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Informationen zum Dokument  BGer I 252/2002  Materielle Begründung
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BGer I 252/2002 vom 10.10.2002
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 252/02
 
Urteil vom 10. Oktober 2002
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Flückiger
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
R.________, 1969, Beschwerdegegner,
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 26. Februar 2002)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1969 geborene R.________ meldete sich am 7. Oktober 1993 unter Hinweis auf eine Zementallergie, Asthma-, Schulter- und Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Umschulung auf eine neue Tätigkeit) an. Er gab an, er habe im Jahre 1987 eine Maurerlehre wegen der Zementallergie abbrechen müssen, sei in der Folge als Hilfsarbeiter, Mitfahrer bei der Kehrichtabfuhr und Raumpfleger tätig gewesen und seit Dezember 1992 arbeitslos. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen nahm Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht vor. Anschliessend sprach sie dem Versicherten mit Verfügungen vom 22. November 1994, 3. Februar 1995 und 9. Juni 1995 berufliche Eingliederungsmassnahmen in Form einer Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten an der Handels- und Dolmetscherschule St. Gallen zu. Diese Eingliederungsmassnahme wurde im Januar 1997 abgebrochen. Mit Verfügung vom 25. April 1997 lehnte es die IV-Stelle ab, dem Versicherten eine Rente auszurichten. Auf Beschwerde hin hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen diese Verfügung auf und wies die Sache zur Weiterführung der beruflichen Eingliederung an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 29. April 1999). Zwischenzeitlich war der Versicherte ab 15. September 1997 als Maschinenbediener erwerbstätig gewesen, bis er im Februar 1999 erneut arbeitslos wurde. Am 2. Februar 2000 bewilligte die IV−Stelle eine vom 1. Februar bis 30. April 2000 dauernde berufliche Abklärung im Informatikbereich der Eingliederungsstätte B.________. Mit Verfügung vom 11. Februar 2000 sprach sie dem Versicherten ein "kleines" Taggeld in Höhe von Fr. 72.- zu.
 
B.
 
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Verfügung vom 11. Februar 2000 auf und wies die Sache zur Ermittlung und Ausrichtung eines "grossen" Taggeldes im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 26. Februar 2002).
 
C.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Verwaltungsverfügung vom 11. Februar 2000 wieder herzustellen.
 
Während R.________ auf eine Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde verzichtet, beantragt die IV-Stelle deren Gutheissung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 IVG) und Umschulung (Art. 17 IVG) sowie die Abgrenzung zwischen diesen beiden Arten beruflicher Eingliederungsmassnahmen (BGE 110 V 269 ff. Erw. 1c, d und e, 118 V 14 Erw. 1c/cc) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zur Bemessung der Taggelder bei Umschulung (Art. 24 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 21 IVV; "grosses Taggeld") und bei erstmaliger beruflicher Ausbildung (Art. 24 Abs. 2bis IVG in Verbindung mit Art. 21bis IVV; "kleines Taggeld") sowie zu den Voraussetzungen einer Gleichstellung der erstmaligen beruflichen Ausbildung mit der Umschulung (Art. 6 Abs. 2 IVV). Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist der Taggeldanspruch für die Zeit ab 1. Februar 2000 und in diesem Rahmen die Frage, ob dem Beschwerdegegner ein "grosses" oder ein "kleines" Taggeld zusteht. Die Vorinstanz gelangte zum Ergebnis, auf Grund des während des Zeitraums von September 1997 bis Februar 1999 erzielten Verdienstes stehe dem Versicherten ein "grosses" Taggeld zu. Demgegenüber vertritt das Beschwerde führende Bundesamt die Ansicht, angesichts des während der 1987 abgebrochenen Maurerlehre erzielten Verdienstes sei lediglich ein "kleines" Taggeld auszurichten.
 
