VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1C_215/2009  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1C_215/2009 vom 13.01.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1C_215/2009
 
Verfügung vom 13. Januar 2010
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten
 
durch Rechtsanwalt Christian Affentranger,
 
gegen
 
Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern, Rechtsdienst, Arsenalstrasse 45, Postfach 162,
 
6000 Luzern 4.
 
Gegenstand
 
Verfall des Führerausweises auf Probe; Rückzug der Beschwerde,
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 15. April 2009
 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Abgaberechtliche Abteilung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
X.________ (geb. 1988) wurde am 20. September 2006 der Führerausweis auf Probe erteilt.
 
Am 4. Januar 2007 verursachte er mit einem Personenwagen einen Unfall mangels Anpassung der Geschwindigkeit an die Strassenverhältnisse und Beherrschens des Fahrzeuges. Am 16. Februar 2007 lenkte er seinen Personenwagen in angetrunkenem Zustand (1,29 Promille).
 
Wegen dieser Vorfälle entzog ihm das Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern mit Verfügung vom 1. März 2007 den Führerausweis für 13 Monate, d.h. vom 16. Februar 2007 bis zum 15. März 2008. Überdies verlängerte es die Probezeit des Führerausweises um ein Jahr. Es nahm eine schwere Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz an. Bei der Bemessung der Dauer des Entzugs berücksichtige es insbesondere, dass es X.________ am 26. Oktober 2005 bereits den Lernfahrausweis der Kategorie A1 (Motorräder mit einem Hubraum von nicht mehr als 125 cm3 und einer Motorleistung von höchstens 11 kW) wegen einer schweren Widerhandlung entzogen hatte; X.________ war damals innerorts mit bis zu 90 km/h gefahren.
 
2.
 
Am 5. September 2008, um ca. 23.00 Uhr, lenkte X.________ einen Personenwagen "Alfa Romeo" innerorts in Luzern. Mit ihm war ein weiterer Lenker mit einem "Audi" unterwegs. Die beiden fielen wegen ihrer Fahrweise der Polizei auf, die ihnen folgte. Wie diese darauf feststellte, überschritten X.________ und der Lenker des "Audi" auf dem Schweizerhofquai die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 35 km/h.
 
Mit Strafverfügung vom 18. November 2008 büsste die Amtsstatthalterin von Luzern X.________ deswegen in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG mit Fr. 600.--. Diese Verfügung erwuchs in Rechtskraft.
 
3.
 
Mit Verfügung vom 9. Februar 2009 annullierte das Strassenverkehrsamt den Führerausweis auf Probe von X.________. Es stufte die Widerhandlung vom 5. September 2008 als leichten Fall im Sinne von Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG ein. Es erwog, da X.________ der Führerausweis in den vorangegangenen zwei Jahren entzogen gewesen sei, müsse nach Art. 16a Abs. 2 SVG der Führerausweis für mindestens einen Monat entzogen werden. Gemäss Art. 15a Abs. 4 SVG verfalle der Führerausweis auf Probe mit der zweiten Widerhandlung, die zum Entzug des Führerausweises führe. Der Führerausweis von X.________ müsse deshalb annulliert werden.
 
Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (Abgaberechtliche Abteilung) am 15. April 2009 ab. Es stellte fest, dass X.________ am 5. September 2008 in Luzern die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h bei einem Wettrennen mit einem anderen Verkehrsteilnehmer um mindestens 35 km/h überschritten habe. Die Frage, ob es sich dabei nicht um eine mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG oder eine schwere Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG handle, liess es offen.
 
4.
 
