VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_640/2009  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_640/2009 vom 15.01.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_640/2009
 
Urteil vom 15. Januar 2010
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.
 
Parteien
 
D.________, vertreten durch Beratungsstelle für Ausländer,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 19. Juni 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1953 geborene D.________ kam 1978 als Saisonier in die Schweiz und war seit 1. November 1991 als Hilfsmetzger bei der Firma J.________ AG tätig. Am 20. November 2004 meldete er sich unter Hinweis auf einen am 25. September 2004 erlittenen Verkehrsunfall, bei welchem er sich eine untere und obere Schambeinastfraktur links, eine Längsfraktur des Sacrum links bei Verdacht auf Rippenfraktur 10. Rippe rechts zugezogen hatte, bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht sowie dem Beizug der Unfallakten der SUVA ermittelte die IV-Stelle des Kantons Zürich einen Invaliditätsgrad von 17 % und stellte mit Vorbescheiden vom 2. und 3. Juli 2007 die Abweisung des Anspruchs auf berufliche Massnahmen und auf eine Rente in Aussicht, was sie nach Eingang einer Stellungnahme des Versicherten, mit welcher er einen Bericht des Dr. med. H.________ vom 15. März 2007 einreichen liess, am 13. (betreffend Rente) und 14. September 2007 (betreffend berufliche Massnahmen) verfügte.
 
B.
 
Die gegen die Rentenverfügung erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 19. Juni 2009 ab.
 
C.
 
D.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei die IV-Stelle zu verpflichten, eine polydisziplinäre Untersuchung durchzuführen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, wogegen sich das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht hat vernehmen lassen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; ohne Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG und Art. 105 Abs. 3 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht (Art. 107 Abs. 1 BGG) nur zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Hiezu gehört insbesondere auch die unvollständige (gerichtliche) Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteile 9C_534/2007 vom 27. Mai 2008, E. 1 mit Hinweis auf Ulrich Meyer, N 58-61 zu Art. 105, in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008; Seiler/von Werdt/ Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007, N 24 zu Art. 97).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung; vgl. jetzt Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie die Invaliditätsbemessung nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG, ab 1. Januar 2004 bis Ende 2007 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348 f., 128 V 29 E. 1 S. 30 f.) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zum Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten und zur Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.; 122 V 157 E. 1c S. 160 ff., je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400). Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch des Versicherten. Dabei steht insbesondere in Frage, ob der Sachverhalt zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Versicherten genügend abgeklärt ist.
 
3.1 Die IV-Stelle stützte sich bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in erster Linie auf die Stellungnahme ihres RAD-Arztes vom 14. September 2005, welcher die 100%ige Arbeitsfähigkeit in einer leichten, sitzenden Tätigkeit aus dem Austrittsbericht der Klinik B.________ vom 21. Juni 2005 übernahm. Danach bestand gestützt auf die Diagnosen einer unteren und oberen Schambeinastfraktur links, einer Längsfraktur des Sacrum links mit konservativer Behandlung, eines Verdachts auf Fraktur 10. Rippe links, einer vorbestehenden Coxarthrose beidseits sowie eines aktuell pathologischen Gangbildes bei Pseudoarthrose oberer Schambeinast-Fraktur links, leichter linksbetonter Coxarthrose, Dekonditionierung und Schwäche bei chronischem Schmerzzustand und Vitiligo eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % in der angestammten Tätigkeit ab 9. Juni 2005. Bei operativen / medizinischen Konsequenzen nach orthopädischem Konsil liege weiterhin eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % vor, ansonsten bestehe Arbeitsfähigkeit im Rahmen des Zumutbaren: wechselbelastende, sitzende Tätigkeiten ohne Zwangshaltung für die linke Hüfte.
 
Der Beschwerdeführer rügt erneut eine ungenügende Sachverhaltsabklärung sowie sinngemäss eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes. Er bringt vor, die IV-Stelle habe sich vor allem auf die Berichte der SUVA abgestützt, den Bericht des Dr. med. O.________, Klinik A.________, vom 2. August 2005 übergangen, in welchem festgestellt wurde, dass ihm früher oder später ein künstliches Hüftgelenk implantiert werden müsse, und zudem die Berichte des Dr. med. H.________ zu wenig berücksichtigt.
 
