VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1P.650/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1P.650/2004 vom 09.12.2004
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.650/2004 /sta
 
Urteil vom 9. Dezember 2004
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud,
 
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
 
Advokat Daniel Bäumlin,
 
gegen
 
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Präsident, Bäumleingasse 1, 4051 Basel.
 
Gegenstand
 
Art. 29 Abs. 3 BV (unentgeltliche Verteidigung für das Haftbeschwerdeverfahren),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Präsident, vom 27. Oktober 2004.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ wurde am 15. Juli 2004 festgenommen. Ihm wird der Handel mit 2,5 bis 3 Kilogramm Kokain vorgeworfen. Am 17. Juli 2004 wurde er wegen Kollusionsgefahr, vorerst für vier Wochen, in Untersuchungshaft versetzt. Aus demselben Grund verlängerte der Haftrichter des Kantons Basel-Stadt am 12. August 2004 und am 6. Oktober 2004 die Untersuchungshaft für je weitere acht Wochen, d.h. letztmals bis am 4. Dezember 2004.
 
B.
 
X.________ erhob gegen die Haftverfügung vom 6. Oktober 2004 Beschwerde an das Appellationsgericht Basel-Stadt. Er beantragte, die Haftverfügung sei aufzuheben und er sei unverzüglich auf freien Fuss zu setzen. Für den Fall der Abweisung der Beschwerde beantragte er eventualiter die unentgeltliche Prozessführung.
 
C.
 
Zusammen mit der Eröffnung des zweiten Schriftenwechsels im Haftbeschwerdeverfahren wies der Präsident des Appellationsgerichts das Begehren um unentgeltliche Verteidigung zufolge Aussichtslosigkeit der Beschwerde mit Verfügung vom 27. Oktober 2004 ab.
 
D.
 
Gegen die Verfügung des Appellationsgerichtspräsidenten führt X.________ staatsrechtliche Beschwerde. Neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheids beantragt er, es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege im Haftbeschwerdeverfahren zu gewähren, unter Beiordnung des beschwerdeführenden Advokaten als unentgeltlichen Verteidiger. Zudem stellt er ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht.
 
Der Präsident des Appellationsgerichts ersucht um Abweisung der Beschwerde. Dabei verweist er auf die am 12. November 2004 erfolgte kostenpflichtige Abweisung der Haftbeschwerde.
 
E.
 
In der Replik hat X.________ an seinen Anträgen festgehalten.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Die angefochtene Verfügung, mit der das Gesuch um unentgeltliche Verteidigung für das Haftbeschwerdeverfahren abgewiesen worden ist, hat dieses Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht abgeschlossen. Es handelt sich um einen selbständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG. Dagegen ist die staatsrechtliche Beschwerde zulässig, sofern der Entscheid einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann. Zwischenentscheide, mit denen die unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung verweigert wird, haben in der Regel einen solchen Nachteil zur Folge (BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131, 281 E. 1.1 S. 283 f., je mit Hinweis). Das trifft auch für den hier in Frage stehenden Zwischenentscheid zu. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer seine Interessen im kantonalen Haftbeschwerdeverfahren ohne den Beistand eines Anwalts wahrnehmen muss, kann einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG bewirken. Gegen einen solchen Entscheid steht die staatsrechtliche Beschwerde offen.
 
1.2 In der Folge hat der Beschwerdeführer im kantonalen Haftbeschwerdeverfahren die Wiedererwägung der mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochtenen Verfügung vom 27. Oktober 2004 beantragt. Dieses Gesuch wurde im Rahmen des Haftbeschwerdeentscheids vom 12. November 2004 abgewiesen. Ein Wiedererwägungsgesuch ist kein förmliches Rechtsmittel, da auf seine Behandlung grundsätzlich kein Anspruch besteht; es muss daher auch nicht zur Erschöpfung des Instanzenzugs vor der staatsrechtlichen Beschwerde gestellt werden. Wird es abgewiesen, so tritt in der Regel der Wiedererwägungsentscheid nicht an die Stelle des angefochtenen Entscheids und er muss deshalb nicht erneut mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden (BGE 121 I 326 E. 1a S. 328 mit Hinweisen). Die staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung vom 27. Oktober 2004 bleibt damit zulässig.
 