X.________ erhob Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben; das Strassenverkehrsamt sei anzuweisen, ihm den Führerausweis auf Probe unverzüglich herauszugeben. Ausserdem ersuchte er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
 
Er brachte vor, gemäss Art. 15a Abs. 4 SVG verfalle der Führerausweis auf Probe mit der zweiten Widerhandlung, die zum Entzug des Ausweises führe. Bei der zweiten ihm vorgeworfenen Widerhandlung - dem Vorfall in Luzern vom 5. September 2008 - handle es sich um einen leichten Fall. Art. 16a SVG sehe bei einer leichten Widerhandlung eine Verwarnung vor, einen Führerausweisentzug nur dann, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis entzogen gewesen oder eine andere Administrativmassnahme verfügt worden sei (Abs. 2 und 3). Zwar sei in seinem Fall gemäss Art. 16a Abs. 2 SVG wegen der neuen Widerhandlung vom 5. September 2008 unstreitig ein Führerausweisentzug anzuordnen, da ihm in den vorangegangenen zwei Jahren der Führerausweis entzogen gewesen sei. Bei der Anwendung von Art. 15a Abs. 4 SVG sei jedoch darauf abzustellen, dass eine leichte Widerhandlung per se nur eine Verwarnung zur Folge habe. Es fehle somit für den Verfall an der Voraussetzung der zweiten Widerhandlung, die zum Entzug des Ausweises führe.
 
5.
 
Das Verwaltungsgericht und das Bundesamt für Strassen beantragten unter Hinweis auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde.
 
6.
 
Mit Verfügung vom 23. Juli 2009 wies der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung das Gesuch um Erlass einer vorsorglichen Massnahme (unverzügliche Wiederaushändigung des Führerausweises auf Probe) ab.
 
7.
 
Mit Schreiben vom 8. Dezember 2009 teilte der Instruktionsrichter den Verfahrensbeteiligten mit, das Bundesgericht nehme im Lichte seiner Rechtsprechung in Aussicht den Vorfall vom 5. September 2008 als schwere Widerhandlung gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG zu qualifizieren. Er gab den Beteiligten Gelegenheit, sich dazu zu äussern.
 
8.
 
Mit Schreiben vom 16. Dezember 2009 teilte das Strassenverkehrsamt dem Bundesgericht mit, die Qualifizierung des Vorfalls vom 5. September 2008 als schwere Widerhandlung werde begrüsst.
 
Mit Eingabe vom 4. Januar 2010 zog der Beschwerdeführer die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zurück.
 
9.
 
Zufolge Rückzugs der Beschwerde ist der Rechtsstreit beendet (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 73 Abs. 1 BZP [SR 273]). Die Beschwerde ist deshalb am Geschäftsverzeichnis abzuschreiben.
 
10.
 
Gemäss Art. 32 Abs. 2 BGG ist in einem solchen Fall an sich der Instruktionsrichter als Einzelrichter zum Entscheid befugt.
 
Der Beschwerdeführer ersucht jedoch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Gemäss Art. 64 Abs. 3 BGG entscheidet über ein solches Gesuch die Abteilung in der Besetzung mit drei Richtern oder Richterinnen. Vorbehalten bleiben Fälle, die im vereinfachten Verfahren nach Art. 108 BGG behandelt werden. Der Instruktionsrichter oder die Instruktionsrichterin kann die unentgeltliche Rechtspflege selbst gewähren, wenn keine Zweifel bestehen, dass die Voraussetzungen erfüllt sind.
 
Wie die nachfolgenden Erwägungen zeigen werden, kann hier die unentgeltliche Rechtspflege nicht gewährt werden. Um ein Verfahren nach Art. 108 BGG handelt es sich nicht. Jenes Verfahren kommt zur Anwendung bei Nichteintreten auf offensichtlich unzulässige Beschwerden, Nichteintreten auf Beschwerden, die offensichtlich keine hinreichende Begründung enthalten und Nichteintreten auf querulatorische oder rechtsmissbräuchliche Beschwerden (Abs. 1). Darum geht es hier nicht. Nach der Rechtsprechung hat deshalb gemäss Art. 64 Abs. 3 Satz 1 die Abteilung in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden (Verfügung 2C_423/2007 vom 27. September 2007 E. 3.1).
 
11.
 
