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Informationen zum Dokument  BGer 1P.505/2002  Materielle Begründung
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BGer 1P.505/2002 vom 22.10.2002
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.505/2002 bie
 
Urteil vom 22. Oktober 2002
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesrichter Aeschlimann, Catenazzi,
 
Gerichtsschreiberin Leuthold.
 
X.________, zzt. im Bezirksgefängnis Zürich
 
in Sicherheitshaft, Postfach, 8026 Zürich,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
 
lic. iur. Pierre-Marie Waldvogel, Postfach, 8039 Zürich,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, vertreten durch Staatsanwalt, lic. iur. Renato Walty, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
 
Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer,
 
Postfach, 8023 Zürich.
 
Art. 10 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 5 EMRK (Sicherheitshaft; Haftentlassung),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
 
des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer,
 
vom 23. August 2002.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Bezirksanwaltschaft II für den Kanton Zürich erhob am 18. Dezember 2001 gegen X.________ Anklage wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, Veruntreuung und Vernachlässigung von Unterstützungspflichten. Sie beantragte, der Angeklagte sei mit fünfeinhalb Jahren Zuchthaus zu bestrafen. Nach Eingang der Anklage beim Bezirksgericht Zürich ordnete der Haftrichter dieses Gerichts mit Verfügung vom 21. Dezember 2001 über X.________, der sich seit dem 25. Mai 2000 in Untersuchungshaft befand, die Sicherheitshaft an. Ein Haftentlassungsgesuch des Angeklagten wurde zunächst mit Verfügung des Haftrichters vom 13. Februar 2002 und danach mit Beschluss der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 26. Februar 2002 abgewiesen. Das Bezirksgericht Zürich, 9. Abteilung, sprach X.________ am 10. Juli 2002 der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, der Veruntreuung sowie der Vernachlässigung von Unterstützungspflichten schuldig und bestrafte ihn mit 40 Monaten Zuchthaus, wovon 776 Tage durch Untersuchungs- und Sicherheitshaft erstanden seien. Mit Präsidialverfügung des Bezirksgerichts vom gleichen Tag wurde die Fortdauer der Sicherheitshaft angeordnet.
 
Der Vorsitzende der 9. Abteilung des Bezirksgerichts verfügte am 5. August 2002 in Gutheissung eines entsprechenden Begehrens von X.________, dieser sei "per 13. August 2002 bedingt aus dem Strafvollzug zu entlassen" und es werde ihm "eine Probezeit von zwei Jahren ab der bedingten Entlassung angesetzt". Die Staatsanwaltschaft erhob gegen diese Verfügung - gemäss der darin angeführten Rechtsmittelbelehrung - mit Eingabe vom 7. August 2002 Rekurs an das Zürcher Obergericht. Am 8. August 2002 zog sie das Rechtsmittel wieder zurück. Die Bezirksanwaltschaft verfügte am 12. August 2002, X.________ werde vorläufig in Sicherheitshaft versetzt. Mit Verfügung vom 23. August 2002 bestätigte die Präsidentin der I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich diese Anordnung der Bezirksanwaltschaft und erklärte, der Angeklagte bleibe in Haft.
 
B.
 
Gegen diesen Entscheid liess X.________ am 26. September 2002 durch seinen Anwalt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde einreichen. Er beantragt, die Verfügung vom 23. August 2002 sei aufzuheben und er sei aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.
 
C.
 
Die Staatsanwaltschaft stellt in ihrer Vernehmlassung vom 2. Oktober 2002 sinngemäss den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Präsidentin der I. Strafkammer des Obergerichts verzichtete auf eine Vernehmlassung.
 
D.
 
In einer Replik vom 10. Oktober 2002 nahm X.________ zur Beschwerdeantwort der Staatsanwaltschaft Stellung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Die Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO) regelt in § 417 die Anordnung bzw. Fortsetzung der Sicherheitshaft im Berufungsverfahren. Gemäss § 417 Abs. 1 StPO verfügt der Gerichtspräsident über Anordnung oder Fortdauer der Sicherheitshaft. Sind die Akten dem Berufungsgericht zugestellt, so entscheidet darüber der Präsident des Berufungsgerichts (§ 417 Abs. 2 StPO). Nach § 417 Abs. 3 StPO kann ausnahmsweise auch die Anklagebehörde die Sicherheitshaft verfügen; sie stellt gleichzeitig dem Präsidenten des Berufungsgerichts schriftlich begründeten Antrag auf Bestätigung dieser vorsorglichen Massnahme. Der Präsident des Berufungsgerichts entscheidet endgültig.
 
