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Informationen zum Dokument  BGer 1P.628/2004  Materielle Begründung
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BGer 1P.628/2004 vom 18.11.2004
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.628/2004 /sta
 
Urteil vom 18. November 2004
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
 
Bundesrichter Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Steinmann.
 
Parteien
 
M.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Valentin Landmann,
 
gegen
 
Bezirksamt Baden, Ländliweg 2, 5402 Baden,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
 
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
persönliche Freiheit, Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 BV (Haftentlassung),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 30. September 2004.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Bezirksamt Baden führt gegen M.________ eine Strafuntersuchung wegen versuchter räuberischer Erpressung im Sinne von Art. 156 Ziff. 3 i.V.m. Art. 140 Ziff. 3 oder 4 StGB.
 
Im Vorfeld versetzte der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich M.________ am 1. November 2003 wegen dringenden Verdachts der Erpressung in Untersuchungshaft und verlängerte die Haft am 29. Januar 2004. Ein Haftentlassungsgesuch wies der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Pfäffikon am 5. März 2004 ab. Mit Entscheid der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts vom 12. Mai 2004 wurden die Behörden des Kantons Aargau zur Strafverfolgung verpflichtet. In der Folge wurde M.________ ins Bezirksgefängnis Baden und hernach zwecks vorzeitigen Strafantritts in die Strafanstalt Lenzburg versetzt.
 
B.
 
Mit Eingabe vom 17. September 2004 ersuchte M.________ um Entlassung aus der Untersuchungshaft, allenfalls verbunden mit Auflagen (Verbot des Kontakts mit den Geschädigten, Pass- und Schriftensperre). Er begründete sein Begehren mit fehlender Kollusions- und Fluchtgefahr und stellte in Anbetracht eines laufenden Rechtsmittelverfahrens auch die Wiederholungsgefahr in Abrede.
 
Der Präsident der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau wies das Haftentlassungsgesuch mit Verfügung vom 30. September 2004 ab. Er hielt im Wesentlichen sowohl den dringenden Tatverdacht wie auch die Wiederholungsgefahr als gegeben.
 
C.
 
Gegen diesen Entscheid des Präsidenten der Beschwerdekammer hat M.________ am 29. Oktober 2004 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und verlangt, aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, allenfalls unter Auferlegung einer Kontakt- und Passsperre. Schliesslich ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Zur Begründung rügt er eine Verletzung der persönlichen Freiheit und macht im Wesentlichen geltend, es fehle an einer Wiederholungsgefahr.
 
Das Bezirksamt Baden, die Staatsanwaltschaft und das Obergericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Die Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen besondern Bemerkungen Anlass: Der Beschwerdeführer ist zur rechtzeitig erhobenen Beschwerde legitimiert und hat im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren zulässige Begehren gestellt (vgl. BGE 124 I 327 E. 4b/aa S. 333, 115 Ia 293 E. 1a S. 297); dem Begehren auf Haftentlassung steht auch der Umstand nicht entgegen, dass sich der Beschwerdeführer zurzeit im vorzeitigen Strafvollzug befindet (vgl. BGE 126 I 172 E. 3a S. 174, 117 Ia 72 E. 1c S. 76 und E. 1d S. 80, 117 Ia 257, 117 Ia 372 E. 3a S. 375). Auf die Beschwerde kann insoweit eingetreten werden.
 
2.
 
Nach § 67 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau (StPO) kann Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn ein Beschuldigter einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Handlung dringend verdächtigt wird und zudem Fluchtgefahr oder Kollusionsgefahr besteht. Gemäss § 67 Abs. 2 StPO kann aus sicherheitspolizeilichen Gründen ein Haftbefehl erlassen werden, wenn die Freiheit des Beschuldigten mit Gefahr für andere verbunden ist, insbesondere wenn eine Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit zu befürchten ist. Ist neben dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts einer der besonderen Haftgründe gegeben, steht der Untersuchungshaft unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV nichts entgegen.
 
Unter Bezugnahme auf die persönliche Freiheit bestreitet der Beschwerdeführer das Vorliegen von Wiederholungs- und Fortsetzungsgefahr im Sinne von § 67 Abs. 2 StPO. Demgegenüber hat der Präsident der Beschwerdekammer die Wiederholungsgefahr im angefochtenen Entscheid bejaht und die Haft darauf abgestützt. Es ist daher nur zu prüfen, ob im vorliegenden Fall Wiederholungs- und Fortsetzungsgefahr bejaht und die Haft verfassungsrechtlich darauf abgestützt werden kann.
 
2.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr verfassungsrechtlich zulässig und verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig ist und andererseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um Präventivhaft zu begründen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62, mit Hinweisen).
 