2.1 Die Vorinstanz erwog, entscheidend für die Abgrenzung zwischen erstmaliger beruflicher Ausbildung einerseits und Umschulung andererseits sei, ob die versicherte Person bereits effektiv erwerbstätig gewesen sei oder nicht, wobei insoweit nicht der Zeitpunkt des Beginns der konkreten Eingliederungsmassnahme, sondern der Eintritt der leistungsspezifischen Invalidität massgebend sei. Diese bestehe bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in der durch einen Gesundheitsschaden ausgelösten Unfähigkeit, die begonnene Berufsausbildung abzuschliessen oder den entsprechenden Beruf nach dem Abschluss der Ausbildung effektiv auszuüben. Im vorliegenden Fall sei der spezielle Versicherungsfall bereits 1987 eingetreten, als der Beschwerdegegner die Maurerlehre aus gesundheitlichen Gründen habe abbrechen müssen. Grundsätzlich sei also die vorliegende Eingliederungsmassnahme als Teil einer erstmaligen beruflichen Ausbildung zu betrachten, da der Beschwerdegegner vor seiner Maurerlehre nicht erwerbstätig gewesen sei. Art. 6 Abs. 2 IVV, wonach eine neue berufliche Ausbildung nach dem invaliditätsbedingten Abbruch einer ersten beruflichen Ausbildung dann einer Umschulung gleichgestellt ist, wenn das während der schliesslich abgebrochenen Ausbildung zuletzt erzielte Erwerbseinkommen höher gewesen ist als das gemäss Art. 24 Abs. 2bis IVG höchstzulässige Taggeld mit vollen Zulagen, sei nicht direkt anwendbar, da der vom Beschwerdegegner 1987 erzielte Lehrlingslohn tiefer gewesen sei als dieser Grenzbetrag. Die in Art. 6 Abs. 2 IVV enthaltene Regelung bezwecke jedoch, auch bei einer erstmaligen beruflichen Ausbildung durch die Gleichstellung mit der Umschulung ein Taggeld ausrichten zu können, welches dem zuletzt effektiv erzielten Einkommen und damit dem effektiven Bedarf der versicherten Person entspreche. Es sei nicht einzusehen, weshalb die entsprechende Vergleichsrechnung zwingend immer auf den Zeitpunkt des Eintritts des spezifischen Versicherungsfalls erfolgen sollte. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen zwischen dem Eintritt der spezifischen Invalidität und der konkreten Eingliederungsmassnahme eine lange Zeit vergangen ist, während welcher der Versicherte voll erwerbstätig war, sei es sinnlos, den Leistungsbedarf nach einem Lehrlingslohn bemessen zu wollen, der längst Vergangenheit und für den Versicherten völlig irrelevant sei. Hier werde durch das Abstellen auf die Einkommenssituation bei Eintritt der spezifischen Invalidität bzw. die Verneinung der Anwendbarkeit der Ausnahmebestimmung von Art. 6 Abs. 2 IVV eine Unterscheidung geschaffen, die sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lasse und für welche kein vernünftiger Grund ersichtlich sei. Denn auch derjenige Versicherte, der nach dem Eintritt der spezifischen Invalidität, aber vor dem Beginn der konkreten Eingliederungsmassnahme voll erwerbstätig gewesen sei, habe wie derjenige mit einem überdurchschnittlichen Ausbildungslohn einen höheren Leistungsbedarf, der durch das kleine Taggeld nicht ausreichend abgedeckt sei. Die durch den engen Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 IVV ausgelöste Ungleichbehandlung von Versicherten mit einem identischen Leistungsbedarf habe stossende, geradezu rechtsmissbräuchliche Folgen. Es liege demnach eine ausfüllungsbedürftige unechte Gesetzeslücke vor. Art. 6 Abs. 2 IVV sei in dem Sinne zu ergänzen, dass er nicht nur das während, sondern auch das nach der abgebrochenen Ausbildung zuletzt erzielte, den Grenzbetrag übersteigende Einkommen erfasse.
 
Zum gleichen Ergebnis führe das Abstellen auf die der unterschiedlichen Taggeldbemessung zu Grunde liegende Überlegung, dass jedermann die erstmalige berufliche Ausbildung selbst zu finanzieren habe, weshalb die Invalidenversicherung nur die Mehrkosten trage, während eine Umschulung und deren Kosten vollumfänglich invaliditätsbedingt seien. In derselben Situation wie der Umzuschulende befinde sich auch der Versicherte, der keine berufliche Ausbildung absolviert habe, aber erwerbstätig gewesen sei. Art. 6 Abs. 1 IVV sehe deshalb vor, dass auch jene Ausbildungsmassnahme als Umschulung gelte, welche der ohne vorgängige berufliche Ausbildung erwerbstätig gewesene Versicherte zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit benötige. Dahinter stehe die Überlegung, dass dieser Versicherte ein Leben lang ohne Ausbildung hätte erwerbstätig sein können, wenn er nicht invalid geworden wäre. Demnach seien auch bei ihm die Kosten der Berufsausbildung ausschliesslich invaliditätsbedingt. Wenn ein Versicherter nach einem krankheitsbedingten Abbruch der erstmaligen beruflichen Ausbildung lange Zeit eine geeignete Erwerbstätigkeit aufnehme und davon auszugehen sei, dass er ohne neu hinzutretende Gesundheitsbeeinträchtigung sein Leben lang als Nichtausgebildeter erwerbstätig gewesen wäre, so müsse er jenen Versicherten gleichgestellt werden, die - nicht krankheitsbedingt - auf eine berufliche Ausbildung verzichtet haben und erwerbstätig gewesen sind. Die spezifische Invalidität sei diesfalls nicht bereits mit dem Abbruch der erstmaligen Ausbildung eingetreten, sondern erst mit der späteren krankheitsbedingten Unmöglichkeit, die ungelernte Erwerbstätigkeit weiter auszuüben. Es liege ein neuer Versicherungsfall vor, welcher den ersten - den krankheitsbedingten Abbruch der erstmaligen beruflichen Ausbildung - ablöse. Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 IVV lasse es zu, auch Fälle wie den vorliegenden darunter zu subsumieren, denn wer seine erstmalige berufliche Ausbildung abgebrochen habe und danach erwerbstätig gewesen sei, habe ohne vorgängige berufliche Ausbildung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Daher könne sogar von einem Umschulungsanspruch des Versicherten ausgegangen werden, welcher ebenfalls einen Anspruch auf ein "grosses" Taggeld begründe.
 