Im vorliegenden Fall verurteilte das Bezirksgericht Zürich, 9. Abteilung, den Beschwerdeführer am 10. Juli 2002 zu 40 Monaten Zuchthaus. Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da die Staatsanwaltschaft dagegen Berufung an das Obergericht erklärt hat. Der Vorsitzende der 9. Abteilung des Bezirksgerichts verfügte am 5. August 2002 gestützt auf Art. 38 Ziff. 1 StGB, der Beschwerdeführer sei am 13. August 2002 bedingt aus dem Strafvollzug zu entlassen, da er dann zwei Drittel der vom Bezirksgericht ausgefällten Freiheitsstrafe verbüsst habe. Die Bezirksanwaltschaft verfügte am 12. August 2002 in Anwendung von § 417 Abs. 3 StPO, der Beschwerdeführer werde vorläufig in Sicherheitshaft genommen, und ersuchte gleichzeitig die Staatsanwaltschaft, dem Präsidenten des Berufungsgerichts Antrag auf Bestätigung dieser Haftverfügung zu stellen. Sie führte in der Begründung ihrer Verfügung aus, das Bezirksgericht sei zum Entscheid über die bedingte Entlassung "offensichtlich nicht zuständig"; es hätte aber die Aufhebung der Sicherheitshaft per 13. August 2002 anordnen können. Die Bezirksanwaltschaft hielt dafür, die Voraussetzungen für die Fortdauer der Haft seien nach wie vor gegeben, weshalb eine Haftentlassung per 13. August 2002 abzulehnen sei.
 
Die Präsidentin der I. Strafkammer des Obergerichts (im Folgenden als Präsidentin der Berufungsinstanz bezeichnet) bestätigte mit dem angefochtenen Entscheid vom 23. August 2002 die Verfügung der Bezirksanwaltschaft und damit die Fortdauer der über den Beschwerdeführer verhängten Sicherheitshaft.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV, weil sich die Präsidentin der Berufungsinstanz mit verschiedenen, von ihm in seiner Stellungnahme vom 20. August 2002 (zur Haftverfügung der Bezirksanwaltschaft vom 12. August 2002) vorgebrachten Argumenten nicht auseinander gesetzt habe. Er wirft der Präsidentin vor allem vor, sie habe sich nicht mit seinem Einwand befasst, die Bezirksanwaltschaft habe in unzutreffender Weise behauptet, das Bezirksgericht sei zum Erlass der Verfügung vom 5. August 2002 nicht zuständig gewesen.
 
2.1 Soweit er in diesem Zusammenhang auch einen Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 4 EMRK rügt, kommt der Berufung auf diese Vorschrift neben der Rüge der Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV keine selbstständige Bedeutung zu. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Präsidentin der Berufungsinstanz dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben hat, zur Anordnung der Sicherheitshaft gemäss Verfügung der Bezirksanwaltschaft vom 12. August 2002 Stellung zu nehmen. Damit wurde dem Anspruch auf ein kontradiktorisches Verfahren nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK Genüge getan.
 
2.2 Aus dem in Art. 29 Abs. 2 BV gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich die Pflicht der Behörde, die Sache zu prüfen und ihren Entscheid zu begründen. Diese Pflicht bedeutet jedoch nicht, dass sich die urteilende Instanz mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinander setzen und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegen müsste. Sie kann sich auf die für ihren Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Es genügt, wenn sich der Betroffene über die Tragweite des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinn müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde leiten liess und auf welche sich ihr Entscheid stützt (BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f.; 124 V 180 E. 1a S. 181, je mit Hinweisen).
 
