VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 139/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 139/2004 vom 20.10.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 139/04
 
Urteil vom 20. Oktober 2004
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiber Lanz
 
Parteien
 
G.________, 1969, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Herbert Bracher, Hauptgasse 35, 4500 Solothurn,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
 
(Entscheid vom 30. Januar 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1969 geborene türkische Staatsangehörige G.________ reiste im Jahr 1980 in die Schweiz ein und schloss hier die Volksschule ab. Danach war er als Hilfskraft bei verschiedenen Unternehmungen und zuletzt ab 1988 als Transporteur in einem metallverarbeitenden Betrieb tätig. Ab November 1997 bestand wegen persistierenden Rückenschmerzen eine Arbeitsunfähigkeit, was die Arbeitgeberin veranlasste, im Juni 1998 die Kündigung des Anstellungsverhältnisses per Ende September 1998 auszusprechen. Im Dezember 1998 meldete sich G.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern zog Arztberichte bei und veranlasste einen Eingliederungsversuch, der erfolglos blieb. Nachdem verschiedene ambulante und stationäre medizinische Behandlungen nicht zu einer bleibenden Besserung des somatischen und mittlerweile auch psychischen Leidensbildes geführt hatten, holte die Verwaltung ein MEDAS-Gutachten vom 4. Juni 2002 ein und prüfte die Rentenfrage. Gestützt auf die fachärztlichen Feststellungen sprach sie dem Versicherten mir Verfügungen vom 21. Oktober 2002 Rentenleistungen zu. Am 25. Oktober 2002 hob die IV-Stelle diese Verwaltungsakte wiedererwägungsweise auf, und sie entschied neu über die Anspruchsberechtigung, indem sie G.________ mit einer ersten Verfügung rückwirkend ab 1. Oktober 2002 eine halbe Invalidenrente nebst Zusatzrente für die Ehegattin und einer Kinderrente für die Tochter (geb. im Januar 1991), und mit einer zweiten Verfügung eine ab 1. November 1999 laufende Kinderrente für den Sohn (geb. im November 1999) zusprach. Dies verband sie mit dem Hinweis, dass über die Berechtigung auf die mit der ersten Verfügung zugesprochenen Leistungen für den Zeitraum vom 1. November 1998 bis 30. September 2002 nach Klärung von Dritt- resp. Verrechnungsforderungen zu befinden sein werde (Verfügungen vom 25. Oktober 2002).
 
B.
 
G.________ erhob gegen die Verfügungen vom 25. Oktober 2002 Beschwerde mit dem Antrag, es sei ihm rückwirkend ab 1. November 1998 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
 
Während des kantonalen Gerichtsverfahrens verfügte die IV-Stelle am 13. März 2003 die ab 1. Oktober 2002 zugesprochenen Renten auch für den Zeitraum vom 1. November 1998 bis 30. September 2002, wobei sie zugleich - im zwischenzeitlich erzielten Einvernehmen mit dem Versicherten - über eine Verrechnung mit geleisteten IV-Taggeldern und die Vergütung eines Drittanspruches befand. Daran hielt die Verwaltung auf die von G.________ im Rentenpunkt erhobene Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 5. September 2003). Hiegegen reichte der Versicherte wiederum Beschwerde ein.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern vereinigte die beiden Rechtsmittelverfahren und wies die Beschwerden mit Entscheid vom 30. Januar 2004 ab.
 
C.
 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und sein vorinstanzliches Rechtsbegehren auf Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab 1. November 1998 erneuern.
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne weiter zur Sache Stellung zu nehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer ab 1. November 1998 Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (nebst Zusatzrente für die Ehefrau und zwei Kinderrenten, wovon die eine laufend erst ab 1. November 1999) hat. Streitig und zu prüfen ist, ob die Leistungsberechtigung in einer ganzen anstelle der zugesprochenen halben Invalidenrente (mit den entsprechenden Auswirkungen auf die akzessorischen Renten) besteht.
 
2.
 
2.1 Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 am 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen - grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (noch nicht in der Amtlichen Sammlung publiziertes Urteil M. vom 5. Juli 2004, I 690/03, Erw. 1 mit Hinweisen). Da rechtsprechungsgemäss der streitige Verwaltungsakt (hier: Verfügungen vom 25. Oktober 2002 und Einspracheentscheid vom 5. September 2003) die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 129 V 4 Erw. 1.2; vgl. auch noch nicht in der Amtlichen Sammlung publiziertes Urteil M. vom 5. Juli 2004, I 690/03, Erw. 1, je mit Hinweisen), finden demgegenüber die am 1. Januar 2004 im Rahmen der 4. IV-Revision in Kraft getretenen Rechtsänderungen keine Anwendung (Urteil A. vom 9. September 2004, I 269/04, Erw. 1.1).
 
