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Informationen zum Dokument  BGer 5C.157/2004  Materielle Begründung
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BGer 5C.157/2004 vom 09.08.2004
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
5C.157/2004 /bie
 
Urteil vom 9. August 2004
 
II. Zivilabteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Raselli, Präsident,
 
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichter Meyer,
 
Gerichtsschreiber Möckli.
 
Parteien
 
X.________, Berufungsklägerin,
 
vertreten durch Rechtsanwalt lic iur. Christian Schroff.
 
Gegenstand
 
Obhutsentzug und Fremdplatzierung.
 
Berufung gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 26. Mai 2004.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.________, geboren am 7. Oktober 1999, ist die Tochter von X.________ und A.________. Am 2. Dezember 1999 ordnete die Vormundschaftsbehörde G.________ eine Erziehungsbeistandschaft an. Am 24. Januar 2002 übertrug sie den Eltern auf deren Wunsch die gemeinsame elterliche Sorge. Am 21. März 2002 verfügte sie wiederum deren Entzug, nachdem B.________ in die Klinik für Kinder und Jugendliche des Kantonsspitals H.________ eingeliefert worden war und der dortige Oberarzt Dr. D.________ der Vormundschaftsbehörde mitgeteilt hatte, die Kindsmutter leide unter einer schweren Drogenabhängigkeit und sei auf Grund ihrer Suchtproblematik mit der Geldbeschaffung durch Prostitution derart absorbiert, dass die Voraussetzungen für eine adäquate Versorgung und emotionale Beziehung mit dem Kind in keiner Weise gegeben sei.
 
B.
 
Mit Verfügung vom 5. Juni 2002 entzog die Vormundschaftsbehörde G.________ den Eltern die Obhut und brachte B.________ mit Wirkung ab 2. Juni als Pflegekind bei der Familie C.________ unter. Am 27. Juni 2002 verfügte sie, dass B.________ als Pflegekind bis auf weiteres bei der Familie C.________ bleibe. Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden am 13. Januar 2003 vom Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau und dann am 14. Mai 2003 vom Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau abgewiesen. Mit Urteil vom 6. August 2003 hob das Bundesgericht den Entscheid des Verwaltungsgerichts wegen der weitgehend fehlenden Sachverhaltsdarstellung auf und wies die Sache zur Aktenergänzung und neuen Entscheidung zurück.
 
C.
 
In der Folge gab das Verwaltungsgericht am 5. November 2003 bzw. 2. Dezember 2003 bei Dr. E.________, Kinder- und Jugendpsychiater FMH, ein Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Kindsmutter, zur Möglichkeit einer betreuten Wohnsituation von Mutter und Kind sowie zu einer Fremdplatzierung des Kindes in Auftrag.
 