Der angefochtene Entscheid genügt diesen Anforderungen. Die Präsidentin der Berufungsinstanz ging - auch wenn sie es nicht ausdrücklich sagte - davon aus, die Bezirksanwaltschaft habe von der Befugnis zur Haftanordnung gemäss § 417 Abs. 3 StPO Gebrauch machen dürfen. Sie legte sodann dar, dass der dringende Tatverdacht sowie Fluchtgefahr nach wie vor gegeben seien und die Fortdauer der Haft nicht unverhältnismässig sei. Dabei führte sie im Zusammenhang mit der Frage der Verhältnismässigkeit der Haft aus, die in Art. 38 StGB vorgesehene Möglichkeit der bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe setze eine rechtskräftige Verurteilung voraus. An dieser Voraussetzung fehle es im vorliegenden Fall, da über die gegen das Strafurteil des Bezirksgerichts seitens der Staatsanwaltschaft angemeldete Berufung noch zu entscheiden sein werde. Ein Entscheid über die Frage der bedingten Entlassung, zu welchem das Amt für Justizvollzug zuständig sei, könne daher noch nicht getroffen werden. Aus diesen Feststellungen ergibt sich, dass die Präsidentin der Berufungsinstanz die Ansicht des Beschwerdeführers, das Bezirksgericht sei zum Entscheid über die bedingte Entlassung zuständig gewesen, für unrichtig hielt. Im angefochtenen Entscheid wird in hinreichender Weise dargelegt, aus welchen Überlegungen die Haftverfügung der Bezirksanwaltschaft bestätigt wurde. Eine Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV liegt nicht vor.
 
3.
 
In materieller Hinsicht macht der Beschwerdeführer geltend, der angefochtene Entscheid verletze das Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 5 Ziff. 1 EMRK.
 
3.1 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Fortdauer der Haft oder Ablehnung eines Haftentlassungsgesuchs erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). Der Berufung auf Art. 5 Ziff. 1 EMRK kommt im vorliegenden Fall neben der Rüge der Verletzung von Art. 10 Abs. 2 BV keine selbstständige Bedeutung zu.
 
3.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, Ausgangspunkt für die Anordnung der Sicherheitshaft durch die Bezirksanwaltschaft sei der Umstand gewesen, dass ihm der Vorsitzende der 9. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich mit Verfügung vom 5. August 2002 die bedingte Entlassung nach Art. 38 StGB gewährt habe. Gemäss der Rechtsmittelbelehrung sei gegen diese Verfügung der Rekurs an das Obergericht zulässig gewesen. Die Anklagebehörde habe denn auch Rekurs eingelegt, diesen dann aber zurückgezogen. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, bei dieser Konstellation hätte die Bezirksanwaltschaft von der ihr in § 417 Abs. 3 StPO nur "ausnahmsweise" eingeräumten Kompetenz zur Haftverfügung keinen Gebrauch machen dürfen. Er hält die gegenteilige Auffassung der Präsidentin der Berufungsinstanz für verfassungswidrig.
 
§ 417 Abs. 3 StPO räumt ausnahmsweise auch der Anklagebehörde die Befugnis ein, nach dem erstinstanzlichen Urteil einen Verurteilten in Sicherheitshaft zu nehmen. Im vorliegenden Fall verurteilte das Bezirksgericht Zürich den Beschwerdeführer am 10. Juli 2002 zu 40 Monaten Zuchthaus und ordnete am selben Tag die Fortdauer der Sicherheitshaft an. Am 5. August 2002 verfügte der Vorsitzende der urteilenden Abteilung des Bezirksgerichts gestützt auf Art. 38 StGB die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers auf den 13. August 2002. Der Entscheid über die bedingte Entlassung nach Art. 38 StGB setzt jedoch eine rechtskräftige Verurteilung voraus, welche Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht gegeben war. Ausserdem ist nicht der Sachrichter, sondern die Vollzugsbehörde bzw. das Amt für Justizvollzug zum Entscheid über die bedingte Entlassung zuständig (§ 21 des zürcherischen Straf- und Vollzugsgesetzes; § 2 Abs. 1 und § 5 lit. a der zürcherischen Justizvollzugsverordnung). Demzufolge konnte am 5. August 2002 nicht über eine bedingte Entlassung des Beschwerdeführers entschieden werden. Die Verfügung des Vorsitzenden der 9. Abteilung des Bezirksgerichts konnte aber als Entscheid über die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherheitshaft verstanden werden, denn zu einem solchen Entscheid war er nach § 417 Abs. 1 StPO zuständig. Da gegen die Entlassung des Angeklagten aus der Sicherheitshaft kein Rechtsmittel gegeben ist, hat die Staatsanwaltschaft - wie sich aus ihrer Vernehmlassung zur staatsrechtlichen Beschwerde ergibt - den gegen die Verfügung vom 5. August 2002 erhobenen Rekurs nach Rücksprache mit dem Obergericht zurückgezogen. Wenn die Anklagebehörde bei dieser Situation verhindern wollte, dass der Beschwerdeführer am 13. August 2002 aus der Sicherheitshaft entlassen würde, obgleich sie die vom Bezirksgericht gegen ihn ausgefällte Strafe als zu niedrig erachtete und deshalb mit der Berufung eine höhere Strafe beantragen wollte, so blieb ihr keine andere Möglichkeit, als in Anwendung von § 417 Abs. 3 StPO die Sicherheitshaft anzuordnen. Mit Rücksicht auf die speziellen Umstände, die hier wegen der vom Vorsitzenden der 9. Abteilung des Bezirksgerichts am 5. August 2002 erlassenen Verfügung gegeben waren, konnte ohne Verletzung der Verfassung angenommen werden, es liege ein Ausnahmefall vor und die Bezirksanwaltschaft habe daher von der ihr in § 417 Abs. 3 StPO eingeräumten Befugnis zur Anordnung der Sicherheitshaft Gebrauch machen dürfen.
 
