat die IV-Stelle auf die neue Anmeldung nicht ein. In Gutheissung der hiergegen geführten Beschwerde der B.________ hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen diesen Verwaltungsakt auf und wies die Angelegenheit zur materiellen Behandlung der Neuanmeldung an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 13. Februar 2008). Nach zusätzlichen Abklärungen, insbesondere nach Einholung eines neurologischen und psychiatrischen Gutachtens des Dr. med. A.________, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 30. September 2008, und nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle einen Rentenanspruch wiederum ab und gab zur Begründung an, es bestehe weiterhin ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 30 % (Verfügung vom 6. April 2009).
 
B.
 
In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde, mit welcher eine halbe Invalidenrente rückwirkend ab 1. November 2006 beantragt wurde, hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Verfügung vom 6. April 2009 auf und sprach B.________ eine Viertelsrente zu, wobei es die Angelegenheit zur Festsetzung von Rentenbeginn und -höhe an die IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 28. Mai 2010).
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid vom 28. Mai 2010 sei aufzuheben.
 
B.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, während das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) deren Gutheissung beantragt und ferner darum ersucht, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Gemäss Art. 105 Abs. 1 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).
 
Die Feststellung des Gesundheitsschadens, d.h. die Befunderhebung und die gestützt darauf gestellte Diagnose betreffen ebenso eine Tatfrage wie die aufgrund von medizinischen Untersuchungen gerichtlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Tatfrage ist weiter, in welchem Umfang eine versicherte Person vom funktionellen Leistungsvermögen und vom Vorhandensein bzw. von der Verfügbarkeit psychischer Ressourcen her eine (Rest-)Arbeitsfähigkeit aufweist und ihr die Ausübung entsprechend profilierter Tätigkeiten zumutbar ist, es sei denn, andere als medizinische Gründe stünden der Bejahung der Zumutbarkeit im Einzelfall in invalidenversicherungsrechtlich erheblicher Weise entgegen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Analoges gilt für die Frage, ob sich eine Arbeitsunfähigkeit revisionsrechtlich erheblich verändert hat (Art. 17 ATSG; Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV; Urteil 9C_878/2007 vom 4. Juli 2008 E. 2.2 mit Hinweis). Die konkrete Beweiswürdigung stellt eine Tatfrage dar (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_270/2008 vom 12. August 2008 E. 2.2).
 
1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
 
2.
 
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, so wird eine neue Anmeldung nach Art. 87 Abs. 4 IVV nur geprüft, wenn die Voraussetzungen gemäss Abs. 3 derselben Bestimmung erfüllt sind. Danach ist im Gesuch glaubhaft zu machen, dass sich der Grad der Invalidität in anspruchserheblicher Weise geändert hat. Tritt die Verwaltung auf die Neuanmeldung ein, so klärt sie die Sache materiell ab und vergewissert sich, ob die glaubhaft gemachte Veränderung des Invaliditätsgrades auch tatsächlich eingetreten ist; sie geht demnach in analoger Weise vor wie bei einem Revisionsfall nach Art. 17 ATSG (vgl. dazu BGE 130 V 71). Stellt sie fest, dass der Invaliditätsgrad seit Erlass der früheren rechtskräftigen Verfügung keine Veränderung erfahren hat, so weist sie das neue Gesuch ab. Andernfalls prüft sie zunächst noch, ob die festgestellte Veränderung genügt, um nunmehr eine anspruchsbegründende Invalidität zu bejahen, und beschliesst hernach über den Anspruch. Im Beschwerdefall obliegt die gleiche materielle Prüfungspflicht auch dem Gericht (BGE 117 V 198).
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht hatte die Nichteintretensverfügung der IV-Stelle vom 21. Juni 2007 aufgehoben mit der Begründung, die Versicherte habe am 10. November 2006 eine Veränderung ihres Gesundheitszustandes glaubhaft gemacht, weshalb die Verwaltung nun im Rahmen der Rückweisung die neue Anmeldung materiell behandeln müsse (Entscheid vom 13. Februar 2008). Im Rahmen dieser Rückweisung veranlasste die IV-Stelle zusätzliche Abklärungen zum Gesundheitszustand. Mit Verfügung vom 6. April 2009 lehnte sie einen Rentenanspruch ab, indem sie "weiter" von einer Arbeitsunfähigkeit in der Höhe von 30 % und von einem identischen Invaliditätsgrad von 30 % ausging. Faktisch verneinte sie somit eine zwischenzeitliche Veränderung des Invaliditätsgrades, ohne allerdings ausdrücklich auf die erste rentenablehnende Verfügung und die damaligen Verhältnisse Bezug zu nehmen. Auch das kantonale Gericht äussert sich im vorliegend angefochtenen Entscheid vom 28. Mai 2010 nicht zu revisionsrechtlichen Gesichtspunkten, obwohl es die Sache am 13. Februar 2008 zur Prüfung der Frage, ob die glaubhaft gemachte Veränderung des Invaliditätsgrades auch tatsächlich eingetreten sei, an die IV-Stelle zurückgewiesen hatte.
 
