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Informationen zum Dokument  BGer I 506/2001  Materielle Begründung
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BGer I 506/2001 vom 13.09.2002
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 506/01
 
Urteil vom 13. September 2002
 
I. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Rüedi, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Flückiger
 
Parteien
 
K.________, 1988, Beschwerdeführer, handelnd durch seinen Vater A.________, und dieser vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,
 
gegen
 
IV-Stelle Obwalden, Brünigstrasse 144, 6060 Sarnen, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden, Sarnen
 
(Entscheid vom 20. Juni 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1988 geborene, in A.________ wohnhafte K.________ leidet an einer beidseitigen Hörbehinderung. Er besucht seit dem 21. August 2000 die Hörgeschädigtenabteilung der Schulen X.________. Die IV−Stelle Obwalden sprach ihm mit Verfügung vom 20. September 2000 entsprechende Sonderschulmassnahmen (Externat vom 21. August 2000 bis 30. Juli 2002) zu, wobei sie nebst einem Schulgeldbeitrag, einem Kostgeldbeitrag und allenfalls einer Entschädigung für notwendige pädagogisch-therapeutische Massnahmen auch die Übernahme von Transportkosten bewilligte. Letztere umfassen die Kosten der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln von A.________ bis H.________ und des Sammeltransportes ab H.________ bis zur Schule in X.________ sowie des Rückweges mit denselben Verkehrsmitteln.
 
B.
 
Die dagegen vom Versicherten erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es seien (an Stelle des zugesprochenen Transportes mit öffentlichen Verkehrsmitteln ab Bahnstation A.________ bis H.________ und zurück) die Kosten eines Taxitransportes für die Teilstrecke ab Domizil bis H.________ und zurück zu übernehmen - eventualiter nur für den Nachhauseweg am Nachmittag -, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden ab (Entscheid vom 20. Juni 2001).
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K.________ das Rechtsbegehren stellen, es sei ihm die Übernahme der Reisekosten von H.________ bis zum Wohnort für den Nachhauseweg am Nachmittag statt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln mit dem Taxi zuzusprechen.
 
Die Vorinstanz und die IV-Stelle schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 An die Sonderschulung bildungsfähiger Versicherter, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben und denen infolge Invalidität der Besuch der Volksschule nicht möglich oder nicht zumutbar ist, werden Beiträge gewährt (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 IVG), welche unter anderem besondere Entschädigungen für die mit der Überwindung des Schulweges im Zusammenhang stehenden invaliditätsbedingten Kosten umfassen (Art. 19 Abs. 2 lit. d IVG). Die Versicherung übernimmt die Kosten für die Transporte, die für den Besuch der Sonderschule notwendig sind, höchstens jedoch für die Fahrt bis zur nächstgelegenen geeigneten Durchführungsstelle (Art. 8quater Abs. 1 Satz 1 und 2 IVV). Vergütet werden die Kosten, die den Preisen der öffentlichen Transportmittel für Fahrten auf dem direkten Weg entsprechen (Art. 8quater Abs. 2 lit. a IVV) oder die Kosten des von der Sonderschule organisierten oder durch die Erziehungsberechtigten der versicherten Person durchgeführten Transportes (Art. 8quater Abs. 2 lit. b IVV).
 
1.2 Gemäss Rz. 32 des Kreisschreibens über die Vergütung der Reisekosten in der Invalidenversicherung (KSVR) werden die Kosten vergütet, die den Preisen der öffentlichen Transportmittel für Fahrten auf dem direkten Weg entsprechen, bei Sonderschulung allenfalls die Kosten eines von der Sonderschule organisierten Sammeltransportdienstes. Ist der versicherten Person die Benützung dieser Transportmittel nicht zumutbar, so werden ihr die aus der Benützung des im Einzelfall geeigneten Transportmittels entstehenden Kosten ersetzt.
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Vergütung der Kosten des Transports mit dem Taxi (anstatt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln) für die Strecke zwischen seinem Wohnort und H.________. Unbestritten ist dagegen der Anspruch auf Übernahme der Kosten des von der Sonderschule organisierten Sammeltransportes für die Strecke H.________ - X.________.
 
3.
 
