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Informationen zum Dokument  BGer 9C_242/2009  Materielle Begründung
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BGer 9C_242/2009 vom 30.04.2009
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_242/2009
 
Urteil vom 30. April 2009
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
Parteien
 
S.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Petra Kern,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 5. Februar 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
S.________, geboren 1972, meldete sich unter Hinweis auf eine "psychiatrische Erkrankung", bestehend seit vier Jahren, am 12. Oktober 2004 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Umschulung auf eine neue Tätigkeit, Arbeitsvermittlung, Rente) an. Die IV-Stelle des Kantons Bern führte erwerbliche Abklärungen durch und holte einen Bericht ein der Frau Dr. med. A.________, Assistenzärztin am Spital X.________, vom 20. Dezember 2004. Zudem veranlasste sie eine psychiatrische Begutachtung bei Dr. med. M.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 30. Mai 2005. Mit Schreiben vom 17. Juni 2005 forderte die IV-Stelle S.________ zur Schadenminderung auf, in Form einer adäquaten, längerdauernden, stationären fachärztlichen Therapie unter konsequenter neuroleptischer Medikation und Suchtmittelabstinenz. Sie stellte in Aussicht, sich im Oktober 2005 über den Verlauf der Behandlung und die anschliessend resultierende Erwerbsfähigkeit zu erkundigen und hernach über das Leistungsbegehren zu entscheiden.
 
Am 6. Juli 2005 verlegte S.________ seinen Wohnsitz in den Kanton Y.________; am 3. Oktober 2005 wurde für ihn eine Beistandschaft errichtet. Nachdem sich die IV-Stelle bei den Psychiatrischen Diensten Z.________ am 4. Oktober 2005 nach dem Verlauf erkundigt hatte, wurde ihr der Austrittsbericht der Psychiatrischen Dienste Z.________, vom 2. August 2005 betreffend einer vom 24. Mai bis 23. Juni 2005 erfolgten stationären Behandlung des S.________ zugestellt. Mit Verfügung vom 8. Dezember 2005 wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren ab, weil S.________ sich Eingliederungsmassnahmen widersetze. Hiegegen liess S.________, vertreten durch das Sozialdepartement des Kantons Zürich, Einsprache erheben und eine Beurteilung der Psychiatrischen Klinik B.________ vom 17. März 2006 ins Recht legen. Mit Einspracheergänzung vom 10. April 2006 liess S.________ um Sistierung des Verfahrens betreffend berufliche Massnahmen und Zusprechung einer Rente bis "Sommer 2006" ersuchen, da sich infolge des Wohnsitzwechsels und insbesondere wegen der bis November 2005 bestandenen Uneinsichtigkeit in die Krankheit der Beginn der fachärztlichen stationären und ambulanten Therapie sowie der Medikation um knapp fünf Monate verzögert habe. Gleichzeitig liess er den Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik B.________ vom 14. Februar 2006, betreffend der ersten Hospitalisation in dieser Klinik vom 21. November 2005 bis 7. Februar 2006, zu den Akten reichen. Die IV-Stelle holte Berichte der Psychiatrischen Klinik B.________ ein vom 6. und 21. Juni 2006 (Dres. med. N.________ und J._________ bzw. Dr. med. H.________) und bat ihren RAD (Dr. med. E.________) um eine Einschätzung. Dieser empfahl am 21. August 2006 eine psychiatrische Verlaufsbegutachtung. In der Folge veranlasste die IV-Stelle eine erneute Begutachtung bei Dr. med. M.________ (Gutachten vom 15. Januar 2006 [recte: 2007]). Nach Eingang einer weiteren Beurteilung des RAD-Arztes Dr. med. E.________ vom 15. März 2007 setzte die IV-Stelle S.________ am 7. Juni 2007 eine letzte Frist zum Beweis von Massnahmen für einen Drogenentzug. Mit Einspracheentscheid vom 25. Juli 2007 bestätigte die IV-Stelle ihre Verfügung.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde des S.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 5. Februar 2009 ab.
 
C.
 