2.2 Für die Beurteilung von Wiederholungsgefahr im vorliegenden Fall ist vorerst vom Urteil des Bezirksgerichts Aarau vom 29. Oktober 2003 auszugehen, mit welchem der Beschwerdeführer wegen Körperverletzung, Drohung und Nötigung verurteilt worden ist. Danach sollen er und sein Vater den Sohn einer verfeindeten Familie unter Waffengewalt entführt, mit Elektroschocks und Schlägen attackiert und ihn unter vorgehaltener Pistole genötigt haben, sich bei ihnen für Beschimpfungen und Drohungen zu entschuldigen. Gegen dieses Urteil hat der Beschwerdeführer Berufung erhoben. Entgegen dessen Auffassung steht die Unschuldsvermutung einer Berücksichtigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils im Hinblick auf die Fortsetzung der Haft im vorliegenden Fall nicht entgegen. Allgemein ist bei der Haftanordnung bzw. -verlängerung stets auf einen hinreichenden Tatverdacht als Haftgrund abzustellen, ohne dass die Schuld bereits durch ein Gericht festgestellt worden ist (vgl. BGE 124 I 327 E. 3c S. 331; Haefliger/ Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl. 1999, S. 209). Gleichermassen stellt es keine Verletzung der Unschuldsvermutung dar, dass der Haftrichter bei der Prüfung eines Haftentlassungsgesuches auf ein früheres, noch nicht abgeschlossenes Verfahren abstellt, um Wiederholungsgefahr zu begründen (VPB 1993 Nr. 69). Im Lichte der Unschuldsvermutung nach Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK ist es daher nicht zu beanstanden, dass der Haftrichter in diesem Sinne auf das noch nicht rechtskräftige Urteil des Bezirksgerichts Aarau abstellte.
 
Ferner ist bei der Beurteilung von Fortsetzungsgefahr im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer gemäss dem angefochtenen Entscheid verdächtigt wird, zusammen mit einem Komplizen am 24. Oktober 2003 einen Landsmann von Effretikon in Olten getroffen, hernach nach Turgi in einen Industriekomplex verbracht und dort unter Gewaltanwendung und -androhung (Vorhalten von Waffen und Verabreichen von Elektroschocks) zur Herausgabe grösserer Geldmengen gezwungen zu haben. Weiter wird ihm vorgehalten, mit demselben Komplizen zwei Personen von Luzern zu einem Büroraum nach Turgi verfrachtet, sie mit Waffen bedroht und mit Elektroschocks behandelt und schliesslich den einen dazu gezwungen zu haben, seinen "Audi TT" gestützt auf einen "Vertrag" unentgeltlich dem Beschwerdeführer zu überlassen. Zudem sind beim Beschwerdeführer und seinem Komplizen Waffen gefunden worden.
 
Darüber hinaus haben die Strafverfolgungsbehörden weitere Vorfälle untersucht. Danach wird dem Beschwerdeführer vorgehalten, am 21. März 2003 in Mellingen Menschen in unmittelbare Lebensgefahr gebracht und an Körper und Gesundheit geschädigt zu haben. Ferner soll er am 18. Oktober 2003 versucht haben, jemanden unrechtmässig festzunehmen, gefangen zu halten oder in anderer Weise die Freiheit zu entziehen und diese Person an Körper und Gesundheit zu schädigen. Diese Vorfälle sind nunmehr auch in die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 25. Oktober 2004 eingeflossen.
 
2.3 Aus dem Vergleich zwischen den dem Beschwerdeführer im bezirksgerichtlichen Urteil vorgehaltenen Straftaten, den im angefochtenen Haftentscheid erwähnten Delikten sowie den weitern untersuchten Straftaten zeigen sich klarerweise Parallelen. Dem Beschwerdeführer wird im Wesentlichen vorgeworfen, Personen entführt und unter Anwendung bzw. Androhung von Gewalt (Schläge, Elektroschocks und Bedrohung mit Waffen) zu gewissen Handlungen gezwungen zu haben. Es bestehen daher hinreichend konkrete Anhaltspunkte, die befürchten lassen, dass der Beschwerdeführer, würde er in Freiheit gelassen, in gleicher oder ähnlicher Weise weitere Straftaten begehen würde. Zum andern wiegen die Straftaten mit grossem Gewaltpotential äusserst schwer. Bei dieser Sachlage kann dem Haftrichter nicht vorgehalten werden, in verfassungswidriger Weise Wiederholungs- bzw. Fortsetzungsgefahr bejaht zu haben. Die Beschwerde erweist sich im Hauptantrag als offensichtlich unbegründet.
 
2.4 Der Beschwerdeführer beantragt im Eventualstandpunkt die Entlassung aus der Haft unter Anordnung milderer Massnahmen in Form einer Kontakt- und Schriftensperre. Er begründet diesen Antrag nicht bzw. nicht in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise. Daher ist insoweit auf die Beschwerde nicht einzutreten.
 
3.
 
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
Der Beschwerdeführer ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 OG. Solchen Gesuchen kann stattgegeben werden, wenn die Rechtsbegehren nicht als aussichtslos erscheinen. Die vorliegende Beschwerde erweist sich indessen von vornherein als aussichtslos. Demnach ist das Ersuchen abzuweisen. In Anbetracht der gesamten Umstände rechtfertigt es sich indessen, von der Erhebung einer Gerichtsgebühr abzusehen (Art. 154 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht
 
im Verfahren nach Art. 36a OG:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Baden sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. November 2004
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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