2.2 Das kantonale Gericht hat die demnach für die Anspruchsberechtigung bis 31. Dezember 2002 massgebenden Rechtsgrundlagen im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Gesetzesbestimmungen über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 IVG in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung), die Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 [in der bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung] und Abs. 1bis [in Kraft gewesen bis Ende 2003]) und die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen (Art. 28 Abs. 2 IVG, in Kraft gewesen bis Ende 2002) sowie die hiezu von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze. Darauf wird verwiesen.
 
Was die Rentenberechtigung ab 1. Januar 2003 betrifft, ist in Ergänzung der vorinstanzlichen Erwägungen festzuhalten, dass sich mit In-Kraft-Treten des ATSG an den oben dargelegten gesetzlichen Grundlagen inhaltlich nichts Wesentliches geändert hat und auch die dazu ergangene Rechtsprechung anwendbar bleibt (noch nicht in der Amtlichen Sammlung publizierte Urteile M. vom 5. Juli 2004, I 690/03, Erw. 2, und A. vom 30. April 2004, I 626/03, Erw. 2 und 3).
 
3.
 
Verwaltung und Vorinstanz haben den Invaliditätsgrad mittels Einkommensvergleich bestimmt und sind gestützt auf die Angaben der früheren Arbeitgeberin davon ausgegangen, dass der Versicherte ohne invalidisierende Gesundheitsschädigung im Jahr 1998 (Rentenbeginn als massgebender Vergleichszeitpunkt; vgl. BGE 129 V 222) mutmasslich ein Erwerbseinkommen von Fr. 62'700.- (Valideneinkommen) erzielt hätte. Hiegegen werden, nach Lage der Akten zu Recht, keine Einwendungen erhoben.
 
Streitig ist, welches Einkommen der Beschwerdeführer trotz invalidisierender Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch erzielen könnte (Invalideneinkommen) und dabei vorab die Frage, ob und bejahendenfalls in welchem Umfang aus medizinischer Sicht überhaupt noch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erwartet werden darf.
 
4.
 
4.1 Gemäss MEDAS-Gutachten vom 4. Juni 2002 leidet der Beschwerdeführer an einem chronischen Lumbovertebralsyndrom bei Discopathie L5/S1 mit wahrscheinlich radikulärem Reizsyndrom L5 links, an einer depressiven Entwicklung resp. langanhaltenden mittelgradigen depressiven Episode mit somatischem Syndrom sowie an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Diese Diagnosen stimmen, auch im Verständnis der Parteien, mit den Beurteilungen in den übrigen medizinischen Akten weitgehend überein.
 
4.2 Die MEDAS-Fachärzte sind im Gutachten vom 4. Juni 2002 weiter zum Ergebnis gelangt, dem Beschwerdeführer seien körperlich anstrengende Tätigkeiten resp. körperliche Schwerarbeiten gesundheitsbedingt nur noch zu 30 % zumutbar. Eine körperlich adaptierte Arbeit (ohne Zwangshaltungen und repetitives Lastenheben, mit der Möglichkeit, die Körperposition zu wechseln) hingegen sei in Anbetracht der nur bescheidenen somatischen Befunde vollumfänglich möglich. Die funktionelle Leistungsfähigkeit in einer solchen Betätigung sei aber aufgrund des psychischen Krankheitsbildes um 50 % eingeschränkt.
 
4.2.1 Der Versicherte beanstandet die Aussagen der MEDAS-Experten zur somatisch bedingten Beeinträchtigung - nach Lage der übrigen medizinischen Akten zu Recht - nicht. Er macht aber geltend, dass unter Berücksichtigung auch der psychischen Leidenskomponenten insgesamt eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit bestehe. Hiebei beruft er sich namentlich auf entsprechende Stellungnahmen der Klinik L.________, Medizinische Abteilung, in welchem er sich auf Veranlassung des Hausarztes wiederholt auch zur stationären Behandlung aufgehalten hat, und des Dr. med. W.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, welcher den Versicherten seit April 2000 behandelt.
 
4.2.2 Dr. med. W.________ begründet im Bericht vom 14. April 2002 seine Aussage, wonach nebst der bisher ausgeübten Arbeit auch jede andere Erwerbstätigkeit psychisch nicht zumutbar sein soll, einzig mit der fehlenden Berufsausbildung des Versicherten und mit gescheiterten Wiedereingliederungsversuchen. Eine gesundheitsbedingte volle Arbeitsunfähigkeit ist damit nicht dargetan. Zu beachten ist ferner, dass Stellungnahmen des Hausarztes mit Blick auf dessen auftragsrechtliche Vertrauensstellung mit Zurückhaltung zu würdigen sind (vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc mit Hinweisen), was für Berichte des die versicherte Person behandelnden Spezialarztes gleichermassen gilt (Urteile J. vom 17. Juni 2004, U 164/03, Erw. 3.3, und R. vom 26. Juni 2003 Erw. 2.2.3, I 460/02).
 