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen sowie des Einspracheentscheides die Zusprechung einer ganzen Rente ab 1. Oktober 2003 beantragen. Eventualiter sei die Angelegenheit an die Vorinstanz bzw. Beschwerdegegnerin "ergänzenden und umfassenden" Abklärung zurückzuweisen. Weiter lässt er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ersuchen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid, auf welchen verwiesen wird, die Bestimmungen und Grundsätze über die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG), den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen sowie auf eine Invalidenrente (Art. 8 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 IVG, je in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Form), die Schadenminderungspflicht sowie die (vorübergehende) Kürzung oder Verweigerung von Leistungen bei deren Verletzung (Art. 21 Abs. 4 ATSG), die Aufgabe des Arztes oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) sowie den Beweiswert und die Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) zutreffend wiedergegeben. Richtig sind auch die Erwägungen zur Rechtsprechung betreffend IV-rechtlicher Relevanz psychischer Gesundheitsschädigungen (BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50 mit Hinweisen) sowie betreffend Drogensucht (die - wie auch Alkoholismus und Medikamentenabhängigkeit - für sich allein betrachtet noch keinen invalidisierenden Gesundheitsschaden darstellt, sondern erst dann iv-rechtlich bedeutsam wird, wenn sie durch einen solchen Gesundheitsschaden bewirkt worden ist oder einen solchen zur Folge hat; vgl. BGE 124 V 265 E. 3c S. 268; AHI 2002 S. 28, I 454/99, und 2001 S. 227, I 138/98; Urteil 8C_582/2008 vom 14. Januar 2009 E. 2 mit Hinweisen). Wie die Vorinstanz ebenfalls zutreffend erwog, sind die mit der 5. IV-Revision am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Rechtsänderungen intertemporalrechtlich nicht anwendbar (BGE 131 V 107 E. 1 S. 108 f., 133 E. 1 S. 136 und 242 E. 2.1 S. 243 f., je mit Hinweisen).
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz stellte fest, der Beschwerdeführer konsumiere regelmässig das verbotene Betäubungsmittel "Kath", gelegentlich Kokain und spreche "mitunter erheblich" dem Alkohol zu (unklar bleibe, wie es sich mit dem Cannabis-Konsum verhalte). Das Suchtverhalten beeinflusse die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit massgeblich. Zwar leide der Versicherte zusätzlich an einer Persönlichkeitsstörung, welche als selbstständiger Gesundheitsschaden die Arbeitsfähigkeit ebenfalls vermindere, indes stehe der Drogenabusus klar im Vordergrund. Da die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit durch Abstinenz "vermutlich in anspruchsrelevantem Ausmass" verbessert werden könnte, treffe den Beschwerdeführer eine Schadenminderungs- und Selbsteingliederungspflicht in dem Sinne, als er sich einer konsequenten und dauernden Entzugsbehandlung zu unterziehen habe; eine solche fachärztlich unterstützte Entwöhnung sei zumutbar. Weil er trotz mehrmaliger Aufforderung eine Entzugsbehandlung verweigert habe, sei die Ablehnung des Leistungsbegehrens durch die Beschwerdegegnerin nicht zu beanstanden.
 
3.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, gestützt auf die schlüssigen Einschätzungen des Dr. med. M.________ vom 30. Mai 2005 und 15. Januar 2007 sei ausgewiesen, dass die Arbeitsfähigkeit wegen seiner schweren Persönlichkeitsstörung, und damit allein aus psychischen Gründen, seit anfangs 2001 in anspruchserheblichem Ausmass beeinträchtigt sei. Die Störung durch multiplen Substanzgebrauch bilde nur eine sekundäre Entwicklung. Es könne keine Rede davon sein, dass er sich einer zumutbaren Behandlung entziehe. Demzufolge habe er ab 1. Oktober 2003 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente.
 
4.
 