3.3 Nach § 67 in Verbindung mit § 58 StPO ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft zulässig, wenn der Angeklagte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und überdies Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr besteht. Ausserdem darf die Haft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (§ 58 Abs. 3 StPO).
 
Die Präsidentin der Berufungsinstanz war der Ansicht, im vorliegenden Fall seien der dringende Tatverdacht sowie Fluchtgefahr nach wie vor gegeben. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird diese Auffassung mit Recht nicht kritisiert. Die betreffenden Feststellungen im angefochtenen Entscheid (Ziff. II/2, S. 4), auf die hier zu verweisen ist, halten vor der Verfassung stand.
 
3.4 Der Beschwerdeführer wirft der Präsidentin der Berufungsinstanz vor, sie habe in verfassungswidriger Weise angenommen, die Fortdauer der Haft sei verhältnismässig.
 
3.4.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Haftdauer dann nicht mehr verhältnismässig, wenn sie in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt oder gar die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt (BGE 123 I 268 E. 3a S. 273; 116 Ia 143 E. 5a S. 147). Die in Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB vorgesehene Möglichkeit einer bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe ist bei der Berechnung der mutmasslichen Dauer der Freiheitsstrafe grundsätzlich ausser Acht zu lassen, es sei denn, die konkreten Umstände des Falles würden eine Berücksichtigung ausnahmsweise gebieten (Urteile des Bundesgerichts 1P.138/1991 vom 26. März 1991 und P.703/1987 vom 17. Juni 1987, publ. in SZIER 1992 S. 489 f. und SJIR 1988 S. 285 f.). Ein Ausnahmefall kann insbesondere dann vorliegen, wenn die Voraussetzungen von Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB aufgrund der konkreten Umstände aller Wahrscheinlichkeit nach erfüllt sein werden.
 
3.4.2 Im angefochtenen Entscheid wird ausgeführt, bei der Beurteilung der mutmasslichen Freiheitsstrafe müsse der Haftrichter von einer Hypothese ausgehen. Er sei aber weder befugt noch in der Lage, dem Entscheid des Sachrichters über die auszufällende Strafe vorzugreifen. Das Bezirksgericht Zürich habe den Beschwerdeführer erstinstanzlich zu einer Zuchthausstrafe von 40 Monaten verurteilt. Die Urteilsbegründung stehe noch aus. Die Anklagebehörde habe eine Bestrafung des Beschwerdeführers mit fünfeinhalb Jahren Zuchthaus verlangt. Die Staatsanwaltschaft habe bereits signalisiert, dass sie gegen den Entscheid des Bezirksgerichts Berufung einlegen und dabei eine Erhöhung der vom Bezirksgericht ausgefällten Strafe beantragen werde, da sie diese im Vergleich zu den Strafen anderer Tatbeteiligter für unangemessen niedrig halte. Aufgrund dieser Sachlage sei die von der Bezirksanwaltschaft beantragte Freiheitsstrafe ein (weiterhin) praktikabler Massstab zur Bemessung der mutmasslichen Freiheitsstrafe.
 
