VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 464/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 464/2004 vom 17.12.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 464/04
 
Urteil vom 17. Dezember 2004
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Hadorn
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. S.________, 1993,
 
2. R.________, 1993,
 
Beschwerdegegnerinnen, vertreten durch ihre
 
Mutter
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
 
(Entscheid vom 19. Juli 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit zwei Verfügungen vom 12. und 23. Mai 2003 lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn ein Gesuch der Zwillingsschwestern R.________ und S.________ (beide geb. am 12. Januar 1993) um medizinische Massnahmen zur Behandlung eines Psychoorganischen Syndroms (POS) ab. Diese Verfügungen bestätigte die IV-Stelle mit Einspracheentscheiden vom 21. August 2003.
 
B.
 
Die gegen beide Verfügungen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 19. Juli 2004 insofern gut, als es die Sache im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.
 
C.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
 
Die IV-Stelle und beide Schwestern verzichten auf eine Vernehmlassung, wobei die IV-Stelle die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Voraussetzungen zum Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 13 IVG; Art. 1 GgV), insbesondere bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV Anhang), und die hiezu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113 und zahlreiche seitherige Urteile) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zutreffend sind auch die Ausführungen zum Anspruch auf medizinische Massnahmen gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG. Ergänzend ist auf Art. 8 Abs. 2 ATSG (in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung; vgl. altArt. 5 Abs. 2 IVG) hinzuweisen, wonach nicht erwerbstätige Minderjährige als invalid gelten, wenn die Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Gesundheit voraussichtlich eine ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird.
 
2.
 
Die Vorinstanz hat richtig entschieden, dass die Invalidenversicherung unter Ziff. 404 GgV Anhang keine Leistungen zu erbringen hat. Auf die entsprechenden Erwägungen im kantonalen Entscheid wird verwiesen. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob sich nähere Abklärungen aufdrängen, da ein Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen unter Art. 12 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG in Frage kommen könnte.
 
2.1 Nach der Rechtsprechung können medizinische Massnahmen bei Jugendlichen schon dann überwiegend der Eingliederung dienen und von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden (BGE 105 V 20; AHI 2003 S. 104 f., 2000 S. 64). Umgekehrt kommen medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung auch bei Minderjährigen nicht in Betracht, wenn sich solche Vorkehren gegen Krankheiten richten, welche nach heutiger Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden können. Es darf keine Therapie von unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere Zeit hinweg in Frage stehen, bei der sich hinsichtlich des damit erreichbaren Erfolges keine zuverlässige Prognose stellen lässt (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b; jüngst bestätigt im Urteil B. vom 16. Juli 2004, I 52/04, mit zahlreichen Hinweisen).
 
2.2 Gemäss Bericht von Dr. med. T.________, Kinderarzt FMH, vom 21. März 2003 stehe bei S.________ eine Behandlung von unbestimmter Dauer an. Es seien regelmässige neuromotorisch-neuropsychologische Kontrollen von unbestimmter Dauer, eine medikamentöse Stimulanzientherapie von ebenfalls unbestimmter Dauer sowie eine Psychomotoriktherapie von voraussichtlich zwei Jahren vorgesehen. Zu R.________ führt der selbe Arzt im Bericht vom 24. April 2003 aus, es seien regelmässige ärztliche Kontrollen und Stimulanzientherapien nötig, so lange die Therapiebedürftigkeit bestehe, was voraussichtlich mehrere Jahre der Fall sein werde. Ausserdem sei eine Psychotherapie nötig, deren Dauer noch unbestimmt sei. Beide Schwestern erhalten das Medikament Ritalin.
 
2.3 Auf Grund der Angaben von Dr. med. T.________ ist erstellt, dass bei beiden Beschwerdegegnerinnen eine über längere Zeit andauernde Therapie zu erwarten ist. Die Behandlung mit Ritalin bewirkt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen kurzfristig eine Besserung der Aufmerksamkeitsleistungen und eine Abnahme der Hyperaktivität. Langfristig sind Stimulanzien ohne Gewöhnung und Abhängigkeit weiterhin wirksam, wobei allerdings die Wirkung rein symptomatisch bleibt, sodass eine anhaltende Besserung nach Absetzen der Medikation auf Nachreifungsprozesse zurückgeführt werden muss (AHI 2003 S. 106 Erw. 4a mit Hinweisen). Vor diesem medizinischen Hintergrund sind auch die Prognosen ungewiss, da klinische oder wissenschaftlich sichere Faktoren, welche für individuelle Patienten eine Vorhersage gestatten würden, nicht existieren (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b). Somit sind die für die Beschwerdegegnerinnen vorgesehenen Massnahmen nicht geeignet, den Eintritt eines stabilen Zustandes, wodurch Berufsbildung oder Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden, zu verhindern (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b). Bei dieser Sachlage steht fest, dass ein Leistungsanspruch auf Grund von Art. 12 IVG zu verneinen ist (vgl. AHI 2000 S. 67 Erw. 4b mit Hinweis), weshalb sich weitere Abklärungen erübrigen. Die streitigen Massnahmen gehören zum Bereich der Krankenversicherung. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in vergleichbaren Fällen von POS mit längerer Behandlungsdauer im selben Sinn entschieden (erwähntes Urteil B, Urteile B. vom 27. Oktober 2003, I 484/02 und F. vom 14. Oktober 2003, I 298/03).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 19. Juli 2004 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und der IV-Stelle des Kantons Solothurn zugestellt.
 
Luzern, 17. Dezember 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).