1.3 Eine Ausnahme von der grundsätzlich kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde ist im vorliegenden Fall nicht gegeben (BGE 129 I 129 E. 1.2.3 S. 132 f.). Soweit der Beschwerdeführer mehr beantragt als die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, kann darauf nicht eingetreten werden.
 
1.4 Weiter sprengt die staatsrechtliche Beschwerde den Streitgegenstand insoweit, als sie sich gegen die Auferlegung der Verfahrenskosten im kantonalen Haftbeschwerdeverfahren richtet.
 
Bei der unentgeltlichen Rechtspflege (im Sinne einer Befreiung von den Verfahrens- und Gerichtskosten) und der unentgeltlichen Verteidigung handelt es sich um zwei verschiedene Teilgehalte von Art. 29 Abs. 3 BV (Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl., Zürich 2001, Rz. 840 ff.). Gemäss baselstädtischem Strafprozessrecht sind die beiden Bereiche in unterschiedlichen Bestimmungen geregelt. Die Verfahrenskosten werden grundsätzlich nach Massgabe des prozessualen Obsiegens verlegt (§ 165 Abs. 2 i.V.m. § 35 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt vom 8. Januar 1997 [StPO/BS]). Der kantonalrechtliche Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung ist in § 15 StPO/BS verankert.
 
Die angefochtene Verfügung äussert sich im Dispositiv lediglich zur unentgeltlichen Verteidigung, nicht jedoch auch zur unentgeltlichen Rechtspflege. In der Verfügungsbegründung wird das Dispositiv zwar in den weiteren Zusammenhang der Aussichtslosigkeit im Sinne der Kostenerlasspraxis gestellt. Gemäss der Vernehmlassung des Appellationsgerichtspräsidenten ging es aber mit der Verfügung darum, der Verteidigung frühzeitig anzuzeigen, dass ihre Bemühungen nicht zu Lasten des Staates honoriert würden. Dem Beschwerdeführer war für die Haftbeschwerde auch kein Kostenvorschuss auferlegt worden. Auf die Beschwerde ist demnach nicht einzutreten, soweit damit, über die Verweigerung der unentgeltlichen Verteidigung hinaus, eine Verletzung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege gerügt wird.
 
1.5 Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben keinen Anlass zu Bemerkungen, so dass auf die Beschwerde gegen die Verweigerung der unentgeltlichen Verteidigung, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 130 I 26 E. 2.1 S. 31 mit Hinweisen), eingetreten werden kann.
 
2.
 
2.1 Der Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung ergibt sich als Minimalgarantie direkt aus Art. 29 Abs. 3 BV, soweit das kantonale Recht keine weitergehenden Ansprüche gewährt (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 226 f. mit Hinweisen). Da der Beschwerdeführer nicht detailliert vorbringt, § 15 StPO/BS sei verletzt worden, kann sich die Prüfung darauf beschränken, ob der direkt aus Art. 29 Abs. 3 BV hergeleitete Anspruch verletzt worden ist.
 
2.2 Gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV kann der mittellose Angeschuldigte die unentgeltliche Rechtsverbeiständung in einem für ihn nicht aussichtslosen Verfahren verlangen, sofern dies zur Wahrung seiner Interessen notwendig bzw. sachlich geboten ist. Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers und die sachliche Gebotenheit der Verbeiständung stehen hier nicht in Frage. Die unentgeltliche Verteidigung wurde im angefochtenen Entscheid allein deshalb verweigert, weil die Beschwerde gegen die Verweigerung der Haftentlassung aussichtslos sei.
 
3.
 
Ein Rechtsmittel ist dann als aussichtslos anzusehen, wenn die Gewinnaussichten erheblich geringer sind als die Verlustgefahren und daher kaum mehr als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Rechtsmittel entschliessen oder davon absehen würde; denn eine Partei soll ein Rechtsmittel, das sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht einreichen würde, nicht deshalb erheben können, weil es sie nichts kostet.
 
Die Rüge einer bedürftigen Partei, ihr verfassungsmässiger Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung sei verletzt, prüft das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei, in tatsächlicher dagegen nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür. Ob im Einzelfall genügende Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich nach den Verhältnissen zur Zeit, in der das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird, namentlich aufgrund der bis dann vorliegenden Akten (BGE 128 I 225 E. 2.5.3 S. 236; 127 I 202 E. 3a S. 205, je mit Hinweisen).
 
Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft stellt eine tief greifende Beschränkung der persönlichen Freiheit dar, weshalb nach ständiger Praxis des Bundesgerichts bei Haftentlassungsgesuchen nur mit grosser Zurückhaltung auf Aussichtslosigkeit zu schliessen ist.
 
4.
 
4.1 Der Beschwerdeführer stellt das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nicht in Frage. Er beruft sich auf die Rechtsprechung, wonach für die Annahme von Kollusionsgefahr konkrete Indizien gefordert sind (BGE 128 I 149 E. 2.1 S. 151 mit Hinweisen), und bringt weitgehend appellatorisch vor, solche würden in seinem Fall fehlen. Seit seiner letzten Einvernahme seien mehrere Wochen verstrichen. Nachdem im Laufe einer Strafuntersuchung die Kollusionsgefahr stets abnehme, wiege die Haft umso schwerer, je länger sie andauere. Deshalb sei die erhobene Haftbeschwerde durchaus legitim.
 
4.2 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers war die gegen ihn gerichtete Strafuntersuchung im Zeitpunkt der Erhebung der kantonalen Haftbeschwerde und des Gesuchs um unentgeltliche Verteidigung nicht abgeschlossen. Es trifft auch nicht zu, dass keine weiteren Untersuchungshandlungen vorgesehen waren.
 
4.2.1 Der Beschwerdeführer war hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Betäubungsmittelmenge nur in einem kleinen Umfang geständig. Zugegeben hatte er den Vertrieb in einer Menge von höchstens 400 Gramm. Die Aussagen von Y.________ sind nach den insoweit unbestrittenen Ausführungen der Staatsanwaltschaft der Hauptbelastungsbeweis, von dessen Überzeugungskraft eine Anklage gegen den Beschwerdeführer offenbar in wesentlichen Punkten abhängig ist. Es ist gerichtsnotorisch, dass in Verfahren gegen Drogenhändlerbanden immer wieder versucht wird, Belastungszeugen bzw. belastende Auskunftspersonen einzuschüchtern oder sonstwie zu beeinflussen, um sie zu einer Rücknahme ihrer Belastungen zu bringen. Nach der Rechtsprechung war unter diesen Umständen Kollusionsgefahr anzunehmen, auch wenn der Beschwerdeführer zuvor keine Anstalten getroffen hatte, Y.________ zu beeinflussen. Dazu hatte er in der Untersuchungshaft auch keine Gelegenheit, weshalb dies keine Gewähr dafür bot, dass er die Freiheit nicht dazu missbrauchen könnte, auf diesen einzuwirken.
 
Der Beschwerdeführer war denn auch verschiedentlich bestrebt, seine Aussagen mit denen der übrigen Mitbeschuldigten abzustimmen (vgl. seine Einvernahme vom 26. August 2004). Aufgrund der erheblichen Divergenzen in den Aussagen und des bisherigen Aussageverhaltens des Beschwerdeführers war die Kollusionsgefahr demnach ohne weiteres zu bejahen. Seine Interessenlage unterschied sich grundlegend von derjenigen des geständigen Y.________, so dass er aus dessen Freilassung nichts zu seinen Gunsten ableiten konnte.
 
4.2.2 Mit der Verlängerung der Haft sollte aber vor allem verhindert werden, dass der Beschwerdeführer mit den bisher nicht einvernommenen Lieferanten der Drogen, insbesondere dem flüchtigen Z.________ und dem aus untersuchungstaktischen Gründen noch nicht verhafteten "A.________", - aber auch mit weiteren Beteiligten - in Kontakt treten und sich mit diesen absprechen könne. Dass bei dieser Sachlage auch insofern eine konkrete Kollusionsgefahr zu bejahen ist, liegt auf der Hand.
 
4.3 Der Appellationsgerichtspräsident hat deshalb Art. 29 Abs. 3 BV nicht verletzt, indem er die Beschwerde als aussichtslos bezeichnet und das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verteidigung abgewiesen hat.
 
5.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
Die Voraussetzungen zur Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 OG sind erfüllt, zumal sich für die staatsrechtliche Beschwerde hinsichtlich deren Aussichtslosigkeit andere Fragen als im kantonalen Haftbeschwerdeverfahren stellen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird gutgeheissen.
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
 
2.2 Advokat Daniel Bäumlin wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt und mit Fr. 1'000.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Präsident, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 9. Dezember 2004
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).