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Informationen zum Dokument  BGer 2A.46/2004  Materielle Begründung
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BGer 2A.46/2004 vom 18.06.2004
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
2A.46/2004 /bie
 
Urteil vom 18. Juni 2004
 
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wurzburger, Präsident,
 
Bundesrichter Hungerbühler, Bundesrichter Müller,
 
Gerichtsschreiberin Diarra.
 
Parteien
 
A.X.________, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Fürsprech Beat Muralt,
 
gegen
 
Departement des Innern des Kantons Solothurn,
 
vertreten durch das Amt für öffentliche Sicherheit, Ausländerfragen, Ambassadorenhof, 4509 Solothurn,
 
Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn,
 
Amthaus 1, Postfach 157, 4502 Solothurn.
 
Gegenstand
 
Familiennachzug,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil
 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn
 
vom 9. Dezember 2003.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.X.________, türkische Staatsangehörige, reiste 1973 im Familiennachzug in die Schweiz ein. 1983 wurde ihr die Niederlassungsbewilligung erteilt. 1985 heiratete sie in der Türkei den Landsmann B.X.________, der 1986 in die Schweiz einreiste. Die Eheleute X.________ wurden in der Folge Eltern von drei in der Schweiz 1988, 1995 und 1997 geborenen Töchtern. Während die beiden jüngeren Töchter in der Schweiz blieben, hielt sich die älteste Tochter C.________ nur von 1991 bis 1995 in der Schweiz auf. Seit Juli 1995 lebt sie in der Türkei, wo sie die Schule besuchte. Seit Dezember 1999 sind die Eheleute X.________ getrennt. Ihre Ehe wurde am 12. Dezember 2000 geschieden.
 
B.
 
Am 30. Juli 2002 stellte A.X.________ ein Familiennachzugsgesuch für ihre Tochter C.________, geboren 1988. Mit Verfügung vom 8. Oktober 2003 lehnte das Departement des Innern des Kantons Solothurn das Nachzugsgesuch ab. Dagegen beschwerte sich A.X.________ erfolglos beim Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 23. Januar 2004 an das Bundesgericht beantragt A.X.________, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 9. Dezember 2003 sowie die Verfügung des Departements des Innern vom 8. Oktober 2003 aufzuheben und den anbegehrten Familiennachzug zu bewilligen, eventualiter die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Eingabe vom 27. Februar 2004 stellte A.X.________ zudem ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.
 
D.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Das kantonale Amt für öffentliche Sicherheit, Abteilung Ausländerfragen, und das Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG schliesst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf dem Gebiete der Fremdenpolizei aus gegen die Erteilung oder Verweigerung von Bewilligungen, auf die das Bundesrecht keinen Anspruch einräumt. Gemäss Art. 4 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) entscheiden die zuständigen Behörden, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Verträge mit dem Ausland, nach freiem Ermessen über die Bewilligung von Aufenthalt und Niederlassung. Es besteht damit grundsätzlich kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, es sei denn, der Ausländer oder seine in der Schweiz lebenden Angehörigen könnten sich auf eine Sondernorm des Bundesrechts berufen (BGE 128 II 145 E. 1.1 S. 148; 127 II 161 E. 1a S. 164, je mit Hinweisen).
 
1.2 Gemäss Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG haben ledige Kinder unter 18 Jahren Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung ihrer Eltern, wenn sie mit diesen zusammen wohnen. Die Beschwerdeführerin besitzt die Niederlassungsbewilligung. Ihre Tochter war im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung, auf den es im Rahmen von Art. 17 Abs. 2 ANAG für die Eintretensfrage ankommt (vgl. BGE 120 Ib 257 E. 1f S. 262; zuletzt: BGE 129 II 249 E. 1.2 S. 252, 11 E. 2 S. 13), gut 14 Jahre alt. Sie hat daher gestützt auf diese Bestimmung grundsätzlich einen Anspruch auf Nachzug zu ihrer Mutter. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit zulässig.
 
1.3 Anfechtungsobjekt ist im vorliegenden Verfahren das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn (vgl. Art. 98 lit. g OG). Soweit die Beschwerdeführerin zusätzlich die Aufhebung der Verfügung des Departements des Innern verlangt, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.
 
1.4 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann vorliegend die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts (Art. 104 lit. c OG) gerügt werden. Hat - wie hier - eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden, ist das Bundesgericht an deren Sachverhaltsfeststellung gebunden, sofern diese nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen erfolgt ist (Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.
 
