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Informationen zum Dokument  BGer H 338/2002  Materielle Begründung
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BGer H 338/2002 vom 12.01.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
H 338/02
 
Urteil vom 12. Januar 2004
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin Hofer
 
Parteien
 
L.________, 1970, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
(Entscheid vom 12. November 2002)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 8. Mai 2001 ersuchte L.________ die Ausgleichskasse des Kantons Zürich um Berichtigung seines individuellen Kontos. Mit Verfügung vom 6. Februar 2002 teilte ihm die Kasse mit, zufolge Verjährung sei eine Verbuchung der fehlenden Beiträge nicht mehr möglich.
 
B.
 
Auf die hiegegen erhobene Beschwerde trat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit einzelrichterlicher Verfügung vom 12. November 2002 wegen Verspätung nicht ein. Das Fristwiederherstellungsgesuch wies es ab.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt L.________, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen; eventuell habe das angerufene Gericht in der Sache selbst zu entscheiden und die Kasse zu verpflichten, die beantragte Kontoberichtigung vorzunehmen. Nebst den in der vorinstanzlichen Beschwerde bereits geltend gemachten Parteikosten seien der zusätzlich angefallene Zeitaufwand und weitere Auslagen durch den Kanton Zürich zu ersetzen; eventuell sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
 
Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Richtet sich die Beschwerde gegen einen Nichteintretensentscheid, hat das Gericht, ungeachtet der Vorbringen des Beschwerdeführers, zu prüfen und darüber zu entscheiden, ob die Vorinstanz zu Recht nicht auf das Leistungs- oder Feststellungsbegehren eingetreten ist. Der richterliche Entscheid in der Sache (Sachentscheid) hat in dieser besonderen verfahrensmässigen Situation den formellen Gesichtspunkt des Nichteintretens durch die untere Instanz zum Gegenstand (BGE 116 V 266 Erw. 2a). Dagegen hat sich das Gericht mit den materiellen Anträgen nicht zu befassen (BGE 123 V 335, 121 V 159 Erw. 2b, 117 V 122 Erw. 1 mit Hinweisen). Soweit in der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde Rechtsbegehren gestellt werden, die sich nicht mit der prozessualen Frage des vorinstanzlichen Nichteintretensentscheids befassen, ist darauf nicht einzutreten.
 
1.2 Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, sondern ausschliesslich eine prozessrechtliche Frage zur Beurteilung ansteht, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, wenn die Vorinstanz ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellung des Sachverhalts in der Beschwerdeschrift gehabt habe, hätte sie ihm Gelegenheit geben müssen, sich zur Frage der Rechtzeitigkeit seiner Eingabe zu äussern. Diese Unterlassung stelle eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung sei er nämlich davon ausgegangen, dass die vom 6. Februar 2002 datierte Verfügung erst viel später der Post übergeben worden sei. Aus diesem Grund habe er auch eine Überprüfung des Strichcodes auf dem Briefumschlag angeregt. Das Ergebnis der Abklärungen bei der Post, von welchem er erst aufgrund der Erwägungen im vorinstanzlichen Entscheid habe Kenntnis nehmen können, habe ihm Anlass zu weiteren Nachforschungen gegeben. Dabei habe sich beispielsweise gezeigt, dass die Post seiner Eltern vom 4. bis 21. Februar 2002 an eine andere Adresse umgeleitet worden sei. Da sein Name auf dem Formular nicht vermerkt worden sei, habe dies zu einer Verarbeitungspanne und damit zu einer Verzögerung in der Zustellung geführt.
 
2.2 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung einer Person eingreift. Dazu gehört insbesondere deren Recht, sich vor Erlass des in ihre Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 127 I 56 Erw. 2b, 127 III 578 Erw. 2c, 126 V 130 Erw. 2a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 126 I 16 Erw. 2a/aa, 124 V 181 Erw. 1a, 375 Erw. 3b, je mit Hinweisen).
 
Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht (BGE 127 V 437 Erw. 3d/aa, 126 V 132 Erw. 2b mit Hinweisen).
 
Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende - Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 127 V 437 Erw. 3d/aa, 126 I 72, 126 V 132 Erw. 2b, je mit Hinweisen).
 
3.
 
Die vom 6. Februar 2002 datierte Verfügung der Ausgleichskasse wurde unbestrittenermassen uneingeschrieben an die ihr bekannte Adresse bei den Eltern des Beschwerdeführers verschickt. Der Briefumschlag war mit keinem Poststempel versehen, enthielt jedoch einen Strichcode. Die Vorinstanz gelangte mit Schreiben vom 24. Oktober 2002 an die zuständige Briefpoststelle und ersuchte sie um Entschlüsselung dieses Codes. Am 30. Oktober 2002 teilte die Post dem Gericht mit, dass der Umschlag in einem geraden Monat am 6. Tag zwischen 18.00 Uhr und 19.12 Uhr verarbeitet worden sei. Die Empfängerpostleitzahl sei richtig codiert worden. Zudem sei die Sendung mit grösster Wahrscheinlichkeit mit A-Post aufgegeben worden. Auf diese Auskunft hat die Vorinstanz bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Beschwerdeeinreichung in tatbeständlicher Hinsicht entscheidend abgestellt. Dies durfte sie indessen nicht tun ohne vorgängige Anhörung des Beschwerdeführers. In den Akten finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sie ihm von der für den Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens entscheidenden Auskunft Kenntnis gegeben und ihm Gelegenheit eingeräumt hat, dazu Stellung zu nehmen. Darin liegt eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs, die im gegenwärtigen Verfahren - in welchem dem Eidgenössischen Versicherungsgericht nur eingeschränkte Kognitionsbefugnis zukommt (vgl. Erw. 1.2) - nicht geheilt werden kann. Wenn neue Beweismittel und Argumente erstmals in der vorliegend zu beurteilenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht werden, können diese daher auch nicht als unzulässige Noven qualifiziert werden, hatte der Beschwerdeführer doch bisher keine Möglichkeit, sich zum Ergebnis der Abklärungen bei der Post zu äussern. Der Sachverhalt ist somit im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der Sache an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, damit dieses den gerügten Verfahrensmangel behebe und alsdann über die Beschwerde neu befinde. Bei diesem Ergebnis braucht der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde aufgeworfenen Frage der einzelrichterlich Zuständigkeit im vorinstanzlichen Verfahren nicht nachgegangen zu werden.
 
4.
 
4.1 Weil der rein prozessuale Aspekt des vorinstanzlichen Nichteintretensentscheids nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Sinne von Art. 134 OG betrifft, sind für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht Gerichtskosten zu erheben (Umkehrschluss aus Art. 134 OG). Diese gehen zu Lasten der unterliegenden Ausgleichskasse (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wird damit gegenstandslos.
 
4.2 Nach der Rechtsprechung hat die in eigener Sache prozessierende Partei nur in Ausnahmefällen Anspruch auf eine Parteientschädigung und Ersatz von Auslagen (BGE 110 V 81 Erw. 7, 132). Die Voraussetzungen, die kumulativ gegeben sein müssen, damit eine solche Ausnahmesituation anzunehmen ist (komplexe Sache mit hohem Streitwert, hoher Arbeitsaufwand, vernünftiges Verhältnis zwischen betriebenem Aufwand und Ergebnis der Interessenwahrung) sind im vorliegenden Fall, bei dem es um die prozessuale Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerdeeinreichung ging, nicht erfüllt.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. November 2002 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Ausgleichskasse des Kantons Zürich auferlegt.
 
3.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 12. Januar 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
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