3.2 Dr. med. A.________ gelangte in seiner Abklärung vom 27. Januar 2005, vorgenommen im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit als Mitarbeiter des Regionalen Ärztlichen Dienstes der Invalidenversicherung (RAD), zum Ergebnis, der Versicherten sei sowohl im erlernten Beruf als Betriebsangestellte als auch in den zuletzt ausgeübten Hilfstätigkeiten ein Vollpensum mit einer durchschnittlichen Leistungsminderung bis zu 30 % zumutbar (Bericht vom 28. Januar 2005). Darauf stützte sich die IV-Stelle in ihrer ersten rentenablehnenden Verfügung vom 2. Dezember 2005. Im Gutachten vom 30. September 2008 stellte Dr. med. A.________ fest, es habe sich im chronifizierten Verlauf insofern eine geringgradige Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes ergeben, als sich die dysfunktionalen Selbstkonzepte weitere drei Jahre hätten verfestigen können. Verbessert habe sich seither die affektive Störung. In einer angepassten Beschäftigung resultiere eine Arbeitsfähigkeit von 70 % (bei höherem Zeitpensum und reduzierter Leistung) und als Angestellte im Rangierbetrieb eine solche von 65 %. Inhaltlich gehen sowohl IV-Stelle als auch kantonales Gericht gestützt auf diese fachärztlichen Angaben übereinstimmend davon aus, dass die Leistungsfähigkeit in einer ganztägigen, leidensadaptierten Beschäftigung verglichen mit der Situation zur Zeit des Erlasses der Verfügung vom 2. Dezember 2005 unverändert 70 % betrage.
 
3.3 Die von der Beschwerdegegnerin dagegen erhobenen Einwände, wonach die verminderte Intelligenz erst in der zweiten Abklärung des Dr. med. A.________ berücksichtigt worden sei und der Facharzt überdies eine zwischenzeitliche Verschlimmerung des psychischen Gesundheitszustandes bestätigt habe, führen zu keinem anderen Ergebnis. Dr. med. A.________ geht zwar in der Expertise vom 30. September 2008 von einer (geringgradigen) Verschlechterung im Sinne einer weiteren Chronifizierung, gleichzeitig aber auch von einer Verbesserung bezüglich der affektiven Störung aus. Die niedrige Intelligenz wirkt sich zusammen mit den gesundheitlichen Beschwerden in einer leidensadaptierten Beschäftigung nicht zusätzlich aus, so dass der Experte gesamthaft nach wie vor eine ganztägige Beschäftigung mit einer Leistungsminderung von 30 % als zumutbar erachtet. Die - implizite - Tatsachenfeststellung des kantonalen Gerichts, wonach hinsichtlich Arbeitsfähigkeit seit der rentenverneinenden Verfügung vom 2. Dezember 2005 keine erheblichen Veränderungen eingetreten seien, ist im letztinstanzlichen Prozess grundsätzlich verbindlich. Im Rahmen der eingeschränkten Sachverhaltskontrolle (Art. 97 Abs. 1 BGG) ist es entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin nicht Aufgabe des Bundesgerichts, die schon im vorinstanzlichen Verfahren im Recht gelegenen medizinischen Berichte neu zu würdigen und die rechtsfehlerfreie Sachverhaltsfeststellung des kantonalen Gerichts hinsichtlich der medizinisch begründeten Einschränkung des Leistungsvermögens und des Ausmasses der trotz gesundheitlicher Einschränkungen verbleibenden Arbeitsfähigkeit zu korrigieren (E. 1.1 hiervor).
 
3.4 Da es sich um ein Neuanmeldungsverfahren nach rechtskräftiger Rentenablehnung handelt und sich im Rahmen der Abklärungen eine erhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im massgebenden Vergleichszeitraum weder in gesundheitlicher noch in erwerblicher Hinsicht ergeben hat, muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass nach wie vor kein Anspruch auf eine Invalidenrente besteht.
 
4.
 
Das kantonale Gericht führt allerdings einen Einkommensvergleich durch und korrigiert die Invaliditätsbemessung der Verwaltung, indem es beim Invalideneinkommen einen leidensbedingten Abzug von 15 % berücksichtigt. Auf dieser Basis ermittelt es einen Invaliditätsgrad von 40 % und spricht der Beschwerdegegnerin eine Viertelsrente zu. Weder die IV-Stelle noch das kantonale Gericht hatten allerdings mit Blick auf das Fehlen erheblicher Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen (E. 3 hiervor) Anlass zur Durchführung eines neuen Einkommensvergleichs. Es hat demgemäss offen zu bleiben, ob und allenfalls in welcher Höhe sich ein Leidensabzug rechtfertigen würde (vgl. im Übrigen Urteil 9C_94/2010 vom 26. Mai 2010 E. 3.2).
 
5.
 
Das Gesuch des BSV um aufschiebende Wirkung der Beschwerde (Art. 103 BGG) wird mit dem Entscheid in der Hauptsache gegenstandslos, womit sich Weiterungen zur Frage, ob das BSV rechtswirksam um aufschiebende Wirkung ersuchen kann, erübrigen.
 
6.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten von der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 28. Mai 2010 aufgehoben.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. September 2010
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Ursprung Berger Götz
 
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