2.2
 
2.2.1 Es steht fest, dass der Beschwerdegegner im Jahr 1987 die begonnene Maurerlehre aus gesundheitlichen Gründen (Stauballergie) abbrechen musste. Vor dieser Lehre hatte er keine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Daher kommt als berufliche Eingliederungsmassnahme auf Grund dieses Versicherungsfalls nur eine erstmalige berufliche Ausbildung im Sinne von Art. 16 IVG in Frage, welche grundsätzlich zum Bezug eines "kleinen" Taggeldes berechtigt (Art. 24 Abs. 2bis IVG). Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 IVV, wonach eine neue Ausbildung dann der Umschulung gleichgestellt ist - und folglich zu einem "grossen" Taggeld berechtigt -, wenn das während der abgebrochenen erstmaligen beruflichen Ausbildung erzielte Erwerbseinkommen höher war als das nach Art. 24 Abs. 2bis IVG zulässige Höchsttaggeld für Alleinstehende mit den vollen Zuschlägen nach den Art. 24bis und 25 IVG, sind unbestrittenermassen nicht erfüllt.
 
2.2.2 Der Beschwerdegegner übte nach dem Abbruch der Maurerlehre und damit nach Eintritt der Invalidität verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten aus. Alle diese Einsätze musste er jedoch nach relativ kurzer Zeit wegen chronischer Rückenbeschwerden wieder aufgeben. Angesichts der Arztberichte, welche übereinstimmend das Vorliegen einer chronischen Lumbago bestätigen, des zeitlichen Ablaufs sowie der Angaben in der IV-Anmeldung vom 7. Oktober 1993 ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner bereits bei Eintritt der anspruchsspezifischen Invalidität im Jahr 1987 an Rückenbeschwerden litt, welche seine Arbeitsfähigkeit erheblich beeinträchtigten. Wegen dieses Gesundheitsschadens musste er auch die ab September 1997 ausgeübte Erwerbstätigkeit als Maschinenbediener aufgeben. Diese Arbeit war somit von Beginn an wegen der bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen ungeeignet. Unter diesen Umständen kann, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, nicht von einer neu hinzugetretenen Gesundheitsbeeinträchtigung gesprochen werden, und es liegt kein neuer Versicherungsfall vor (vgl. AHI 2002 S. 98 Erw. 3). Die Zusprechung beruflicher Eingliederungsmassnahmen durch die Verfügung vom 2. Februar 2000 erfolgte somit weiterhin im Rahmen des Versicherungsfalls von 1987. Für die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 IVV - mit der Konsequenz, dass von einer Umschulung und nicht von einer erstmaligen beruflichen Ausbildung auszugehen wäre - bleibt kein Raum.
 
2.2.3 Die am 1. Februar 2000 angetretene berufliche Eingliederungsmassnahme beruht nach dem Gesagten auf dem Versicherungsfall von 1987 und ist deshalb als erstmalige berufliche Ausbildung zu qualifizieren, welche, da die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 IVV nicht erfüllt sind, lediglich Anspruch auf ein "kleines" Taggeld im Sinne von Art. 24 Abs. 2bis IVG begründet (vgl. AHI 2002 S. 98 Erw. 3). Für die sich aus Art. 6 Abs. 2 IVV ergebende Unterscheidung zwischen einem hohen Einkommen während der invaliditätsbedingt abgebrochenen Ausbildung - also vor dem Eintritt der Invalidität - einerseits und einem den Grenzbetrag übersteigenden "normalen" Lohn aus einer nach Eintritt der anspruchsspezifischen Invalidität ausgeübten Tätigkeit andererseits lassen sich durchaus sachliche Gründe anführen. Insbesondere hätte es die versicherte Person ansonsten in der Hand, die Eingliederung zu Gunsten einer besser bezahlten, ungeeigneten Arbeit aufzuschieben und auf diese Weise durch ihr eigenes Verhalten nach Eintritt des Versicherungsfalls die Höhe des Taggeldes zu bestimmen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sind daher, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht implizit bereits in AHI 2002 S. 98 Erw. 3 entschieden hat, die Voraussetzungen für die Annahme einer gerichtlich auszufüllenden unechten Lücke (BGE 126 V 155 Erw. 5b mit Hinweisen) nicht erfüllt.
 
2.3
 
Nach dem Gesagten hat der Beschwerdegegner während der am 1. Februar 2000 angetretenen beruflichen Eingliederungsmassnahme Anspruch auf ein kleines Taggeld. Dessen Höhe wurde durch die IV-Stelle in Anwendung von Art. 21bis IVV auf Fr. 72.- festgesetzt, was unbestrittenermassen korrekt ist. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher gutzuheissen.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. Februar 2002 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen, und der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen zugestellt.
 
Luzern, 10. Oktober 2002
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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