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Informationen zum Dokument  BGer 8C_438/2010  Materielle Begründung
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BGer 8C_438/2010 vom 30.08.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_438/2010
 
Urteil vom 30. August 2010
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Frésard, Maillard,
 
Gerichtsschreiber Grunder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Ü.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 8. April 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1965 geborene Ü.________ meldete sich am 15. März 2007 zum Bezug einer Rente der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau klärte den Gesundheitszustand ab, holte einen Auszug aus dem Individuellen Konto ein und sprach dem Versicherten medizinische (Rumpforthese) und berufliche Massnahmen (Berufsberatung; Arbeitsvermittlung) zu. Im Vorbescheidverfahren stellte sie die Ablehnung des Rentenbegehrens in Aussicht, woran sie nach Beizug weiterer ärztlicher Auskünfte mit Verfügung vom 27. Februar 2009 festhielt.
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher Ü.________ beantragen liess, ihm seien die gesetzlich geschuldeten Leistungen zuzusprechen, eventualiter sei der Fall zur Vornahme weiterer medizinischer Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 8. April 2010).
 
C.
 
Mit Beschwerde lässt Ü.________ das Rechtsbegehren stellen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses nach erfolgter rheumatologischer und eventuell neurologischer Reevaluation über die Beschwerde neu entscheide. Ferner wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist in erster Linie, ob die Vorinstanz den Gesundheitsschaden und die Arbeitsunfähigkeit als wesentliche Voraussetzungen für die Invaliditätsbemessung zutreffend beurteilt hat.
 
2.1 Das kantonale Gericht stellte fest, die medizinischen Berichte - in chronologischer Folge gelesen - zeigten, dass die körperlich belastende Arbeit als Maschinenschlosser nicht mehr zumutbar war, hingegen eine leichte, wechselbelastende Tätigkeit ab Ende Oktober 2007 vollzeitlich hätte ausgeübt werden können. Hieran änderten das chirurgisch mittels Diskektomie angegangene radikuläre Reizsyndrom auf Höhe des Lendenwirbelkörpers L5, wie auch die vermutete Reizung im Bereich des Halswirbelkörpers C5 nichts. Von weiteren Abklärungen waren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Dies galt insbesondere auch für die von der Hausärztin erwähnte depressive Reaktion, die unbestritten allein im Zusammenhang mit der schweren psychosozialen Belastungssituation stand.
 
2.2 Die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen beruhen auf einer sorgfältigen und inhaltsbezogenen Beweiswürdigung der Akten. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, ist nicht stichhaltig. Die ihn untersuchenden Ärzte des Spitals X.________ empfahlen gemäss Bericht vom 3. Juli 2008 zwar eine Reevaluation sowohl des chronischen lumbospondylogenen als auch cervicobrachialen Syndroms nach drei Monaten, die nicht durchgeführt wurde. Sie nahmen indessen prognostisch weiterhin eine volle Arbeitsfähigkeit in einer leichten und wechselbelastenden Erwerbstätigkeit an und hielten eine Belastungssteigerung für möglich. Damit bestätigten sie implizit, dass weitere medizinische Abklärungen rein diagnostischen und darauf beruhenden therapeutischen Zwecken dienen würden. Dem widersprach die Hausärztin Frau Dr. med. Z.________, FMH Allgemeine Medizin, gemäss Berichten vom 23. Dezember 2008 und 22. Januar 2009 nicht; vielmehr hielt sie fest, dass der Patient weiterhin für eine leichte und wechselbelastende Tätigkeit arbeitsfähig war und diesbezüglich keine ergänzende medizinische Abklärungen angezeigt waren. Diese Aussage betraf auch die von dieser Ärztin erwähnte "depressive Reaktion bei multiplen psychosozialen Problemen", was in Übereinstimmung mit dem Bericht des Spitals X.________ vom 3. Juli 2008 stand, wonach die Episode einer schweren psychosozialen Belastungssituation aus medizinischer Sicht keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit zur Folge hatte. Insgesamt kann daher entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers von einer den Anspruch aufs rechtliche Gehör verletzenden Beweiswürdigung der Vorinstanz nicht die Rede sein.
 
3.
 
Zu prüfen bleibt die Invaliditätsbemessung.
 