Die Stellungnahmen seitens der Klinik L.________ (namentlich im Austrittsbericht vom 20. Dezember 2001) wurden nicht im Rahmen eines Begutachtungsauftrages eines Sozialversicherungsträgers oder -gerichtes abgegeben. Es handelt sich dabei im Wesentlichen lediglich um Berichte über die erfolgte Behandlung des Versicherten. Die Klinikärzte messen zudem der psychosozialen Belastungssituation eine wesentliche Bedeutung zu, ohne überzeugend darzutun, dass eine davon zu trennende verselbstständigte psychische Störung eine volle Arbeitsunfähigkeit zu begründen vermöchte (vgl. BGE 127 V 299). Zu beachten ist überdies, dass mit der Aussage, der Beschwerdeführer sei nicht vermittelbar und keinem Arbeitgeber auf dem freien Arbeitsmarkt zumutbar, bereits eine erwerbsbezogene Wertung vorgenommen wird, welche im Rahmen der Invaliditätsbemessung nicht dem Arzt obliegt (BGE 125 V 261 Erw. 4).
 
4.2.3 Zusammenfassend vermögen die Stellungnahmen des Dr. W.________ und der Klinik L.________ nicht, Zweifel an der auf polydisziplinären Untersuchungen des Versicherten und der Kenntnis der medizinischen Vorakten beruhenden, einlässlich erläuterten und auch hinsichtlich der getroffenen Schlussfolgerungen überzeugenden Beurteilung im MEDAS-Gutachten vom 4. Juni 2002 zu begründen. Die MEDAS-Experten haben dabei den von ihnen ausdrücklich erwähnten Bericht der Klinik L.________ vom 20. Dezember 2001 mit berücksichtigt. Sie sahen sich deswegen nicht veranlasst, von der auf einer nachvollziehbar dargelegten Gesamtwürdigung fussenden Einschätzung zur Restarbeitsfähigkeit abzuweichen. Wie das kantonale Gericht zudem richtig erkannt hat, sind - entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneut vertretenen Auffassung - die Aussagen im MEDAS-Gutachten zu den dem Versicherten aus ärztlicher Sicht noch zumutbaren Tätigkeiten auch hinreichend präzise, um die erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitsschadens ermitteln zu können.
 
5.
 
Für die Bemessung des dem Versicherten noch zumutbaren Invalideneinkommens haben Verwaltung und Vorinstanz mangels erneuter Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch den Beschwerdeführer zulässigerweise statistische Durchschnittslöhne herangezogen (BGE 126 V 76 f. Erw. 3b/bb).
 
Gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) belief sich der monatliche Bruttolohn (Zentralwert bei einer standardisierten Arbeitszeit von 40 Wochenstunden) der mit einfachen und repetitiven Arbeiten (Anforderungsniveau 4) im gesamten privaten Sektor beschäftigten Männer im Jahr 1998 auf Fr. 4268.- (LSE 1998 Tabelle TA1). Die Umrechnung auf die betriebsübliche Arbeitszeit im Jahr 1998 von 41,9 Wochenstunden (Die Volkswirtschaft, Heft 10/2004, Tabelle B9.2 S. 90) führt bei der noch gegebenen hälftigen Arbeitsfähigkeit aufs Jahr zu einem Einkommen von Fr. 26'824.- (Fr. 4268.- : 40 x 41,9 : 2 x 12).
 
Vom anhand von Tabellenlöhnen ermittelten Invalideneinkommen kann unter bestimmten, von der Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen ein Abzug vorgenommen werden, wobei dieser für sämtliche in Betracht fallenden Umstände (leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) gesamthaft zu schätzen und unter Berücksichtigung aller jeweils in Betracht fallender Merkmale auf höchstens 25 % zu beschränken ist (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5).
 
Die Verwaltung hat einen leidensbedingten Abzug von 10 % vorgenommen, was mit der Vorinstanz als angemessen zu betrachten ist. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nichts vorgebracht, was einen höheren Abzug zu rechtfertigen vermöchte. Das Invalideneinkommen beläuft sich demnach auf Fr. 24'141.- (90 % von Fr. 26'824.-), was im Vergleich mit dem Valideneinkommen von Fr. 62'700.- (Erw. 3 hievor) eine invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse von 38'559.-, entsprechend einem Invaliditätsgrad von rund 61.5 %, ergibt. Damit besteht (jedenfalls bis 31. Dezember 2003 [In-Kraft-Treten der 4. IV-Revision]) Anspruch lediglich auf die zugesprochene halbe Rente.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 20. Oktober 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).