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Informationen zum Dokument  BGer C 114/2004  Materielle Begründung
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BGer C 114/2004 vom 14.10.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
C 114/04
 
Urteil vom 14. Oktober 2004
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und nebenamtlicher Richter Maeschi; Gerichtsschreiberin Schüpfer
 
Parteien
 
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen, Davidstrasse 21, 9001 St. Gallen, Beschwerdeführerin, vertreten durch das Amt für Arbeit, Unterstrasse 22, 9001 St. Gallen,
 
gegen
 
G.________, 1962, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Robert Baumann, Brühlgasse 39, 9000 St. Gallen
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 24. Mai 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1962 geborene G.________ war seit dem 1. November 2002 als Küchenchef eines Restaurantbetriebes bei der Firma F.________ AG angestellt gewesen. Am 15. Mai 2003 löste die Firma unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist von einem Monat das Arbeitsverhältnis per 30. Juni 2003 auf. Dies mit dem Hinweis, die Gesellschaft müsse eventuell die Bilanz deponieren und eine Weiterführung des Betriebes bis zum genannten Zeitpunkt könne nicht zugesichert werden. Nach Ablauf der Kündigungsfrist war der Versicherte noch bis zum 5. Juli 2003 mit Putz- und Aufräumarbeiten beschäftigt. Am 14. August 2003 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet, in welchen G.________ am 27. August 2003 eine Lohnforderung für die Zeit vom 1. April bis 5. Juli 2003 von Fr. 19'130.- (einschliesslich Anteil Gratifikation/13. Monatslohn und Ferienanspruch) eingab.
 
Bereits am 11. Juli 2003 hatte G.________ bei der Kantonalen Arbeitslosenkasse St. Gallen einen Antrag auf Insolvenzentschädigung eingereicht. Nach Aufforderung der Arbeitslosenkasse, Angaben zu den bisher unternommenen Anstrengungen zur Realisierung der Lohnansprüche zu machen, liess er sich am 29. August 2003 dahin vernehmen, er habe sich zunächst beim Betreibungs- und dann auch beim Konkursamt erkundigt, was er tun müsse, um den ausstehenden Lohn zu erhalten. Auf dem Konkursamt habe man ihm gesagt, die Firma habe zwei Monate Zeit, um die Buchhaltung zu deponieren; danach könne er die Arbeitgeberin betreiben. Mit Verfügung vom 1. September 2003 lehnte die Arbeitslosenkasse das Leistungsbegehren ab. Aufgrund der Angaben des Versicherten sei davon auszugehen, dass er nicht alles unternommen habe, um die ausstehenden Löhne geltend zu machen. Da er der ihm obliegenden Schadenminderungspflicht nicht hinreichend nachgekommen sei, bestehe kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung. Mit Einspracheentscheid vom 9. Dezember 2003 hielt sie an dieser Verfügung fest.
 
B.
 
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde gelangte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zum Schluss, der Vorwurf, der Versicherte habe mit seinem Verhalten die Schadenminderungspflicht verletzt, sei nach den gesamten Umständen nicht gerechtfertigt. Dementsprechend hob es den angefochtenen Einspracheentscheid auf und wies die Sache an die Arbeitslosenkasse zurück, damit sie über die Insolvenzentschädigung neu verfüge (Entscheid vom 24. Mai 2004).
 
C.
 
Vertreten durch das Amt für Arbeit, St. Gallen, führt die Kantonale Arbeitslosenkasse Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei festzustellen, dass der Versicherte keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung habe.
 
G.________ lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) verzichtet auf Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Im vorinstanzlichen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG), den Umfang des Anspruchs (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der seit 1. Juli 2003 gültigen Fassung) sowie über die Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 59 Erw. 3d; ARV 2002 Nr. 8 S. 62 ff. und Nr. 30 S. 190 ff., 1999 Nr. 24 S. 140 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Da die per 1. Juli 2003 in Kraft getretene Änderung von Art. 52 Abs. 1 AVIG einzig die Anspruchsberechtigung für allfällige Lohnforderungen für Arbeitsleistungen nach der Konkurseröffnung betrifft, und solche Ansprüche vorliegend nicht zur Diskussion stehen, kann offen gelassen werden, ob Art. 52 Abs. 1 AVIG übergangsrechtlich in der alten oder neuen Fassung zur Anwendung gelangt.
 
1.2 Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren. Sie bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 60 Erw. 4; ARV 1999 Nr. 24 S. 140 ff.). Sie obliegt der versicherten Person in reduziertem Umfang schon vor der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitgeber der Lohnzahlungspflicht nicht oder nur teilweise nachkommt und mit einem Lohnverlust zu rechnen ist (ARV 2002 Nr. 30 S. 190).
 
2.
 