2.1 Zweck des Familiennachzugs gemäss Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG ist es, das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen. Sind die Eltern voneinander getrennt oder geschieden, kann es nicht um eine Zusammenführung der Gesamtfamilie gehen. In solchen Fällen entspricht es nicht dem Zweck des Gesetzes, einen bedingungslosen Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen (BGE 129 II 11 E. 3.1.1 - 3.1.3 S. 14 f., 249 E. 2.1 S. 252 mit Hinweisen). Ein Nachzugsrecht setzt vielmehr voraus, dass das Kind zu dem in der Schweiz lebenden Elternteil die vorrangige familiäre Beziehung unterhält, wobei auch das Verhältnis des Kindes zu weiteren Betreuungspersonen (Grosseltern, ältere Geschwister, etc.) in Betracht zu ziehen ist (BGE 129 II 11 E. 3.1.4 S. 15 mit Hinweisen). Im Übrigen wird das gesetzgeberische Ziel von Art. 17 Abs. 2 ANAG, das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen und rechtlich abzusichern, nicht erreicht, wenn der in der Schweiz niedergelassene Ausländer jahrelang von seinem Kind getrennt lebt und dieses erst kurz vor Vollendung des 18. Altersjahrs in die Schweiz holt. Eine Ausnahme kann nur gelten, wenn die Familiengemeinschaft in der Schweiz aus guten Gründen erst nach Jahren hergestellt wird; solche Gründe müssen sich aus den Umständen des Einzelfalls ergeben (BGE 125 II 585 E. 2a S. 587; 119 Ib 81 E. 3a S. 88; 115 Ib 97 E. 3a S. 101). Es werden hohe Beweisanforderungen gestellt (BGE 124 II 361 E. 4c S. 370 f.). Die Verweigerung einer Bewilligung lässt sich jedenfalls dann nicht beanstanden, wenn die Familientrennung von den Betroffenen ursprünglich selbst freiwillig herbeigeführt worden ist, für die Änderung der bisherigen Verhältnisse keine überwiegenden familiären Interessen bestehen bzw. sich ein Wechsel nicht als zwingend erweist und die Fortführung und Pflege der bisherigen familiären Beziehungen nicht behördlich verhindert wird (BGE 129 II 11 E. 3.1.3 S. 15, 249 E. 2.1 S. 253; 124 II 361 E. 3a S. 366 f. mit Hinweisen).
 
2.2 Im vorliegenden Fall hat die nun geschiedene Beschwerdeführerin die älteste Tochter, nachdem diese vom dritten bis zum achten Lebensjahr, bzw. viereinhalb Jahre in der Schweiz geweilt hatte, freiwillig in die Türkei zurückgebracht, wo das Kind seither von den Grosseltern väterlicherseits betreut wurde. Dass eine Änderung der bisherigen Betreuungsverhältnisse im Heimatland vorliegt, welche die Übersiedlung zu einem der beiden in der Schweiz lebenden Elternteil gebietet, ist nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen (vgl. E. 1.4) im angefochtenen Urteil nicht der Fall. Es ist nicht dargetan, dass die Tochter C.________, die heute immerhin bereits 16 Jahre alt ist, nicht weiterhin von ihren Grosseltern väterlicherseits betreut werden kann. Der blosse Hinweis auf das Älterwerden der Grosseltern sowie auf die Krankheit der Tochter (Epilepsie) genügt nicht. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass eine weitere altersgerechte Betreuung der Tochter, die nicht mehr ständig einer persönlichen, insbesondere physischen Betreuung bedarf, durch die Grosseltern nicht mehr möglich wäre. Nachdem die Tochter nach Angabe der Beschwerdeführerin gerade wegen der epileptischen Erkrankung in die Türkei zurückgebracht worden war, da die dortigen klimatischen Verhältnisse für Epileptiker günstiger seien, leuchtet nicht ein, inwiefern nun dieselbe Krankheit eine Rückkehr in die Schweiz gebieten soll. Auch der geltend gemachte Umstand, dass seitens der beiden Elternteile eine Rückkehr in die Türkei heute nicht mehr beabsichtigt sei, begründet keine Änderung der Betreuungsverhältnisse. In Betracht fallen sodann die nicht unerheblichen Integrationsschwierigkeiten, die bei einer Übersiedlung in die Schweiz der in der Türkei aufgewachsenen, dort sozial, kulturell und sprachlich integrierten Tochter zu erwarten wären. Je älter das nachzuziehende Kind ist, desto höhere Anforderungen sind an den Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit im Heimatland zu stellen, zumal es aus integrationspolitischer Sicht nicht erwünscht ist, dass Kinder erst als Jugendliche in die Schweiz geholt werden (vgl. BGE 129 II 11 E. 3.3.2 S. 16 mit Hinweis). Dazu kommt vorliegend, dass das Einkommen der Beschwerdeführerin, die mit den beiden jüngeren Töchtern zusammenlebt, gemäss ihren Darstellungen im Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege schon heute unter dem Existenzminimum liegt. Durch den Nachzug eines weiteren Kindes würde das Risiko dauernder Fürsorgeabhängigkeit noch entsprechend verschärft, was ebenfalls gegen die Gutheissung des streitigen Nachzugsgesuchs spricht. Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was die Bundesrechtskonformität des angefochtenen Urteils in Frage zu stellen vermöchte.
 
3.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 153 OG). Ihrem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung kann wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren nicht entsprochen werden (Art. 152 Abs. 1 OG). Der finanziellen Lage der Beschwerdeführerin wird bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung getragen (Art. 153a OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 500.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Departement des Innern des Kantons Solothurn und dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn sowie dem Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. Juni 2004
 
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts:
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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