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Informationen zum Dokument  BGer C 192/2000  Materielle Begründung
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BGer C 192/2000 vom 29.06.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
C 192/00
 
Urteil vom 29. Juni 2004
 
I. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Schön, Ferrari und Ursprung; Gerichtsschreiber Widmer
 
Parteien
 
Z.________, 1956, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Sack, St. Leonhardstrasse 32, 9001 St. Gallen,
 
gegen
 
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen, Davidstrasse 21, 9001 St. Gallen, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 3. Mai 2000)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1956 geborene Z.________ ist verheiratet und Mutter von sechs Kindern. Der älteste Sohn absolvierte seit 4. August 1997 eine Berufslehre. Am 11. März 1998 stellte Z.________ Antrag auf Arbeitslosenentschädigung, wobei sie geltend machte, in den vergangenen zwei Jahren wegen Kindererziehung nicht erwerbstätig gewesen und aus finanziellen Gründen gezwungen zu sein, eine Arbeit aufzunehmen. Gestützt auf die beigezogenen Unterlagen ermittelte die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen zunächst ein anrechenbares Einkommen von Fr. 6755.35 im Monat, welches den massgebenden Grundbetrag von Fr. 6075.- überstieg. Demgemäss lehnte sie den Anspruch der Versicherten auf Arbeitslosenentschädigung ab dem 10. März 1998 ab, weil keine wirtschaftliche Zwangslage gegeben sei (Verfügung vom 16. Dezember 1998).
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher Z.________ die Zusprechung von Arbeitslosenentschädigung ab 10. März 1998 beantragen liess, wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 3. Mai 2000 ab. Seinen Feststellungen zufolge lag das anrechenbare Einkommen bei Fr. 6076.50 im Monat und damit über dem massgebenden Grenzbetrag.
 
C.
 
Z.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Begehren, der vorinstanzliche Entscheid sowie die Kassenverfügung seien aufzuheben und es sei ihr ab dem 10. März 1998 Arbeitslosenentschädigung zuzusprechen. Zur Begründung bringt sie vor, dass die Vorinstanz zu Unrecht einen Drittel des Lehrlingslohnes ihres Sohnes und einen Eigenmietwert als Einkommen angerechnet habe.
 
Während die Arbeitslosenkasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 16. Dezember 1998) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die neuen Bestimmungen nicht anwendbar.
 
Aus den nämlichen Erwägungen beurteilt sich die vorliegende Streitsache nach Massgabe der gesetzlichen Bestimmungen, welche im Jahr 1998 in Kraft standen. Dies betrifft die nachstehend zitierten, auf den 1. Juli 2003 aufgehobenen Art. 13 Abs. 2bis und Art. 13 Abs. 2ter AVIG sowie Art. 11b AVIV.
 
2.
 
Gemäss Art. 13 Abs. 2bis AVIG werden Zeiten, in denen Versicherte keine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben, weil sie sich der Erziehung von Kindern unter 16 Jahren widmeten, als Beitragszeiten angerechnet, sofern die Versicherten im Anschluss an die Erziehungsperiode aufgrund einer wirtschaftlichen Zwangslage eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen müssen. Eine wirtschaftliche Zwangslage liegt vor, wenn das anrechenbare Einkommen der Versicherten und ihres Ehegatten einen vom Bundesrat festgelegten Grundbetrag nicht erreicht. Der Bundesrat legt den anrechenbaren Teil des Vermögens fest (Art. 13 Abs. 2ter AVIG). Die Versicherten bestimmen das Ende der Erziehungsperiode selber und können es bis zum Zeitpunkt geltend machen, in welchem das jüngste Kind das Alter von 16 Jahren erreicht (Art. 11a Abs. 1 AVIV).
 
Ein Anspruch nach Art. 13 Abs. 2bis AVIG kann geltend gemacht werden, wenn das anrechenbare Einkommen zusammen mit dem anrechenbaren Teil des Vermögens weniger als 35 % des Höchstbetrages des versicherten Verdienstes nach Art. 23 Abs. 1 AVIG beträgt. Dieser Prozentsatz erhöht sich:
 
a. um 10 %, wenn der Versicherte verheiratet ist;
 
b. um 10 % für das erste Kind und 5 % für jedes weitere Kind, für das eine Unterhaltspflicht im Sinne von Art. 33 besteht, höchstens aber um 30 % (Art. 11b Abs. 1 AVIV).
 