3.2 Die vorinstanzlichen Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit betreffen grundsätzlich eine Tatfrage, welche bloss unter dem eingeschränkten Blickwinkel von Art. 97 Abs. 1 BGG zu prüfen ist (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen beschlägt die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln eine Rechtsfrage (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil 8C_74/2008 vom 22. August 2008, E. 2.3).
 
3.3 Dr. med. H.________, Zürich, Spezialarzt FMH für Chirurgie, Wirbelsäulenleiden, Schleudertrauma und orthopädische Traumatologie, führte in seinem Bericht vom 15. März 2007 mit Verweis auf die beim Autounfall erlittenen Verletzungen unter anderem aus, die neurologischen Ausfälle mit Gefühlsstörungen der linken Extremitäten sowie die Schwäche der linken Hand deuteten auf eine Läsion des Cervikalmarkes hin. Die MRI-Untersuchung der HWS (letzte Untersuchung 19. Februar 2007) zeige eine leichtgradige bis mittelgradige Spinalkanalstenose am ausgeprägtesten auf Höhe C3/C4 und C4/C5 mit Zeichen einer Myelopathie. Die Abklärungsuntersuchungen der LWS zeigten degenerative Veränderungen der LWS mit Diskopathie L5/S1 sowie einer Ventrolisthesis L5. Auf Grund der invalidisierenden Beschwerden mit neurologischen Ausfällen als auch der neuropsychologischen Beschwerden mit stark erhöhter Ermüdbarkeit, Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche, verminderter Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit könne dem Versicherten aus physischen und psychischen Gründen zur Zeit und bis auf Weiteres keine Tätigkeit zugemutet werden.
 
Die Vorinstanz ging davon aus, die sich zur Frage der Arbeitsfähigkeit äussernden Ärzte stimmten im Wesentlichen darin überein, dass der Beschwerdeführer auf Grund der objektivierbaren Befunde und nach mehr oder weniger Übergangszeit leichte Arbeit ohne Zwangshaltung für die Hüften ab seinem Austritt aus der Klinik B.________ am 21. Juni 2005 ganztags ausführen könne. Dem Bericht des Dr. med. H.________ sprach sie den Beweiswert insbesondere ab, weil "die knappen Ausführungen und die hauptsächlich die Diagnosen wiedergebende Beurteilung" darauf schliessen liessen, dass diese nicht auf eigenen Untersuchungen beruhten und seine Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit von 100 % klar im Widerspruch zu den übrigen, umfangreichen medizinischen Akten stehe. Schliesslich begründete das kantonale Gericht seinen Verzicht auf die beantragte Einholung eines Gutachtens damit, sämtliche durch die IV-Stelle bei den behandelnden Ärzten eingeholten Berichte erachteten eine weitere medizinische Abklärung als unnötig, wobei dazu auf die Berichte der Klinik B.________ vom 9. und 10. Dezember 2004, des Spitals Z.________ vom 7. Januar 2005 und der Frau Dr. med. M.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 4. Februar 2005 verwiesen wurde.
 