Sodann wird im angefochtenen Entscheid festgehalten, die in Art. 38 StGB vorgesehene Möglichkeit der bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe setze eine rechtskräftige Verurteilung voraus. An dieser Voraussetzung fehle es im vorliegenden Fall, da über die gegen das Strafurteil des Bezirksgerichts seitens der Staatsanwaltschaft angemeldete Berufung noch zu entscheiden sein werde. Ein Entscheid über die Frage der bedingten Entlassung, zu welchem das Amt für Justizvollzug zuständig sei, könne daher noch nicht getroffen werden. Im Übrigen sei dem Führungsbericht des Bezirksgefängnisses Zürich, wo sich der Beschwerdeführer vom 29. Mai 2000 bis 17. Oktober 2001 aufgehalten habe, zu entnehmen, dass er zwei Mal in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Mitinsassen verwickelt gewesen sei. Aufgrund der Vorstrafen des Beschwerdeführers sei aber auch zweifelhaft, ob bei ihm im Sinne von Art. 38 Ziff. 1 StGB Aussicht auf Bewährung bestehen würde. Eine bedingte Entlassung käme daher aller Wahrscheinlichkeit nach zum heutigen Zeitpunkt noch nicht in Betracht. Diese Frage müsse hier aber nicht abschliessend geprüft werden, da zur Zeit nicht von einer Überhaft gesprochen werden könne.
 
Der Beschwerdeführer kritisiert mit Grund die im angefochtenen Entscheid vertretene Auffassung, wonach die von der Bezirksanwaltschaft in der Anklageschrift beantragte Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren Zuchthaus als praktikabler Massstab zur Bemessung der mutmasslichen Freiheitsstrafe dienen könne. Wenn - wie hier - ein erstinstanzliches Strafurteil vorliegt, hat der Haftrichter bei der Beurteilung der zu erwartenden Freiheitsstrafe grundsätzlich von der durch die erste Instanz ausgesprochenen Strafe auszugehen. Im angefochtenen Entscheid wird zu Unrecht erklärt, weil die Staatsanwaltschaft Berufung einlegen und dabei eine Erhöhung der vom Bezirksgericht ausgefällten Strafe beantragen werde, sei vom Strafantrag in der Anklageschrift der Bezirksanwaltschaft auszugehen. Gleichwohl verstiess die Präsidentin der Berufungsinstanz nicht gegen die Verfassung, wenn sie die Fortdauer der Sicherheitshaft als verhältnismässig erachtete. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 25. Mai 2000, mithin seit rund 29 Monaten, in Haft. Das Bezirksgericht hat ihn zu 40 Monaten Zuchthaus verurteilt. Wie dargelegt, ist im Haftprüfungsverfahren die in Art. 38 StGB vorgesehene Möglichkeit einer bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe grundsätzlich ausser Acht zu lassen, es sei denn, die konkreten Umstände des Falles würden eine Berücksichtigung ausnahmsweise gebieten. Es lässt sich mit Grund annehmen, ein solcher Ausnahmefall sei hier nicht gegeben. Die betreffenden, oben (E. 3.4.2 Abs. 2) angeführten Überlegungen der kantonalen Instanz sind entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht zu beanstanden. Die Annahme, es könne zur Zeit noch nicht von einer Überhaft gesprochen werden, hält vor der Verfassung stand. Die kantonale Instanz ist indessen gehalten, das Berufungsverfahren so rasch als möglich zum Abschluss zu bringen.
 
Nach dem Gesagten verletzte die Präsidentin der Berufungsinstanz das Recht auf persönliche Freiheit nicht, wenn sie die Anordnung der Sicherheitshaft gemäss Verfügung der Bezirksanwaltschaft vom 12. August 2002 bestätigte. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher abzuweisen.
 
4.
 
Dem Begehren des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG kann mit Rücksicht auf die gesamten Umstände des Falles entsprochen werden.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
 
2.2 Rechtsanwalt Pierre-Marie Waldvogel, Zürich, wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'800.-- entschädigt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Oktober 2002
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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