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Informationen zum Dokument  BGer U 70/2002  Materielle Begründung
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BGer U 70/2002 vom 30.12.2002
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
U 70/02
 
Urteil vom 30. Dezember 2002
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Widmer
 
Parteien
 
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Badenerstrasse 694, 8048 Zürich, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
L.________, 1974, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rudolf Strehler, Dorfstrasse 21, 8356 Ettenhausen TG
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden
 
(Entscheid vom 12. Dezember 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1974 geborene L.________ arbeitete seit 1990 als Verkäuferin bei der Firma X.________ und war damit bei den ELVIA Versicherungen obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 29. Juni 1992 wurde sie als Beifahrerin im Personenwagen einer Kollegin in einen Verkehrsunfall verwickelt. Als deren Fahrzeug von einem Verkehrspolizisten an einer Kreuzung angehalten wurde, prallte ein von hinten herannahendes Auto auf das Heck des stillstehenden Personenwagens auf. Der von L.________ am folgenden Tag konsultierte Allgemeinpraktiker Dr. med. G.________ diagnostizierte ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) und bescheinigte volle Arbeitsunfähigkeit vom 30. Juni bis 2. Juli 1992 und eine solche von 50 % ab 3. Juli bis 12. Oktober 1992. In der Folge nahm die Versicherte ihre Tätigkeit wieder vollumfänglich auf und absolvierte eine Zusatzausbildung (3. Lehrjahr) als Detailhandelsangestellte, die sie im August 1993 abschloss. Am 17. Januar 1994 suchte sie wegen der trotz Physiotherapie persistierenden zervikozephalen Beschwerden den Neurologen Dr. med. H.________ auf, der im Bericht vom 28. März 1994 volle Arbeitsfähigkeit attestierte. Am 30. Oktober 1995 schlug Dr. H.________ vor, die Versicherte solle zur Entlastung und Unterstützung der aufbauenden Kräftigungsgymnastik während dreier Monate an einem halben Tag in der Woche mit der Arbeit aussetzen, entsprechend einer Arbeitsunfähigkeit von 10 %. Am 21. Juni 1996 berichtete der gleiche Arzt, es seien zusätzlich Depressionen und Angstreaktionen aufgetreten, weshalb die Versicherte psychotherapeutische Hilfe habe beanspruchen müssen. Ab 1. Mai 1996 betrage die Arbeitsfähigkeit nur noch 80 %. Für die Zeit vom 1. Dezember 1995 bis 30. Juni 1997 richtete die ELVIA L.________ ein Taggeld für eine Arbeitsunfähigkeit von 10 % aus.
 
Am 22. Dezember 1999 erstattete die Rheuma- und Rehabilitationsklinik Zurzach zuhanden der ELVIA und einer Haftpflichtversicherung ein neurologisches/rheumatologisches Gutachten. Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs stellte die ELVIA mit Verfügung vom 20. November 2000 ihre Leistungen rückwirkend auf den 30. November 1995 ein, weil zwischen dem Unfall und den über dieses Datum hinaus anhaltenden Beschwerden kein adäquater Kausalzusammenhang bestehe. Von der Rückforderung der ab diesem Zeitpunkt erbrachten Leistungen sah sie ab. Auf Einsprache hin hielt die ELVIA mit Entscheid vom 12. März 2001 an ihrem Standpunkt fest.
 
B.
 
L.________ liess Beschwerde führen mit den Anträgen, unter Aufhebung des Einspracheentscheides seien ihr ab 1. Mai 1995 eine Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 20 % und eine Entschädigung für eine Integritätseinbusse von 23 % sowie ab 1. Dezember 1995 sämtliche weiteren gesetzlichen Leistungen im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 29. Juni 1992 zuzusprechen. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau den Einspracheentscheid auf, wies die Sache zur Berechnung der Invalidenrente an die ELVIA zurück und sprach der Versicherten eine Entschädigung für eine Integritätseinbusse von 14 % zu (Entscheid vom 12. Dezember 2001).
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Allianz), unter welcher Firma die ELVIA seit 1. Januar 2002 auftritt, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
 
L.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das kantonale Gericht nimmt ebenfalls in ablehnendem Sinne Stellung, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Auf Grund des Gutachtens der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Zurzach vom 22. Dezember 1999 ist erstellt, dass die Beschwerden der Versicherten zumindest teilweise auf den versicherten Unfall vom 29. Juni 1992 mit Schleudertrauma der HWS zurückzuführen sind, was für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs praxisgemäss genügt (BGE 119 V 338 Erw. 1 mit Hinweis). Streitig und zu prüfen ist hingegen die Adäquanz des Kausalzusammenhangs.
 
2.
 
Im Einspracheentscheid vom 12. März 2001 hat die ELVIA (heute: Allianz) die Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall mit Schleudertrauma der HWS ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle und den in der Folge anhaltenden Beschwerden (BGE 117 V 359), namentlich die bei mittelschweren Unfällen in die Beurteilung miteinzubeziehenden unfallbezogenen Kriterien (S. 366 f. Erw. 6a), zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden.
 
3.
 
Die Vorinstanz stufte die Auffahrkollision am 29. Juni 1992 als mittelschweren Unfall ein. Sie gelangte zum Schluss, dass die Kriterien der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung und der Dauerbeschwerden sowie der Dauer der Arbeitsunfähigkeit erfüllt seien, weshalb die Adäquanz des Kausalzusammenhangs und damit die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin zu bejahen seien.
 