Indessen hätte zu weiteren Abklärungen nach Eingang des Berichts des Dr. med. H.________ Anlass bestanden, weil einerseits die Möglichkeit einer Veränderung des Gesundheitszustandes in der Zukunft in den medizinischen Berichten und eine weitere Arbeitsunfähigkeit bereits in Erwägung gezogen wurde, anderseits im Zeitpunkt der Verfügung abgesehen vom Bericht des Dr. med. H.________, der im Übrigen entgegen der Auffassung der Vorinstanz offenbar auch selbst Untersuchungen durchführte und solche veranlasste (vgl. das darin erwähnte MRI vom 19. Februar 2007), keine aktuellen medizinischen Unterlagen zur Verfügung standen. So führte bereits Dr. med. O.________, Teamleiter Hüftchirurgie, Klinik A.________, am 2. August 2005 aus, auf Grund der bereits fortgeschrittenen Abnützung sei eine konservativ chirurgische Behandlung nicht mehr sinnvoll. Je nach Leidensdruck werde der Patient früher oder später ein künstliches Hüftgelenk brauchen. Die selbe Problematik bestehe zwar asymptomatisch rechts ebenfalls. Die Pseudoarthrose der oberen und unteren Schambeinastfraktur werde mechanisch unterhalten durch die gefangenen Hüften beidseits. Entsprechend werde eine chirurgische Revision dieser Pseudoarthrosen ohne Erfolg bleiben, solange die Hüften nicht beweglicher würden. Allerdings schienen die vom Versicherten beklagten Beschwerden mehr coxogen als auf Grund dieser Pseudoarthrose. Auch im Austrittsbericht der Klinik B.________ vom 21. Juni 2006 wurden bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit weitere operative Massnahmen in Betracht gezogen. Schliesslich führte Dr. med. L.________, Abteilung Versicherungsmedizin der SUVA, am 10. August 2006 an, man dürfe davon ausgehen, dass per 31. Oktober 2005 zwar nicht keine Unfallfolgen mehr vorlagen, jedoch die Frakturen abgeheilt und somit vollbelastbar waren mit höchstens noch geringem residuellem Schmerzsyndrom. Der grössere Teil des Schmerzbildes rühre jedoch vom femoroacetabulären Impingement mit beginnender leichter bis knapp mässiger Coxartrhose. Es sei tatsächlich davon auszugehen, dass diese Beschwerden auch ohne Unfall in diesem Ausmass so bestünden. Man werde mittelfristig wahrscheinlich um eine operative Taillierung bei diesem femoroacetabulären Impingement kaum herumkommen (dies dann aber nicht zu Lasten der SUVA, da diese Behandlung nicht einer Therapie von Unfallfolgen entspreche).
 
Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz den Bericht des Dr. med. H.________ und die Notwendigkeit weiterer Abklärungen nicht mit der Begründung verwerfen, die Arbeitsfähigkeitsschätzung des Dr. med. H.________ stehe im klaren Widerspruch zu den übrigen, umfangreichen Akten, zumal seit dem letzten Arztbericht, der sich zur Arbeitsfähigkeit geäussert hatte (Austrittsbericht der Klinik B.________) bereits mehr als eineinhalb Jahre vergangen waren (vgl. zur Frage der zeitlichen Distanz Urteil 9C_561/2007 vom 11. März 2008, E. 5.2.2 mit Hinweisen) und die IV-Stelle nach Beizug der SUVA-Akten abgesehen von einer Anfrage für einen Arztbericht des Dr. med. S.________, der allerdings nicht eintraf, keine weiteren Abklärungen mehr tätigte. Die Aktenlage erlaubte deshalb kein zuverlässiges und vollständiges Bild der gesundheitlichen Situation des Versicherten und der ihm zumutbaren Arbeitsfähigkeit im hier massgebenden Zeitraum bis zum Erlass der Verfügung vom 13. September 2007 (BGE 130 V 445 E. 1.2 S. 446 f. mit Hinweisen). Deshalb wäre das kantonale Gericht gehalten gewesen, weitere Abklärungen zu veranlassen. Diese Unterlassung der Vorinstanz stellt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 69 Abs. 2 IVV, Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; BGE 130 V 6 E. 5.2.5 S. 68 f.) und eine unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes dar, was vom Bundesgericht als Rechtsverletzung zu berücksichtigen ist (9C_865/2007; Seiler, a.a.O., Art. 97 N 24). Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ergänzende Abklärungen vornehme und anschliessend über den Rentenanspruch neu entscheide.
 
4.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Juni 2009 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 13. September 2007 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf eine Invalidenrente neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 500.- zu entschädigen.
 
4.
 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. Januar 2010
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Helfenstein Franke
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).