Das anrechenbare Einkommen und der anrechenbare Teil des Vermögens werden grundsätzlich aufgrund der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der letzten zwölf Monate vor Einreichung des Entschädigungsantrages berechnet. Anrechenbar sind:
 
a. die gesamten Bruttoeinkommen des Versicherten und seines Ehe- gatten;
 
b. 10 % des Vermögens des Versicherten und seines Ehegatten (Art. 11b Abs. 2 AVIV).
 
Art. 11b AVIV ist gesetzmässig (ARV 2002 S. 248 Erw. 3a und b).
 
3.
 
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin infolge einer wirtschaftlichen Zwangslage Arbeitslosenentschädigung beanspruchen kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht einen Teil des Lehrlingslohnes des ältesten Sohnes als Einkommen angerechnet hat.
 
3.1 Mit Bezug auf den Begriff der wirtschaftlichen Zwangslage ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass man ursprünglich vom Begriff der «grossen Härte» ausgehen wollte, womit sich aber zu hohe Beträge ergeben hätten (Vertreter des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit [BIGA] an der Sitzung der Kommission des Ständerates für Soziale Sicherheit und Gesundheit vom 21. Februar 1994). Ferner sollte laut Vorschlag der Verwaltung vom 24. Januar 1994 das Einkommen des Versicherten und seiner Familienmitglieder addiert werden, worunter Vater, Mutter und die Kinder im gemeinsamen Haushalt gemeint waren. Auf den Einwand, dass die volle Anrechnung des Einkommens von erwachsenen Kindern eine erstaunliche Ausdehnung der Verwandtenunterstützungspflicht bedeuten würde, wurde der Kreis auf die versicherte Person und ihren Ehepartner eingeschränkt. In der nationalrätlichen Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit gab die Ermittlung der Zwangslage zu keinen zusätzlichen Ausführungen Anlass (Protokoll der Sitzung vom 5. bis 7. September 1994), ebenso wenig in den parlamentarischen Beratungen in beiden Räten.
 
3.2 Aus den Erläuterungen des damaligen BIGA (Entwurf vom 21. September 1995 zur Änderung der AVIV auf den 1. Januar 1996), welche die Vorbereitungsarbeiten zur Revision des AVIG zusammenfassen, ergibt sich, dass unter dem Bruttoeinkommen im Sinne von Art. 11b Abs. 2 lit. a AVIV Einkommen aus Erwerbstätigkeit, Ersatzeinkünfte, Pensionen, Unterhaltsrenten usw. verstanden werden, während Vermögensertrag nicht als Einkommen genannt wird. Dieser wird beim Prozentsatz des anrechenbaren Vermögens des Versicherten und seines Ehegatten nach Art. 11b Abs. 2 lit. b AVIV berücksichtigt.
 
4.
 
4.1 Bei der Festsetzung des Grundbetrages nach Art. 13 Abs. 2ter AVIG in Verbindung mit Art. 11b Abs. 1 AVIV werden Kinder, für die eine Unterhaltspflicht im Sinne von Art. 33 AVIV besteht, berücksichtigt. Massgebend ist die Unterhaltspflicht im zivilrechtlichen Sinn (BGE 124 V 64). Die Anrechnung von Kindeseinkommen im Sinne der Verwandtenunterstützung fällt laut Gesetzesmaterialien nicht in Betracht. Indessen entlastet der Teil des Arbeitserwerbs, den das (unmündige oder mündige, vgl. Art. 277 ZGB) Kind an seinen Unterhalt beizutragen hat (Art. 276 Abs. 3 ZGB; Breitschmid, Basler Kommentar, N 29 ff. zu Art. 276 ZGB) und der bis zu 60 % des Erwerbseinkommens betragen kann (Hegnauer, Grundriss des Kindesrechts, N 20.06; Hegnauer, Berner Kommentar, N 131 zu Art. 276 ZGB), die Eltern von ihrer Unterhaltspflicht und vermindert damit deren Unterhaltslast, welche durch den Kinderzuschlag in Art. 11b Abs. 1 AVIV abgedeckt wird. Wirtschaftlich gesehen - worauf es vorliegend ankommt (Art. 13 Abs. 2ter AVIG) - ist die sich hieraus ergebende Entlastung einem Einkommen der Eltern im Sinne von Art. 13 Abs. 2ter AVIG in Verbindung mit Art. 11b Abs. 2 lit. a AVIV gleichzusetzen.
 