Die Allianz wendet sich gegen diese Betrachtungsweise, indem sie geltend macht, die Physiotherapien, welchen sich die Beschwerdegegnerin nach dem Unfall unterzogen hatte, könnten nicht dem Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung zugeordnet werden; die eigentliche ärztliche Behandlung habe nicht übermässig lange gedauert. Ebenso wenig gegeben sei das Kriterium des Grades und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit, weshalb der adäquate Kausalzusammenhang rechtsprechungsgemäss verneint werden müsse.
 
4.
 
Dem kantonalen Gericht ist beizupflichten, dass die Auffahrkollision auf Grund des Geschehensablaufs, insbesondere der doch erheblichen Geschwindigkeit, mit welcher das nachfolgende Fahrzeug auf den stillstehenden Personenwagen, in welchem die Beschwerdegegnerin mitfuhr, aufprallte, als mittelschwerer Unfall zu qualifizieren ist. Damit die Adäquanz des Kausalzusammenhangs bejaht werden könnte, müsste somit eines der unfallbezogenen Kriterien gemäss BGE 117 V 366 f. in besonders ausgeprägter Weise erfüllt oder es müssten mehrere Kriterien gegeben sein. Dies trifft hier nicht zu:
 
4.1 Wie die Allianz richtig festhält, kann von einer ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung nicht gesprochen werden. Nach der initialen Behandlung der Unfallfolgen benötigte die Versicherte lediglich Physiotherapie in grösseren Abständen. Ab dem 17. Januar 1994 wurde sie sodann von Dr. H.________ untersucht und behandelt, der ihr eine Therapie zur Kräftigung der Nacken- und Schultermuskulatur und wiederum Physiotherapie verschrieb (Bericht vom 28. März 1994). Zusätzliche ärztliche Behandlungen wurden nicht vorgenommen. Am 30. Oktober 1995 berichtete Dr. H.________ sodann, dass während 8 bis 12 Wochen eine Hyderginkur durchgeführt und die aufbauende Kräftigungsgymnastik der Achsenmuskulatur vor allem im Bereich der HWS fortgesetzt werde.
 
Diese Behandlungen überschreiten das nach einem Unfall mit Schleudertrauma der HWS übliche Mass nicht. Dass die Beschwerdegegnerin ab April 1996 psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm, ist nicht ausschlaggebend, da jedenfalls in den ersten vier Jahren nach der Auffahrkollision unfallbedingt keine nennenswerte ärztliche Behandlung und Betreuung der Versicherten erforderlich war.
 
4.2 Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist des Weiteren auch das Kriterium des Grades und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit (vgl. dazu die Übersicht in RKUV 2001 Nr. U 442 S. 544 ff.) nicht erfüllt. Bereits 3 ½ Monate nach dem Unfall konnte die Versicherte ihre Erwerbstätigkeit wieder vollumfänglich aufnehmen, in der Folge eine Zusatzausbildung absolvieren und bis Ende Oktober 1995 ein Arbeitspensum von 100 % bewältigen. Die nach diesem Zeitpunkt bescheinigte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit um zunächst 10 % und ab 1. Mai 1996 um 20 % ist für die Adäquanzbeurteilung schon deshalb nicht entscheidend, weil sie erst über drei Jahre nach dem versicherten Unfall eingetreten ist. Von Belang sind indessen praxisgemäss Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit im Anschluss an das Unfallereignis, was darin zum Ausdruck kommt, dass nur unfallbezogene Kriterien (BGE 117 V 368 oben) in Betracht zu ziehen sind. Mit anderen Worten muss es sich um objektiv erfassbare Umstände, welche unmittelbar mit dem Unfall in Zusammenhang stehen oder als direkte bzw. indirekte Folgen davon erscheinen (BGE 117 V 366 f. Erw. 6a), handeln. Die geringgradige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im vorliegenden Fall steht indessen, wenn überhaupt, bloss in einem mittelbaren Zusammenhang mit der Auffahrkollision.
 
4.3 Die weiteren Kriterien - mit Ausnahme der Dauerbeschwerden - sind offensichtlich nicht gegeben, weshalb offen bleiben kann, ob das erwähnte Kriterium erfüllt ist. Denn die Beschwerden der Versicherten erreichen jedenfalls keine derartige Intensität, dass das Kriterium der Dauerbeschwerden als in besonders ausgeprägter Form erfüllt zu betrachten wäre.
 
4.4 Auf Grund einer Gesamtwürdigung kommt dem Unfall vom 29. Juni 1992 keine massgebende Bedeutung für die über den 30. November 1995 hinaus anhaltenden Beschwerden mit geringfügiger Beeinträchtigung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu, weshalb die Adäquanz des Kausalzusammenhangs entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts zu verneinen ist. Aus diesem Grund entfällt auch der Anspruch auf eine Integritätsentschädigung.
 
5.
 
Gemäss Art. 134 OG werden für das letztinstanzliche Verfahren keine Gerichtskosten erhoben. Die obsiegende Allianz hat als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation entgegen ihrem Antrag keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG; BGE 112 V 49 Erw. 3).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 12. Dezember 2001 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden weder Gerichtskosten erhoben noch Parteientschädigungen zugesprochen.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 30. Dezember 2002
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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