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Informationen zum Dokument  BGer I 169/2002  Materielle Begründung
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BGer I 169/2002 vom 25.11.2002
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 169/02
 
Urteil vom 25. November 2002
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Ackermann
 
Parteien
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
G.________, 1955, Beschwerdegegner
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 21. Februar 2002)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
G.________, geboren 1955, arbeitete von 1994 bis 1997 als Aussendienstmitarbeiter für die Firma E.________ AG und meldete sich am 16. Februar 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen holte in der Folge einen Bericht des ehemaligen Arbeitgebers vom 22. März 1999 sowie diverse Arztberichte ein und veranlasste zwei Begutachtungen (Gutachten des Medizinischen Zentrums X.________ vom 22. Juli 1999 und Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle [MEDAS] der Kliniken Y.________ vom 18. Juli [recte wohl September] 2000 [inkl. rheumatologischem Untergutachten vom 8. August 2000 und polydisziplinärem Gutachten vom 2. September 2000]). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 5. März 2001 den Anspruch auf berufliche Massnahmen ab, da G.________ uneingeschränkt als Aussendienstmitarbeiter arbeiten könne.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 21. Februar 2002 insoweit gut, als es den Anspruch auf Arbeitsvermittlung bejahte; betreffend weiterer beruflicher Massnahmen wurde die Beschwerde abgewiesen.
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben.
 
G.________ schliesst sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben invalide oder von einer Invalidität unmittelbar bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen, zu verbessern, zu erhalten oder ihre Verwertung zu fördern. Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG bestimmt, dass eingliederungsfähigen invaliden Versicherten nach Möglichkeit geeignete Arbeit vermittelt wird. Die im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Arbeitsvermittlung relevante Invalidität besteht darin, dass der Versicherte bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle aus gesundheitlichen Gründen Schwierigkeiten hat. Eine drohende Invalidität bezüglich des Anspruchs auf Arbeitsvermittlung liegt vor, wenn in absehbarer Zeit mit dem Verlust der bisherigen Arbeitsstelle und mit nachfolgenden behinderungsbedingten Schwierigkeiten bei der Suche einer neuen Erwerbsmöglichkeit zu rechnen ist. Anders als im Rentenrecht (Art. 28 Abs. 1 IVG) nennt das Gesetz keinen Mindestgrad der Invalidität, damit Eingliederungsmassnahmen gewährt werden können. Aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit ergibt sich aber, dass das Mass der für den Leistungsanspruch erforderlichen erwerblichen Beeinträchtigung in Relation zu dem mit einer bestimmten Eingliederungsmassnahme verbundenen finanziellen Aufwand stehen muss. Da die Arbeitsvermittlung keine besonders kostspielige Eingliederungsmassnahme darstellt, genügt zur Begründung des Anspruchs bereits ein relativ geringes Mass an gesundheitlich bedingten Schwierigkeiten bei der Suche einer neuen Arbeitsstelle (BGE 116 V 80 Erw. 6a; AHI 2000 S. 70 Erw. 1a).
 
2.
 
Streitgegenstand ist einzig der Anspruch auf Arbeitsvermittlung; weitere Eingliederungsmassnahmen sind nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.
 
2.1 Die Vorinstanz hat den Anspruch auf Arbeitsvermittlung bejaht, da sich die Zahl der für den Beschwerdegegner noch in Frage kommenden Arbeitsstellen infolge seines Gesundheitsschadens deutlich verringert habe: Er müsse einerseits seine Arbeitsleistung jederzeit der aktuellen Gesundheitssituation (Schmerzschübe) anpassen können und andererseits eine Aussendiensttätigkeit in einer besser bezahlenden Branche finden. Die IV-Stelle ist demgegenüber der Ansicht, dass dem Versicherten auf dem hypothetischen ausgeglichenen Arbeitsmarkt genügend Stellen offen stünden, da er zwischen den Schmerzschüben vollständig und während der Schmerzschübe zu 70% arbeitsfähig sei.
 