4.2 Da der Zuschlag ab dem zweiten bis zum fünften Kind lediglich je Fr. 4860.- beträgt (5 % von Fr. 97'200.-; Art. 23 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 UVG und Art. 22 Abs. 1 UVV in der vorliegend anwendbaren, bis 31. Dezember 1999 gültig gewesenen Fassung) rechtfertigt es sich, den Beitrag des Kindes an seinen Unterhalt wie bei der Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums der Eltern auf ein Drittel des Nettoeinkommens des Kindes zu begrenzen (Hegnauer, Berner Kommentar, N 144 zu Art. 276 ZGB; Breitschmid, Basler Kommentar, N 35 zu Art. 276 ZGB); ob die Anrechnung auf die Höhe des Zuschlages von Fr. 4860.- beschränkt ist, wenn das erwähnte Drittel diesen Betrag überschreitet, braucht hier nicht geprüft zu werden.
 
4.3 Die Arbeitslosenkasse ist grundsätzlich in dieser Weise vorgegangen, wobei sie einen Drittel des auf die massgebende Periode entfallenden Lehrlingslohns des ältesten Sohnes, umgerechnet Fr. 98.20, im Monat, angerechnet hat. Die Vorinstanz ist dieser Berechnungsweise zu Recht gefolgt, woran der Einwand in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die Anrechnung eines Teils des Lehrlingslohnes widerspreche dem Wortlaut von Art. 11b Abs. 2 AVIV, nichts ändert, da die wirtschaftliche Betrachtungsweise gebietet, die Entlastung, die sich durch den Beitrag des erwerbstätigen Kindes ergibt, einem Einkommen der Eltern im Sinne der massgebenden Bestimmungen gleichzusetzen (Erw. 4.1 hievor).
 
4.4 Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin fünf Kinder hat, deren Unterhalt sie gemeinsam mit dem Ehemann vollständig, und ein Kind (Lehrling), dessen Unterhalt sie teilweise tragen muss, der für die Ermittlung der wirtschaftlichen Zwangslage (Art. 13 Abs. 2bis AVIG) massgebende Grundbetrag (35 % des Höchstbetrages des versicherten Verdienstes nach Art. 23 Abs. 1 AVIG) aber nur um insgesamt 30 % erhöht wird, wie dies auch bei einer Familie mit fünf unterhaltsberechtigten Kindern zutreffen würde (Art. 11b Abs. 1 AVIV), rechtfertigt es nicht, von der Anrechnung eines Drittels des Lehrlingslohnes abzusehen. Da der Maximalzuschlag für Kinder 30 % (des Höchstbetrages des versicherten Verdienstes) beträgt, beläuft sich der Zuschlag je Kind im vorliegenden Fall auf 5 % (30 % : 6). Bei einem Einzelkind betrüge er 10 %, bei zwei Kindern 7,5 % (10 % + 5 % : 2), bei drei Kindern 6,66 % (10 % + 5 % + 5 % : 3) je unterhaltsberechtigtem Kind. Mit zunehmender Kinderzahl reduziert sich der proporzionale Kinderzuschlag, weil die Unterhaltskosten für die zusätzlichen Kinder nicht linear steigen.
 
Im Übrigen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass im Rahmen von Art. 11b AVIV für individuelle Abzüge vom anrechenbaren Einkommen kein Raum bleibt (ARV 2002 S. 248 f. Erw. 3b). Dies hat auch bezüglich des aufgerechneten Anteiles des Lehrlingslohnes, zu dessen Leistung das unterhaltsberechtigte Kind verpflichtet ist (Breitschmid, Basler Kommentar, N 29 ff. zu Art. 276 ZGB), zu gelten.
 
5.
 
Bleibt es in Bezug auf die Anrechnung eines Teils des Lehrlingslohnes somit beim vorinstanzlichen Entscheid, kann offen bleiben, ob der Eigenmietwert der von der Beschwerdeführerin und ihrer Familie selbst genutzten Liegenschaft unter Abzug des Hypothekarzinses und der Gebäudeunterhaltskosten als Einkommen anzurechnen ist, wie das kantonale Gericht angenommen hat, oder ob hievon abzusehen ist. Denn auch mit der von der Vorinstanz gewählten Lösung, die sich zu Gunsten der Beschwerdeführerin auswirkt, übersteigt das anrechenbare Einkommen den massgebenden Grundbetrag. Dieser würde noch deutlicher überschritten, wenn der Eigenmietwert (abzüglich Schuldzinsen und Gebäudeunterhaltskosten) unberücksichtigt bliebe.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, dem Amt für Arbeit, St. Gallen, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
 
Luzern, 29. Juni 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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