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Informationen zum Dokument  BGer 9C_524/2009  Materielle Begründung
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BGer 9C_524/2009 vom 22.07.2009
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_524/2009
 
Urteil vom 22. Juli 2009
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiber Ettlin.
 
Parteien
 
L.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Beat Hess,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, Hirschengraben 19, 6002 Luzern,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (unentgeltliche Rechtspflege),
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
 
vom 4. Mai 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 4. Juni 2003 sprach die IV-Stelle Luzern dem 1974 geborenen L.________ mit Wirkung ab 1. Februar 1999 (mit Unterbrechung in den Monaten März und April 2002) wegen andauernder Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0) eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. Der Versicherte teilte der IV-Stelle am 10. Juni 2008 mit, sich seit Oktober 2007 in Untersuchungshaft zu befinden. Zufolge einer vom Amtsgericht angeordneten stationären Massnahme sei eine baldige Entlassung nicht abzusehen. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sistierte die IV-Stelle wegen Haftaufenthaltes die Invalidenrente ab 1. November 2007 (Verfügung vom 4. September 2008). Am 17. Oktober 2008 verfügte sie die Rückforderung des in der Zeit vom 1. November 2007 bis 30. September 2008 ausgerichteten Rentenbetrages von Fr. 16'203.-. Die Sistierungsverfügung wurde an die Privatadresse des Versicherten geschickt; die Rückforderungsverfügung an den Ort des Haftaufenthaltes.
 
B.
 
L.________ reichte Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit den Hauptanträgen ein, es sei wegen grosser Härte von der Rückforderung des Betrags von Fr. 16'203.- abzusehen. Zudem sei die Invalidenrente auch während des Haftaufenthaltes auszuzahlen. Das am 27. November 2008 gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wies das kantonale Gericht wegen aussichtsloser Beschwerde mit einzelrichterlicher Verfügung vom 4. Mai 2009 ab.
 
C.
 
L.________ lässt gegen die Verfügung vom 4. Mai 2009 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, im Verfahren vor kantonalem Gericht sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren; eventuell sei die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege auch vor Bundesgericht.
 
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Gegen selbständig eröffnete, weder die Zuständigkeit noch den Ausstand (vgl. Art. 92 BGG) betreffende Zwischenentscheide ist die Beschwerde an das Bundesgericht - abgesehen vom hier nicht gegebenen Ausnahmefall gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG - nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Angefochten ist ein in einem hängigen kantonalen Beschwerdeverfahren ergangener Entscheid betreffend unentgeltliche Rechtspflege; dabei handelt es sich um einen Zwischenentscheid (Urteil 2D_1/2007 vom 2. April 2007 E. 2.1), von dem die Rechtsprechung annimmt, er bewirke in der Regel einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil, jedenfalls wenn nicht nur die unentgeltliche Rechtspflege verweigert, sondern zugleich auch die Anhandnahme des Rechtsmittels von der Bezahlung eines Kostenvorschusses durch die gesuchstellende Partei abhängig gemacht wird (soeben erwähntes Urteil 2D_1/2007, E. 3.2; vgl. BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131 mit Hinweisen; Urteil 9C_286/2009 vom 28. Mai 2009). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
 
2.
 
Strittig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlichen Begehren aussichtslos sind, mit der Folge, dass ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nicht besteht.
 
2.1 Prozessbegehren sind als aussichtslos anzusehen, wenn die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren, so dass sie kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135; 128 I 225 E. 2.5.3 S. 236). Ob ein Begehren aussichtslos erscheint, beurteilt sich aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt des Gesuchs (BGE 128 I 225 E 2.5.3 S. 236; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 136; Urteil 5A_112/2008 vom 14. April 2008 E. 3.3). Die Erfolgsaussichten der Beschwerde sind im Rahmen einer vorläufigen und summarischen Prüfung des Prozessstoffes abzuschätzen. Die Frage der Aussichtslosigkeit lässt sich sodann abschliessend nur mit Blick auf die Begründung der Beschwerde beantworten (Urteil 1B_296/2008 vom 11. Dezember 2008 E. 2.2; Urteil 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 6.2 in: Pra 2008 Nr. 123 S. 766).
 