2.2 Der Anspruch auf Arbeitsvermittlung durch die Invalidenversicherung nach Art. 18 Abs. 1 IVG ist von der Arbeitsvermittlung Behinderter durch die Arbeitslosenversicherung (Art. 15 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 2 AVIG) zu unterscheiden. Die Invalidenversicherung ist für invalide Versicherte hinsichtlich der Arbeitsvermittlung vorrangig zuständig (Thomas Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 12). Nach der Rechtsprechung wird die Arbeitsvermittlung in der Arbeitslosenversicherung unabhängig von jener durch die Invalidenversicherung beurteilt (BGE 116 V 85 mit Hinweisen, bestätigt durch Urteil F. vom 15. Juli 2002, I 421/01, sowie letztmals durch Urteil R. vom 12. November 2002, I 335/02).
 
2.3 Notwendig für die Bejahung des Anspruchs auf Arbeitsvermittlung sind die allgemeinen Voraussetzungen für Leistungen der Invalidenversicherung gemäss Art. 4 ff. und Art. 8 IVG, d.h. insbesondere eine leistungsspezifische Invalidität (Art. 4 Abs. 2 IVG), welche im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG schon bei relativ geringen gesundheitlich bedingten Schwierigkeiten in der Suche nach einer Arbeitsstelle erfüllt ist (BGE 116 V 81 Erw. 6a; AHI 2000 S. 70 Erw. 1a). Eine für die Arbeitsvermittlung massgebende Invalidität liegt daher vor, wenn der Versicherte bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle aus gesundheitlichen Gründen Schwierigkeiten hat (BGE 116 V 81 Erw. 6a mit Hinweis; AHI 2000 S. 69 Erw. 2b), d.h. es muss für die Bejahung einer Invalidität im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG zwischen dem Gesundheitsschaden und der Notwendigkeit der Arbeitsvermittlung ein Kausalzusammenhang bestehen (Urteil F. vom 15. Juli 2002, I 421/01, letztmals bestätigt durch Urteil R. vom 12. November 2002, I 335/02; vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG; in diesem Sinne Jean-Louis Duc, L'assurance-invalidité, in Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 85).
 
Gesundheitliche Schwierigkeiten bei der Suche einer neuen Arbeitsstelle (BGE 116 V 81 Erw. 6a; AHI 2000 S. 69 Erw. 2b) erfüllen den leistungsspezifischen Invaliditätsbegriff, wenn die Behinderung bleibend oder während voraussichtlich längerer Zeit (Art. 4 Abs. 1 IVG) Probleme bei der - in einem umfassenden Sinn verstandenen - Stellensuche selber verursacht. Das trifft beispielsweise zu, wenn wegen Stummheit oder mangelnder Mobilität kein Bewerbungsgespräch möglich ist oder dem potentiellen Arbeitgeber die besonderen Möglichkeiten und Grenzen des Versicherten erläutert werden müssen (z.B. welche Tätigkeiten trotz Sehbehinderung erledigt werden können), damit der Behinderte überhaupt eine Chance hat, den gewünschten Arbeitsplatz zu erhalten. Zur Arbeitsvermittlung nach Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG ist im Weiteren berechtigt, wer aus invaliditätsbedingten Gründen spezielle Anforderungen an den Arbeitsplatz (z.B. Sehhilfen) oder den Arbeitgeber (z.B. Toleranz gegenüber invaliditätsbedingt notwendigen Ruhepausen) stellen muss und demzufolge aus invaliditätsbedingten Gründen für das Finden einer Stelle auf das Fachwissen und entsprechende Hilfe der Vermittlungsbehörden angewiesen ist. Bei der Frage der Anspruchsberechtigung nicht zu berücksichtigen sind demgegenüber invaliditätsfremde Probleme bei der Stellensuche, z.B. Sprachschwierigkeiten (im Sinne fehlender Kenntnisse der Landessprache, anders wiederum bei medizinisch diagnostizierten, somit gesundheitsbedingten Sprachstörungen; Urteil F. vom 15. Juli 2002, I 421/01, letztmals bestätigt durch Urteil R. vom 12. November 2002, I 335/02).
 