Nach der Rechtsprechung ist innerorts ungeachtet der konkreten Umstände objektiv eine schwere Widerhandlung gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben, wenn die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 25 km/h oder mehr überschritten wurde (BGE 123 II 37 E. 1d S. 41; bestätigt in BGE 123 II 106 E. 2c S. 112/113; 124 II 97 E. 2b f. S. 99 ff., 475 E. 2a S. 478; 132 II 234 E. 3.2 S. 238). Wer die Höchstgeschwindigkeit in diesem Ausmass überschreitet, tut das in der Regel mindestens grobfahrlässig. Auch der subjektive Tatbestand der schweren Widerhandlung ist hier deshalb regelmässig zu bejahen. Eine Ausnahme kommt in Betracht, wenn der Lenker aus nachvollziehbaren Gründen gemeint hat, er befinde sich noch nicht oder nicht mehr im Innerortsbereich (BGE 123 II 37 E. 1f S. 41).
 
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts (angefochtenes Urteil S. 4 E. 2b) hat der Beschwerdeführer am 5. September 2008 in Luzern die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 35 km/h überschritten. Im Lichte der dargelegten Rechtsprechung ist hier deshalb eine schwere Widerhandlung gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben. Der Beschwerdeführer beging die Geschwindigkeitsüberschreitung im Luzerner Stadtzentrum. Dass er sich über den Innerortsbereich getäuscht haben könnte, kann daher ausgeschlossen werden. Der Beschwerdeführer lieferte sich nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zudem mit einem anderen Fahrzeuglenker ein Wettrennen. Eine schwere Widerhandlung ist daher erst recht anzunehmen.
 
Bei einer solchen Widerhandlung ist der Führerausweisentzug gemäss Art. 16c Abs. 2 SVG zwingend. Nach Art. 15a Abs. 4 SVG verfällt der Führerausweis auf Probe mit der zweiten Widerhandlung, die zum Entzug des Ausweises führt. Die Voraussetzungen für den Verfall waren hier somit offensichtlich erfüllt, weshalb die Beschwerde aussichtslos war.
 
Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG kann daher nicht bewilligt werden.
 
12.
 
Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann gemäss Art. 66 Abs. 2 BGG auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
 
Diese Bestimmung ist bei Rückzug der Beschwerde anwendbar (Verfügung 9C_7/2007 vom 21. Februar 2007; THOMAS GEISER, in: Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 20 zu Art. 66 BGG). Der Verzicht auf die Erhebung von Kosten ist nicht zwingend. Dem Gericht steht insoweit ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Für den Kostenentscheid ist insbesondere von Bedeutung, wie weit die Bearbeitung des Falles beim Bundesgericht vorangeschritten war (GEISER, a.a.O., N. 21 zu Art. 66 BGG).
 
Das Bundesgericht führte nach Eingang der vorliegenden Beschwerde einen Schriftenwechsel durch. Der Abteilungspräsident traf sodann eine Verfügung zum Gesuch um Erlass einer vorsorglichen Massnahme. In der Folge befasste sich der Instruktionsrichter einlässlich mit der Sache, was zu seinem Schreiben vom 8. Dezember 2009 führte. Die Sache war entscheidungsreif. Rechnung zu tragen ist sodann dem Umstand, dass die Abteilung die vorliegende Abschreibungsverfügung in der Besetzung mit drei Richtern zu treffen hat.
 
Mit Blick darauf rechtfertigt sich wegen des Rückzugs lediglich ein teilweiser Verzicht auf die Erhebung von Kosten in geringem Umfang. Zu berücksichtigen ist jedoch überdies, dass der Beschwerdeführer nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid (S. 8 E. 5b) Lehrling mit einem Monatslohn von Fr. 1'000.-- brutto ist. Deshalb wird eine reduzierte Gerichtsgebühr von Fr. 500.-- erhoben.
 
13.
 
Parteientschädigungen sind keine zuzusprechen (vgl. Art. 68 Abs. 3 BGG).
 
Demnach verfügt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird zufolge Rückzugs am Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Diese Verfügung wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt und dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Abgaberechtliche Abteilung, sowie dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 13. Januar 2010
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Féraud Härri
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).