2.2 Die Rüge einer bedürftigen Partei, ihr Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege sei verletzt, prüft das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei. Soweit es um tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz geht, ist seine Prüfungsbefugnis praktisch auf Willkür beschränkt (Art. 95 lit. a BGG; BGE 134 I 12 E. 2.3; 133 III 614 E. 5, je mit Hinweisen; Urteil 4A_336/2008 vom 2. September 2008 E. 2.1). Dabei ist es allerdings nicht seine Aufgabe, dem Sachgericht vorgreifend zu prüfen, ob das vom Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren gestellte Begehren zu schützen sei oder nicht. Bei der Abklärung, ob die fehlende Aussichtslosigkeit als Voraussetzung für einen grundrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege gegeben ist, hat das Bundesgericht lediglich zu prüfen, ob der vom Bedürftigen verfolgte Rechtsstandpunkt im Rahmen des sachlich Vertretbaren liegt, also nicht von vornherein unbegründet erscheint (BGE 119 III 113 E. 3a). Die prognostische Beurteilung der Erfolgsaussichten eröffnet der Vorinstanz als Sachgericht einen Beurteilungsspielraum, in den das Bundesgericht auch bei freier Prüfung der Rechtsfragen zwar nur mit Zurückhaltung eingreift, dies aber dann, wenn das Sachgericht von anerkannten Rechtsgrundsätzen abgewichen ist, wenn es Umstände berücksichtigt hat, die für die Prognose im Einzelfall keine Rolle spielen dürfen oder wenn es umgekehrt Umstände ausser Betracht gelassen hat, die hätten beachtet werden müssen (vgl. BGE 133 III 201 E. 5.4 S. 211; 131 III 26 E. 12.2.2; 130 III 213 E. 3.1 S. 220; vgl. dazu auch die Urteile 4P.74/2005 vom 12. April 2005 E. 2.2 und 4P.223/1996 vom 18. März 1997 E. 2b).
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege u.a. mit der Begründung ab, die Verfügung vom 4. September 2008 sei rechtskräftig, weshalb auf die Rentensistierung nicht mehr zurückgekommen werden könne und die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg habe. Vor Bundesgericht macht der Versicherte geltend, die Verfügung vom 4. September 2008 sei mit normaler Post an seinen Wohnort verschickt worden, obwohl die IV-Stelle seinen Aufenthaltsort in der Haftanstalt gekannt habe. Die Verfügung werde in der Beschwerde vom 13. November 2008 genannt; hingegen sei nicht dokumentiert, wann er von ihr Kenntnis erhalten habe, sei diese doch in der Rückforderungsverfügung vom 17. Oktober 2008 erwähnt. Die Eröffnung werde bestritten, weshalb die Rechtskraft der Verfügung vom 4. September 2008 nicht angenommen werden könne und die Beschwerde vom 13. November 2008 rechtzeitig erfolgt sei.
 
3.2 Die Behauptung, die Sistierungsverfügung vom 4. September 2008 nicht erhalten zu haben, bringt der Beschwerdeführer im bundesgerichtlichen Verfahren zum ersten Mal vor. Indes handelt es sich dabei nicht um ein Novum im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG. Vielmehr rügt der Beschwerdeführer hiemit sinngemäss, die Vorinstanz habe auf die Rechtskraft geschlossen, ohne die gesamten Umstände der Eröffnung zu beachten. Dabei ist Rechtsfrage, welche Umstände bei der Beurteilung der Prozessaussichten in Betracht fallen und ob sie für oder gegen eine hinreichende Erfolgsaussicht sprechen, Tatfrage hingegen, ob und wieweit einzelne Tatumstände erstellt sind (BGE 124 I 304 E. 2c S. 307).
 