Unter Beachtung dieser Voraussetzungen ist bei voller Arbeitsfähigkeit für leichte Tätigkeiten der Invaliditätsbegriff im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG nicht erfüllt. Denn die Suche einer Anstellung, in deren Rahmen leichte Tätigkeiten vollzeitig verrichtet werden können, unterliegt keinen solchen Anforderungen und Einschränkungen im eben umschriebenen Sinne. Es braucht diesfalls für die Bejahung einer Invalidität nach Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG zusätzlich eine gesundheitlich bedingte spezifische Einschränkung in der Stellensuche. Denn die invalidenversicherungsrechtliche Arbeitsvermittlung bezweckt, konkrete eingetretene oder unmittelbar drohende (Art. 8 Abs. 1 IVG) invaliditätsbedingte Einschränkungen bei der Stellensuche durch die Inanspruchnahme spezieller Fachkenntnisse der Versicherungsorgane (oder der von ihr beigezogenen Stellen; vgl. Art. 59 IVG) auszugleichen. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, fällt der Anspruch auf Arbeitsvermittlung gegenüber der Invalidenversicherung ausser Betracht (Urteil F. vom 15. Juli 2002, I 421/01, letztmals bestätigt durch Urteil R. vom 12. November 2002, I 335/02).
 
3.
 
3.1 Es fragt sich, ob der Beschwerdegegner wegen seiner Leiden Probleme bei der Stellensuche hat.
 
Die MEDAS kommt in ihrem Gutachten vom 18. September 2000 zum Schluss, dass der Beschwerdegegner in seiner angestammten Tätigkeit als Aussendienstmitarbeiter sowie in anderen leichten bis mittelschweren Tätigkeiten während der schmerzfreien Intervalle zu 100% und während der Schmerzepisoden zu 70% arbeitsfähig ist; körperlich schwer belastende Tätigkeiten sollte der Versicherte nicht ausführen. Das Gutachten der MEDAS ist für die streitigen Belange umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen, berücksichtigt die geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden; zudem ist es in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtend und beinhaltet begründete Schlussfolgerungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Da deshalb ohne Weiteres auf diese Einschätzung abgestellt werden kann, ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner in einer leichten bis mittelschweren Tätigkeit vollständig arbeitsfähig ist. Jedoch besteht wegen der - jetzt immerhin seltener auftretenden - Schmerzschübe zusätzlich eine gesundheitlich bedingte spezifische Einschränkung in der Stellensuche, welche durch die Inanspruchnahme der speziellen Fachkenntnisse der Versicherungsorgane (oder der von ihr beigezogenen Stellen; vgl. Art. 59 IVG) auszugleichen ist (vgl. Erw. 2.3 in fine hievor).
 
3.2 Gemäss der Begründung - nicht jedoch des Dispositives - des kantonalen Entscheides hat der Versicherte im Übrigen materiell einen Anspruch auf Arbeitsvermittlung durch die Arbeitslosenversicherung; in diesem Zusammenhang kritisiert die Vorinstanz, dass der Vorrang der Invalidenversicherung nicht durch die unterschiedliche Rechtsnatur der Arbeitsvermittlung in der Invalidenversicherung (Rechtsanspruch) und der Arbeitslosenversicherung (Verwaltungsaufgabe) begründet werden könne. Dies braucht im vorliegenden Verfahren jedoch nicht entschieden zu werden, da Massnahmen der Arbeitslosenversicherung nicht Gegenstand des Verfahrens sind und aus den Akten auch nicht ersichtlich ist, dass sich die Organe der Arbeitslosenversicherung geweigert hätten, dem Beschwerdegegner Arbeit zu vermitteln. Immerhin kann auf Erw. 2.2 hievor sowie auf AHI 2000 S. 228 Erw. 1 verwiesen werden, wonach die Invalidenversicherung betreffend der Arbeitsvermittlung invalider Personen vorrangig zuständig ist; dabei muss dem Begriff "vorrangig" nicht zwingend die Bedeutung "ausschliesslich" zukommen, lehnten doch in AHI 2000 S. 228 nicht die Organe der Arbeitslosenversicherung, sondern diejenigen der Invalidenversicherung, die Gewährung von Arbeitsvermittlung ab.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, dem Bundesamt für Sozialversicherung und der Ausgleichskasse Spirituosen, Bern, zugestellt.
 
Luzern, 25. November 2002
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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