3.1 Gemäss Art. 11 Abs. 1 IVV in der bis 31. Dezember 1996 gültig gewesenen Fassung übernimmt die Versicherung die für den Besuch der Sonderschule sowie für die Durchführung pädagogisch-therapeutischer Massnahmen notwendigen invaliditätsbedingten Transportkosten. Vergütet werden die Kosten, die den Preisen der öffentlichen Transportmittel für Fahrten auf dem direkten Weg entsprechen, oder die Kosten des von der Sonderschule organisierten Sammeltransportes. Ausnahmsweise können die Kosten anderer Transportmittel vergütet werden, wenn die Schule deren Benützung als notwendig erachtet. Nach der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung war die Übernahme der Kosten anderer als der öffentlichen Verkehrsmittel auch dann möglich, wenn der versicherten Person die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel unmöglich oder unzumutbar war. Für die Beurteilung der (Un-)Zumutbarkeit, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, waren nach der Rechtsprechung die gesamten Umstände des Einzelfalles massgeblich, insbesondere das Alter, der Gesundheitszustand, ein allenfalls unverhältnismässig grosser Zeitaufwand infolge schlechter Verkehrsverbindungen und die Länge des Schulweges (nicht veröffentlichtes Urteil M. vom 25. Februar 1987, I 125/86; Hardy Landolt, Das Zumutbarkeitsprinzip im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Zürich 1995, S. 253 f. mit weiteren Hinweisen). Auf Grund des allgemeinen Verhältnismässigkeitsgrundsatzes war ausserdem erforderlich, dass die Transportkosten in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Eingliederungserfolg standen (BGE 107 V 87).
 
3.2 Mit Verordnung vom 25. November 1996 hat der Bundesrat die Massnahmen für die Sonderschulung und die Betreuung von hilflosen Versicherten vor dem vollendeten 20. Altersjahr neu geregelt und dabei unter anderem Art. 11 IVV in der bis dahin geltenden Fassung aufgehoben. Der seit 1. Januar 1997 in Kraft stehende Art. 8quater IVV (vgl. Erw. 1a hievor) entspricht laut den amtlichen Erläuterungen zur entsprechenden Änderung der IVV den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Art. 8 Abs. 1 lit. d, 11 Abs. 1, 12 Abs. 1 lit. e, 12 Abs. 2 sowie 90 Abs. 5 IVV. Da somit keine materielle Änderung gegenüber der bis dahin geltenden Rechtslage stattfand, ist die dazu ergangene Rechtsprechung (Erw. 3.1 hievor) weiterhin massgebend.
 
4.
 
4.1 Die Behinderung des Beschwerdeführers schliesst die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel und die Bewältigung des Schulweges zu Fuss bis zur Bahnstation in A.________, anschliessend mit dem Zug bis H.________ (mit einmaligem Umsteigen in G.________) und schliesslich mit dem Sammeltransport bis X.________ nicht aus. Dies ist unbestritten. Der Versicherte stützt seinen Antrag denn auch auf die Begründung, die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihm wegen der ungünstigen Verkehrsverbindungen nicht zumutbar. Verwaltung und Vorinstanz bejahen dagegen die Zumutbarkeit und vertreten ausserdem die Ansicht, die erreichbare Zeitersparnis rechtfertige die entstehenden zusätzlichen Kosten nicht.
 
4.2
 
4.2.1 Gemäss der vom Vater der Beschwerdeführers verfassten Aufstellung vom 25. September 2000 benötigt der Versicherte am Morgen für die Strecke von seinem Domizil bis nach H.________ rund 50 Minuten. Diese Zeitspanne setzt sich zusammen aus einem Fussweg von einer guten halben Stunde sowie einer Zugfahrt von insgesamt 16 Minuten mit einmaligem Umsteigen. Zusammen mit der Fahrt mit dem Sammeltransport von H.________ nach X.________, welche ungefähr 45 Minuten dauert, ergibt sich ein Schulweg von rund eineinhalb Stunden. Der Rückweg ist nach diesen Angaben an den fünf wöchentlichen Schultagen mit einem Zeitaufwand von rund zweieinviertel bis zweieinhalb Stunden (45 Minuten Sammeltransport, 30 bis 54 Minuten Wartezeit in H.________, 18 Minuten Zug, rund 40 Minuten Fussweg) verbunden. Die Vorinstanz wendet dagegen ein, die für die zu Fuss zurückzulegende Strecke eingesetzte Zeitspanne lasse sich durch die Benützung eines Fahrrads wesentlich verringern.
 
4.2.2 Die Strecke nach bzw. ab H.________ nach Hause lässt sich mit dem Taxi unbestrittenermassen in rund 20 Minuten bewältigen, sodass der Schulweg auf etwas mehr als eine Stunde verkürzt werden könnte. Die Kosten des Taxis belaufen sich auf Fr. 68.-- für Hin- und Rücktransport bzw. auf Fr. 34.-- pro Tag für den Rückweg allein.
 
4.3
 
4.3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hatte im Urteil H. vom 28. Juni 2002 (C 249/01) die Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen Personen, welche zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit Arbeit ausserhalb ihrer Wohnortsregion aufgenommen und Anspruch auf einen Pendlerkostenbeitrag gemäss Art. 68 Abs. 1 lit. a AVIG haben, die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen ungünstiger Verkehrsverbindungen unzumutbar sei. Es führte aus, die Beurteilung habe auf Grund der konkreten Umstände im Einzelfall zu erfolgen. Relevante Kriterien seien namentlich die Fahrzeit, die Anzahl Umsteigevorgänge und die damit verbundene Wartezeit, längere Wegstrecken, die zu Fuss zurückzulegen sind, sowie die Zeitersparnis bei Benützung eines privaten Motorfahrzeugs. Diese Kriterien sind auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im vorliegenden Zusammenhang zu beachten. Zusätzlich ist - entsprechend der unter Erw. 3.1 hievor wiedergegebenen Praxis - dem Alter der versicherten Person sowie der Art und Schwere der Behinderung Rechnung zu tragen.
 