Aufgrund der Akten ist davon auszugehen, dass der Lohn des Beschwerdegegners bis Februar 2003 ordnungsgemäss bezahlt worden ist. Derjenige für März 2003 wurde ihm in Teilzahlungen vom 15. April, 1. Mai, 3. Juni und 5. Juli 2003 ausgerichtet. Für die Zeit von April bis Juni 2003 und die zusätzlichen Arbeitstage bis 5. Juli 2003 hat er keinen Lohn mehr erhalten. Seinen Angaben zufolge hat er den Arbeitgeber mündlich gemahnt. Dass er nicht sofort schriftlich und mit Androhung einer Betreibung und Klage reagiert habe, sei zum einen auf das gute und vertrauenswürdige Arbeitsverhältnis und zum andern darauf zurückzuführen, dass vom Arbeitgeber abgegebene Zusicherungen, die Lohnausstände würden beglichen, bis dahin eingehalten worden seien. Zudem habe ihm der Arbeitgeber zu verstehen gegeben, dass ein schriftliches Vorgehen zwecklos sei und er den ausstehenden Lohn erhalten werde. Nach der am 15. Mai 2003 erfolgten Kündigung des Arbeitsverhältnisses hat er sich - wiederum seinen Angaben zufolge - anfangs Juni beim Betreibungs- und beim Konkursamt erkundigt, wo ihm von einer Betreibung abgeraten und die Auskunft erteilt worden sei, für weitere Schritte die Deponierung der Bilanz durch die Gesellschaft abzuwarten. Am 11. Juli 2003 und damit noch vor der Konkurseröffnung vom ...... 2003 hat er das Begehren um Insolvenzentschädigung eingereicht.
 
3.
 
3.1 Nach der Rechtsprechung obliegt dem Versicherten vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht die gleiche Schadenminderungspflicht wie danach. Das Ausmass der vorausgesetzten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Vom Arbeitnehmer wird in der Regel nicht verlangt, dass er bereits während des bestehenden Arbeitsverhältnisses gegen den Arbeitgeber Betreibung einleitet oder eine Klage einreicht. Er hat jedoch seine Lohnforderung gegenüber dem Arbeitgeber in eindeutiger und unmissverständlicher Weise geltend zu machen (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). Zu weitergehenden Schritten ist der Versicherte dann gehalten, wenn es sich um erhebliche Lohnausstände handelt und er konkret mit einem Lohnverlust rechnen muss. Denn es geht auch für die Zeit vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses unter arbeitslosenversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht an, dass der Versicherte ohne hinreichenden Grund während längerer Zeit keine rechtlichen Schritte zur Realisierung erheblicher Lohnausstände unternimmt, obschon er konkret mit einem Lohnverlust rechnen muss (Urteil G. vom 4. Juli 2002, C 33/02).
 
3.2 Im Lichte dieser Rechtsprechung kann dem Beschwerdegegner nicht zur Last gelegt werden, dass er vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses keine rechtlichen Schritte (schriftliche Mahnung, Betreibung, Klage) zur Realisierung der Lohnforderung unternommen hat. Bis zu der am 15. Mai 2003 ausgesprochenen Kündigung des Arbeitsverhältnisses war lediglich ein Teil des Lohnes für März und derjenige für April 2003 ausstehend, wozu bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses per 30. Juni 2003 noch die Löhne für Mai und Juni 2003 kamen. Den März-Lohn hat der Arbeitgeber in Teilbeträgen am 15. April, 1. Mai, 3. Juni und 5. Juli 2003 überwiesen und dem Beschwerdegegner auf wiederholte mündliche Mahnungen glaubhaft zugesichert, dass das restliche Lohnguthaben ebenfalls bezahlt werde. Es bestand für den Beschwerdegegner daher kein zwingender Anlass, bereits vor der Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtliche Schritte zur Realisierung der Lohnforderung zu unternehmen. Während der Kündigungsfrist und in der Zeit nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses ist er sodann nicht untätig geblieben, sondern hat sich seinen Angaben zufolge beim Betreibungs- und beim Konkursamt über seine Rechte und Pflichten informiert, wo ihm angeblich eine Auskunft erteilt wurde, welche er in guten Treuen dahin verstehen durfte, dass er mit rechtlichen Schritten zuwarten solle. Die Arbeitslosenkasse hat den Sachverhalt in diesem Punkt nicht näher abgeklärt, ihn aber auch nicht bestritten. Zu einer Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu ergänzenden Abklärungen besteht kein Anlass, da nichts gegen die Glaubwürdigkeit der vom Beschwerdegegner vorgebrachten Sachverhaltsdarstellung spricht. Der geltend gemachten Auskunft kommt zudem nicht ausschlaggebende Bedeutung zu, weil die Gesellschaft bereits am 18. Juli 2003 die Bilanz deponiert hat und am ...... 2003 über sie der Konkurs eröffnet wurde. Ungeachtet der geltend gemachten Auskunft wäre dem Beschwerdegegner daher nur wenig Zeit für rechtliche Schritte zur Realisierung der Lohnansprüche verblieben und es ist nicht anzunehmen, dass entsprechende Vorkehren erfolgreich gewesen wären. Soweit eine Verletzung der Schadenminderungspflicht anzunehmen ist, wiegt sie nach den gesamten Umständen jedenfalls nicht derart schwer, dass sie mit einer Leistungsverweigerung zu sanktionieren wäre. Dem vorinstanzlichen Entscheid ist deshalb beizupflichten.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) für das letztinstanzliche Verfahren zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
 
Luzern, 14. Oktober 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
i.V.
 
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