3.1
 
3.1.1 Nach den vorinstanzlichen Erwägungen sind die Vergleichseinkommen gestützt auf die Schweizerische Lohnstrukurerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE), Tabelle TA1, Anforderungsniveau 4, Total Männer für das Jahr 2006 festzulegen. Hinsichtlich des Invalidenlohnes sei ein leidensbedingter Abzug von 10 % gerechtfertigt. Damit ergebe sich ein Invaliditätsgrad von 10 %, weshalb die IV-Stelle zu Recht den geltend gemachten Rentenanspruch verneint habe.
 
3.1.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, aufgrund seiner Ausbildung als gelernter Maschinenschlosser und Dreher sowie seines beruflichen Werdeganges sei davon auszugehen, dass er ohne Gesundheitsschaden einen Lohn in Höhe von Fr. 80'988.- gemäss LSE 2006, Tabelle TA1, Metallbe- und -verarbeitung, Anforderungsniveau 2, Männer erzielen würde.
 
3.2 Welche hypothetischen Erwerbseinkommen im Rahmen des Einkommensvergleichs nach Art. 16 ATSG miteinander in Beziehung zu setzen sind, ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei zu prüfen hat, dies analog zur Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind und welches die massgebende Tabelle ist (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399 E 3.2.1 und Urteil 9C_189/2008 vom 19. August 2008 E. 4.1 [publ. in: SVR 2009 IV Nr. 6 S. 11]). Das Gesagte gilt namentlich für die Wahl der massgeblichen Stufe (Anforderungsniveau 1 + 2, 3 oder 4) beim gestützt auf die LSE ermittelten statistischen Valideneinkommen (Urteil I 732/06 vom 2. Mai 2007 E. 4.2.2 [publ. in: SVR 2008 IV Nr. 4 S. 9]).
 
3.3
 
3.3.1 Auf Erfahrungs- und Durchschnittswerte darf bei der Ermittlung des hypothetischen Valideneinkommens nur unter Mitberücksichtigung der für die Entlöhnung im Einzelfall gegebenenfalls relevanten persönlichen und beruflichen Faktoren abgestellt werden (Urteil I 97/00 vom 29. August 2002 E. 1.2; ULRICH MEYER-BLASER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 2010, 2. Aufl., S. 302 und PETER OMLIN, Die Invalidität in der obligatorischen Unfallversicherung, Diss. Freiburg 1995, S. 180). Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Vorinstanz diesen Grundsatz verletzt hat. Ihre aus dem Auszug aus dem Individuellen Konto gezogene Schlussfolgerung, dass der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor Eintritt des Gesundheitsschadens im Jahre 2006 insgesamt nicht einmal drei Jahre im gelernten Beruf gearbeitet hat, stellt selbst in Berücksichtigung der letztinstanzlich geltend gemachten "3,25 Jahre (39 Monate)" sowie der jeweils dazwischen liegenden Arbeitslosigkeit keine offensichtlich unrichtige oder unvollständige Sachverhaltsfeststellung dar. Der Auszug aus dem Individuellen Konto sowie die Ausführungen in der Beschwerde zeigen, dass der Versicherte in höchst unterschiedlichen Erwerbszweigen tätig war (Gastgewerbe; Baubranche; Metallindustrie) und dabei zu keinem Zeitpunkt einen auch nur annähernd dem Anforderungsniveau 3 oder gar 2 der LSE 2006, wie geltend gemacht wird, entsprechenden Verdienst erzielte. Daher ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz das bei Eintreten des Gesundheitsschadens im Jahre 2006 prospektiv festzustellende hypothetische Valideneinkommen gestützt auf das Total der Tabellenlöhne der LSE im Anforderungsniveau 4 bestimmt hat.
 
3.3.2 Die vorinstanzliche Bestimmung des hypothetischen Invalidenlohnes wird zu Recht nicht in Frage gestellt. Der kantonale Entscheid ist daher zu bestätigen.
 
4.
 
Die Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) sind insgesamt erfüllt, weshalb dem entsprechenden Gesuch stattzugegeben ist. Der Beschwerdeführer ist indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG hinzuweisen, wonach die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie dazu später in der Lage ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Rechtsanwalt Dominik Frey, Baden, wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. August 2010
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Ursprung Grunder
 
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