4.3.2 Wird mit der Vorinstanz davon ausgegangen, dass sich der Zeitaufwand für die Strecke Domizil - A.________ Station auf 10 bis 20 Minuten verkürzen lässt, verbleibt ein täglicher Zeitaufwand für den Schulweg von rund 80 Minuten am Morgen (10 bis 20 Minuten Fussweg oder Fahrrad; 20 Minuten Zugfahrt mit einmaligem Umsteigen; 45 Minuten Sammeltransport) und rund 120 Minuten am Nachmittag/Abend (45 Minuten Sammeltransport; Wartezeit in H.________ 30 bis 54 Minuten; 20 Minuten Zugfahrt mit einmaligem Umsteigen; rund 20 Minuten für die Reststrecke bis nach Hause). Insgesamt benötigt der Beschwerdeführer für die Bewältigung des täglichen Schulweges mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Sammeltransport rund 3 Stunden und 20 Minuten, wobei darin ein Anteil Fussmarsch oder Fahrradstrecke, zwei Umsteigevorgänge (G.________ und H.________) sowie auf dem Rückweg ein längerer Aufenthalt im Bahnhof H.________ enthalten sind.
 
Der Auffassung des kantonalen Gerichts, dieser Schulweg sei dem bei Antritt des Ausbildungsgangs und Verfügungserlasses 12-jährigen, hörbehinderten Beschwerdeführer zumutbar, kann nicht beigepflichtet werden. Neben dem sehr hohen Zeitaufwand und den notwendigen Umsteigevorgängen fällt namentlich auch der Umstand ins Gewicht, dass auf dem Rückweg eine längere Wartezeit auf dem Bahnhof H.________ in Kauf genommen werden muss. Die Möglichkeit, während dieser Zeit Schularbeiten zu verrichten, muss stark relativiert werden, verfügt doch der Warteraum gemäss der von der Vorinstanz eingeholten Auskunft wohl über genügend Sitzgelegenheiten, aber über keinen Tisch. Unter diesen Umständen ist dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten, nach einem Hinweg von rund 80 Minuten und der Absolvierung eines Schultages noch einen Rückweg von rund zwei Stunden zu bewältigen. Die IV-Stelle ist daher verpflichtet, die Kosten des Transportes mit einem anderen Verkehrsmittel zu übernehmen, falls sich dadurch eine erhebliche Verbesserung erreichen lässt. Ausserdem erfordert der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass die entstehenden zusätzlichen Kosten in einer angemessenen Relation zur erzielten Verbesserung stehen und das vernünftige Verhältnis der Gesamtkosten zum angestrebten Eingliederungserfolg weiterhin gegeben ist (vgl. BGE 107 V 87).
 
4.3.3 Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass der bescheidene Zeitgewinn am Morgen die für den Taxitransport entstehenden Kosten von Fr. 34.-- pro Fahrt (abzüglich eine geringe Einsparung durch den Wegfall des Zugabonnements) nicht rechtfertigt. Die Verhältnismässigkeit zwischen der erzielbaren Verbesserung und den zusätzlichen Kosten ist insoweit nicht gewahrt. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird an diesem Antrag denn auch zu Recht nicht mehr festgehalten. Demgegenüber ermöglicht der Taxitransport am Nachmittag eine Zeitersparnis von nahezu einer Stunde, wobei die lange Wartezeit auf dem Bahnhof H.________ entfällt. Dies sowie die Reduktion des gesamten täglichen Zeitaufwandes für den Schulweg von rund 3 Stunden 20 Minuten auf etwa 2 Stunden 25 Minuten stellt eine erhebliche Verbesserung dar, welche zu den entstehenden zusätzlichen Kosten von Fr. 34.-- pro Tag bzw., bei 170 Schultagen, Fr. 5'780.-- pro Jahr (abzüglich eingesparte Bahnkosten) in einer vernünftigen Relation steht. Die zusätzlichen Ausgaben stellen auch die Verhältnismässigkeit der Gesamtkosten zum angestrebten Eingliederungserfolg nicht in Frage. Der Beschwerdeführer hat daher Anspruch auf Ersatz der Kosten des Transportes mit dem Taxi ab H.________ am Nachmittag.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend steht dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG; SVR 1997 IV Nr. 110 S. 341 Erw. 3).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom 20. Juni 2001 und die Verfügung der IV−Stelle Obwalden vom 20. September 2000 insoweit abgeändert, als dem Beschwerdeführer die Übernahme der Reisekosten von H.________ bis zum Wohnort für den Nachhauseweg am Nachmittag mit dem Taxi statt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zugesprochen wird.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Obwalden hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden, der Ausgleichskasse Obwalden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 13. September 2002
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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