In seinem Gutachten vom 29. März 2004 diagnostizierte dieser bei B.________ starke Anzeichen einer frühkindlichen, emotionalen und erzieherischen Verwahrlosung. Die Entwicklung des Urvertrauens sei noch nicht durchgängig tragend und das Bindungsverhalten massiv unsicher und angstbelastet. B.________ habe auf der ganzen Linie einen Entwicklungsrückstand von über einem Lebensjahr, sei aber unter guten, stabilen und zuverlässigen emotionalen Bedingungen lernfähig. Es sei von einer Pseudodebilität zu sprechen. Der Zustand sei alarmierend. Sodann hielt Dr. E.________ in seinem Gutachten fest, die Kindsmutter sei bereit, an sich zu arbeiten, und hege für B.________ die besten Absichten. Sogar bei positivem Verlauf einer unter idealen Bedingungen durchgeführten Therapie brauche sie aber noch (zu) viel Zeit, um selber ein ausreichendes Mass an Stabilität und Beziehungskonstanz zu entwickeln, als dass sie ihrer Tochter "eine genügend gute Mutter" sein könnte. Diese Zeit stehe dem bereits schwer geschädigten Kind (mit den Diagnosen einer schweren emotionalen Deprivation mit erzieherischer Verwahrlosung, einem allgemeinen Entwicklungsrückstand von zirka einem Jahr und der Pseudodebilität) aber nicht mehr zur Verfügung. Weiter sei zu beachten, dass B.________ ihren Bezugspersonen inskünftig wegen ihren Defiziten in emotionaler und pädagogischer Hinsicht noch viele Schwierigkeiten bereiten werde. Das Mädchen müsse, um möglichst grosse Erfolgsaussichten zu haben, in einer professionell geführten heilpädagogischen Pflegefamilie platziert werden. Da zur Familie C.________ immer noch gute Beziehungen bestünden - B.________ lebte, nachdem C.________'s den Pflegevertrag im Frühling 2003 gekündigt hatten, bei ihrer Grossmutter väterlicherseits - sei dieser Lösung der Vorzug zu geben, falls die Pflegeeltern auf eine fachliche Begleitung zurückgreifen könnten. Die Familie C.________ habe das Pflegeverhältnis nicht aufgelöst, weil sie mit der Betreuung von B.________ überfordert gewesen sei, sondern weil sie sich von den Behörden zu wenig verstanden, unterstützt und vor den Angriffen der Kindsmutter geschützt gefühlt habe. Es sei nach einer Rückplatzierung damit zu rechnen, dass die Kindsmutter wieder mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen agieren werde. Deshalb sei es unabdingbar, dass die zuständigen Behörden eine klare Haltung einnähmen und den Pflegeplatz konsequent schützten. In der Anfangszeit müsse das Besuchsrecht der Eltern ausgesetzt werden, um B.________ zur Ruhe kommen zu lassen und sie nicht einem erneuten, schwerwiegenden Loyalitätskonflikt auszusetzen. Frühestens nach drei bis sechs Monaten könne zuerst ein begleitetes, dann allmählich, je nach Kooperation der Eltern, ein unbegleitetes Besuchsrecht zugestanden werden.
 
Insbesondere gestützt auf dieses Gutachten, aber auch auf dasjenige von Dr. D.________ vom 11. August 2003, wonach die Kindsmutter zurzeit nicht in der Lage sei, für ihre Tochter verlässlich und in adäquater Weise dauerhaft zu sorgen, und wonach der Betreuung B.________'s in einer geeigneten Pflegefamilie gegenüber einem Aufenthalt in einer Mutter-Kind-Institution der Vorzug zu geben sei, wies das Verwaltungsgericht an seiner Sitzung vom 26. Mai 2004 die Beschwerde der Kindsmutter ab und bestätigte die Fremdplatzierung von B.________.
 
D.
 
Gegen diesen Entscheid hat die Kindsmutter am 10. Juli 2004 Berufung und staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. In ihrer Berufung verlangt sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Anordnung eines betreuten Wohnens ohne Entzug der Obhut. Ferner ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. Es ist keine Berufungsantwort eingeholt worden. Mit Entscheid heutigen Datums hat das Bundesgericht die staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. c OG ist in der Berufung kurz darzulegen, welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt sind. Die Begründung muss in der Berufungsschrift selbst enthalten sein; soweit die Berufungsklägerin auf ihre Eingaben im kantonalen Verfahren verweist, kann auf die Berufung nicht eingetreten werden (BGE 126 III 198 E. 1d S. 201; 116 II 92 E. 2 S. 93 f.). Ebenso wenig kann auf die Behauptung, in Verletzung von Art. 9 BV seien die Sachverhaltsfeststellungen aktenwidrig, und auf Rüge, in Verletzung von Art. 14 und 29 BV sowie Art. 6 und 8 EMRK sei das Verfahren verzögert worden, eingetreten werden; hierfür ist die staatsrechtliche Beschwerde vorbehalten (Art. 43 Abs. 1 OG).
 
2.
 