4.1 Die auf pflichtgemässer Beweiswürdigung beruhende vorinstanzliche Feststellung, wonach die Arbeitsfähigkeit massgeblich durch die Drogensucht und nicht durch die Persönlichkeitsstörung (paranoide Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und schizotypen Anteilen [ICD-10 F60.0]; vgl. Bericht der Psychiatrischen Klinik B.________-Ärzte Dres. med. N.________ und J._________ vom 6. Juni 2006) geschmälert werde, weshalb eine dauernde, konsequente Entzugsbehandlung die Arbeitsfähigkeit "vermutlich in anspruchsrelevantem Ausmass" verbessern könne, ist nicht offensichtlich unrichtig. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer schon seit Jahren unter psychischen Problemen litt (so unterzog er sich bereits während seiner teilweise - von 1982 bis 1989 - in einem Heim verbrachten Kinder- und Jugendjahre einer psychiatrischen Behandlung). Indes zeigen die medizinischen Unterlagen, dass einerseits der Suchtmittelmissbrauch zur Verstärkung und teilweise sogar zur Eskalation der (psychischen) Schwierigkeiten führt (beispielsweise verletzte sich der Versicherte am 22. November 2005 im Anschluss an exzessiven Alkoholkonsum durch tiefe Schnittverletzungen). Anderseits konnte in Phasen konsequenter Behandlung (wie etwa in der Psychiatrischen Klinik B.________ vom 23. November 2005 bis 7. Februar 2006; Austrittsbericht vom 14. Februar 2006) eine Verbesserung der Situation (Stabilisierung; Rückgang der Einschränkungen) erreicht werden. Dr. med. M.________ erachtete in seinem (ersten) Gutachten vom 30. Mai 2005 den Kokain-Konsum denn auch als "Auslöser und Mitunterhalter" der Psychose.
 
4.2 Das Vorliegen einer (fach-) ärztlich schlüssig festgestellten Psychose allein genügt für eine Anspruchsberechtigung in der Invalidenversicherung nicht. Vorausgesetzt wird zudem, dass die (psychische) Störung nachgewiesenermassen die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt (vgl. etwa Urteil I 568/06 vom 22. November 2006 E. 5.3.1). Ob und inwieweit die (paranoide) Persönlichkeitsstörung die Arbeitsfähigkeit vermindert, kann wegen der diese Problematik überlagernden Drogensucht (Bericht der Frau Dr. med. A.________ vom 20. Dezember 2004) erst beurteilt werden, nachdem sich der Beschwerdeführer einer länger dauernden, ärztlich kontrollierten Entzugsbehandlung unterzogen hat. In eine auf die sowohl von den Ärzten an der Psychiatrischen Klinik B.________ als auch von Dr. med. M.________ im Gutachten vom 30. Mai 2005 (nachdrücklich) geforderte Drogenabstinenz abzielende, nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid zumutbare Massnahme hat der Versicherte indes nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht eingewilligt. Die wiederholten, meist kurzzeitigen stationären Behandlungen vermögen einen Drogenentzug nicht zu ersetzen und waren bezüglich der Abstinenz auch nicht erfolgreich; der Beschwerdeführer konsumierte nach der Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik B.________ im Februar 2006 weiterhin Drogen (gelegentlich Kokain und unverändert die Kaudroge "Kath"; vgl. psychiatrisches Gutachten des Dr. med. M.________ vom 15. Januar 2007). Schliesslich stützt sich die vorinstanzliche Beweiswürdigung keineswegs nur auf die Stellungnahmen des RAD-Arztes Dr. med. E.________. Insbesondere die Ärzte an der Psychiatrischen Klinik B.________ erklärten explizit, die paranoide Persönlichkeitsstörung spreche nicht (grundsätzlich) gegen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit; im Gegenteil könnte sich die psychopathologische Situation bei Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess sogar günstig entwickeln. Inwieweit eine längerfristige Medikation notwendig sein werde, zeige erst der Verlauf, insbesondere unter Drogenabstinenz (Bericht vom 21. Juli 2006).
 
Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, im Vordergrund stehe der Drogenmissbrauch, ist auch im Lichte des Gutachtens M._______ nicht offensichtlich unrichtig und daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Was der Beschwerdeführer vorbringt, erschöpft sich weitestgehend in einer letztinstanzlich unzulässigen appellatorischen Kritik am angefochtenen Entscheid (hiezu Urteile 9C_688/2007 vom 22. Januar 2008 E. 2.3 und 4A_28/2007 vom 30. Mai 2007 E. 1.3 [in BGE 133 III 421 nicht publiziert]). Der vorinstanzlich geschützte Entscheid der Beschwerdegegnerin, das Leistungsbegehren wegen Verletzung der Schadenminderungspflicht abzuweisen, ist daher nicht zu beanstanden. Für die eventualiter verlangte Rückweisung an die Vorinstanz oder die IV-Stelle bleibt damit kein Raum.
 
5.
 
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird verzichtet (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG), womit das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten gegenstandslos ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. April 2009
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Bollinger Hammerle
 
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