3.3
 
3.3.1 Vor kantonaler Instanz gilt wohl die Untersuchungsmaxime hingegen auch die Mitwirkungspflicht (Art. 61 lit. c ATSG). Danach hat die Beschwerdeinstanz nicht zu prüfen, ob sich die angefochtene Verfügung unter schlechthin allen in Frage kommenden Aspekten als korrekt erweist, sondern sie untersucht im Prinzip nur die vorgebrachten Beanstandungen (ZAK 1986 S. 300 E. 3; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2009, N 67 zu Art. 61 ATSG). Im hier zu beurteilenden Fall hat der Versicherte in der Beschwerde vom 13. November 2008 eine mangelhafte Verfügungseröffnung nicht behauptet, und er hat namentlich nicht auf die Zustellung der Verfügung mit normaler Post und an den Wohn- anstelle des Aufenthaltsortes hingewiesen. Indes ist zu beachten, dass die Vorinstanz den Rechtsvertreter am 27. Januar 2009 aufgefordert hat, eine Replik einzureichen. Obgleich sie über die unentgeltliche Rechtspflege - auf Ersuchen des Rechtsvertreters hin - vor Abschluss des zuvor angeordneten zweiten Schriftenwechsels entschieden hat, musste sie mit Blick auf die gegebene Sachlage damit rechnen, die Frage der korrekten Verfügungseröffnung werde durch den nunmehr anwaltlich vertretenen Versicherten in der Replik thematisiert und in das Verfahren eingebracht. Es war aktenkundig, dass der Versicherte bereits am 10. Juni 2008 auf seine längerdauernde Haft schriftlich aufmerksam machte und die Sistierungsverfügung vom 4. September 2008 gleichwohl an seine private Wohnadresse geschickt wurde. Unter diesen Umständen durfte das kantonale Gericht nicht allein deshalb von der Rechtskraft ausgehen, weil der Beschwerdeführer bis zum Zeitpunkt des Entscheides über die unentgeltliche Rechtspflege den Zugang der Verfügung vom 4. September 2008 nicht bestritten hat.
 
3.3.2 Dem angefochtenen Entscheid lassen sich weder zur Zustellung noch zum Zeitpunkt der Eröffnung der Sistierungsverfügung Ausführungen entnehmen. Die Vorinstanz ist stillschweigend davon ausgegangen, die Verfügung sei dem Versicherten zugegangen und seine Beschwerde sei nicht fristgemäss erfolgt. Der Beschwerdeführer weist vor Bundesgericht hingegen auf Umstände hin, welche eine Verfügungseröffnung als zumindest nicht gesichert erscheinen lassen (E. 3.1 hievor) und Fragen mit Bezug auf die Bestimmung des Eröffnungszeitpunktes aufwerfen. Sodann erwähnt die Verfügung vom 17. Oktober 2008 jene vom 4. September 2008, und sie weist auf deren Inhalt der rückwirkenden Rentensistierung hin. Die Bezugnahme des Beschwerdeführers auf die Sistierungsverfügung in der Beschwerde vom 13. November 2008 erlaubt folglich nicht den Schluss auf die Zustellung der früheren Verfügung und falls sie erfolgt sein sollte, kann daraus der Zeitpunkt nicht hergeleitet werden. Dies lässt den Verfahrensausgang in einem andern Licht erscheinen, obliegt doch der Verwaltung der Beweis der Tatsache und des Datums der Zustellung der von ihr erlassenen Verfügung (Urteil 9C_753/2007 vom 29. August 2008 E. 3 mit Hinweisen). Ein solcher Beweis dürfte in Anbetracht der geschilderten Sachlage nicht leicht zu führen sein. Nach dem Gesagten hat das kantonale Gericht zu Unrecht auf Aussichtslosigkeit der Beschwerde geschlossen. Mit Blick auf die Unsicherheiten über den Eintritt der Rechtskraft der Verfügung vom 4. September 2008 kann die Beschwerde nicht als aussichtslos gelten.
 
4.
 
Der Beschwerdeführer beanstandet den angefochtenen Entscheid vom 4. Mai 2009 nicht, soweit das vorinstanzliche Gericht von der Aussichtslosigkeit des Erlassgesuches ausgegangen ist, weshalb insoweit eine Überprüfung durch das Bundesgericht entfällt (Art. 42 Abs. 2 BGG; Urteil 6B_347/2007 vom 29. November 2007 E. 1, nicht publ. in: BGE 134 IV 121). Die Frage, ob deswegen die unentgeltliche Rechtspflege bloss teilweise zu gewähren ist (vgl. Urteil 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 6.2), stellt sich erst, falls der Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren weiterhin am Erlassgesuch festhält; sie kann hier somit offenbleiben.
 
5.
 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Kosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 4 BGG; Hansjörg Seiler, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N 52 zu Art. 66 BGG). Der Kanton Luzern muss den anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer für dessen Aufwand jedoch angemessen entschädigen (vgl. Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Verwaltungsgerichtes des Kantons Luzern vom 4. Mai 2009 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Luzern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. Juli 2009
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Ettlin
 
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