Ihren materiellen Ausführungen legt die Berufungsklägerin zu Grunde, dass die Vorinstanz nicht vom aktuellen Stand der Dinge hätte ausgehen dürfen, sondern dass sie die Frage hätte beurteilen müssen, ob im Frühling 2002 ein betreutes Wohnen bzw. eine Therapie in F.________ angezeigt gewesen wäre.
 
Mit dieser Argumentation überspielt die Berufungsklägerin, dass nicht das Kind für ihre Therapierung da ist, sondern für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen allein das Kindeswohl massgeblich ist. Aus diesem Grund geht auch ihre sinngemässe Forderung, es müsse ihr eine reelle Bewährungschance geboten werden, an der Sache vorbei; der Obhutsentzug setzt nicht voraus, dass weniger weit gehende Massnahmen versucht worden, aber erfolglos geblieben sind (Breitschmid, Basler Kommentar, N. 4 zu Art. 310 ZGB). Sodann verkennt die Berufungsklägerin, dass die Behörden im Bereich der Kindesschutzmassnahmen von Amtes wegen einzuschreiten haben, sobald sie von einer Gefährdung des Kindes Kenntnis erhalten (Hegnauer, a.a.O., N. 27.63), und dass in sämtlichen Kinderbelangen uneingeschränkt die Offizial- und die Untersuchungsmaxime gilt (BGE 122 III 404 E. 3d S. 408; 120 II 229 E. 1c S. 231). Die zuständigen Behörden sind daher verpflichtet, den relevanten Sachverhalt umfassend abzuklären (Brönnimann, Gedanken zur Untersuchungsmaxime, in: ZBJV 1990, S. 329 ff., insb. S. 356 f.), und es sind im kantonalen Verfahren alle neuen Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (Brönnimann, a.a.O., S. 354 f.). Damit fallen die auf der Hypothese, zu beurteilen sei ein früherer Zustand, basierenden Vorbringen der Berufungsklägerin weitgehend in sich zusammen.
 
Bereits aus dem Gutachten von Dr. D.________ vom 11. August 2003, aber insbesondere aus demjenigen von Dr. E.________ vom 29. März 2004, das sowohl auf Gesprächen mit allen Beteiligten (Kindsmutter, Kindsvater, Grossmutter, Pflegefamilie) als auch auf eigenen Untersuchungen von B.________ basiert, wird mit aller Deutlichkeit klar, dass einzig die Fremdplatzierung in Frage kommt und ein betreutes Wohnen ausser Diskussion steht, weil die Kindsmutter nach wie vor ausser Stande ist, für ihre Tochter zu sorgen, umso mehr als diese in emotionaler und pädagogischer Hinsicht grosse Defizite aufweist und deshalb verstärkt auf ein stabiles, ihre körperliche, geistige und sittliche Entfaltung förderndes Umfeld angewiesen ist. Entgegen den sinngemässen Vorbringen der Berufungsklägerin sind deshalb die aus Art. 307 ZGB fliessenden Grundsätze der Subsidiarität, der Komplementarität und der Proportionalität gewahrt.
 
Kommt ein betreutes Wohnen in Nachachtung der Maxime des Kindeswohls nicht (mehr) in Betracht, werden die Vorbringen der Berufungsklägerin im Zusammenhang mit dem Alkoholabusus ebenso gegenstandslos wie die behauptete Therapiewilligkeit.
 
3.
 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Berufung abzuweisen ist, soweit auf sie eingetreten werden kann. Aufgrund der klaren Aktenlage und des eindeutigen Beweisergebnisses ist die Berufung als von vornherein aussichtslos zu bezeichnen. Die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sind damit nicht erfüllt (Art. 152 Abs. 1 OG) und die Berufungsklägerin wird kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch der Berufungsklägerin um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Berufungsklägerin auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird der Berufungsklägerin und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 9. August 2004
 
Im Namen der II. Zivilabteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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