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Informationen zum Dokument  BGer I 237/2002  Materielle Begründung
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BGer I 237/2002 vom 17.07.2002
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 237/02 /Hm
 
Urteil vom 17. Juli 2002
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber Jancar
 
Parteien
 
B.________, 1957, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Herbert Bracher, Hauptstrasse 35, 4500 Solothurn,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
 
(Entscheid vom 12. März 2002)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1957 geborene B.________ ist gelernte Bauzeichnerin, dipl. Sozialarbeiterin und dipl. Künstlerin WBK. Von November 1994 bis August 1999 arbeitete sie zu 50 % als Sozialpädagogin im Sonderschulheim X.________ und daneben als Installations- und Videokünstlerin. Ab August 1999 gab sie die unselbstständige Erwerbstätigkeit auf und arbeitete ausschliesslich als selbstständige Künstlerin. Am 14. März 2000 erlitt sie eine akute Typ A-Aortendissektion und wurde am 15. März 2000 notfallmässig operiert. Am 11. Juni 2000 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Einholung verschiedener Arztberichte und eines Gutachtens des Dr. med. H.________, Facharzt für Herzkrankheiten FMH, vom 9. Oktober 2000 lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn die Ansprüche auf berufliche Massnahmen und auf eine Rente ab. Der Versicherten sei es zumutbar, einer körperlich nicht belastenden Tätigkeit vollumfänglich nachzugehen und dabei ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen. In einer Beraterfunktion, z.B. als Sozialpädagogin (wie bisher ausgeübt), sei eine 100%ige Arbeitsfähigkeit gegeben (Verfügung vom 6. Juli 2001).
 
B.
 
Hiegegen reichte die Versicherte beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Beschwerde ein und legte Berichte der Klinik Y.________ vom 20. April 2000 und des Spitals Z.________ vom 11. Oktober 2001 auf. Mit Entscheid vom 12. März 2002 wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die Zusprechung mindestens einer halben Invalidenrente ab 1. März 2001; eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Sie legt ein Zeugnis des Dr. med. E.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 12. April 2002 auf. Am 24. April 2002 reicht sie einen Bericht des Spitals Z.________ vom 22. April 2002 ein.
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat die Grundsätze zur Bedeutung, die den ärztlichen Stellungnahmen bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades zukommt (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen), zum Beweiswert eines Arztberichts (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis; RKUV 2000 Nr. KV 124 S. 214) sowie zur antizipierten Beweiswürdigung (BGE 124 V 94 Erw. 4b; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Zu ergänzen ist, dass nach Art. 4 Abs. 1 IVG als Invalidität die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit gilt.
 
Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben invalide oder von einer Invalidität unmittelbar bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen, zu verbessern, zu erhalten oder ihre Verwertung zu fördern. Dabei ist die gesamte noch zu erwartende Arbeitsdauer zu berücksichtigen.
 
Nach Art. 28 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente, wenn er mindestens zu 66 2/3 %, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zu 50 % oder auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40 % invalid ist; in Härtefällen hat der Versicherte nach Art. 28 Abs. 1bis IVG bereits bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % Anspruch auf eine halbe Rente.
 
Bei erwerbstätigen Versicherten ist der Invaliditätsgrad auf Grund eines Einkommensvergleichs zu bestimmen. Dazu wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre (Art. 28 Abs. 2 IVG). Der Einkommensvergleich hat in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt (allgemeine Methode des Einkommensvergleichs; BGE 104 V 136 Erw. 2a und b).
 
2.
 
Die Beschwerdeführerin reichte am 24. April 2002 den Bericht des Spitals Z.________ vom 22. April 2002 ein. Dies erfolgte mithin innerhalb der um den Ostern-Fristenstillstand erstreckten Rechtsmittelfrist (Art. 34 Abs. 1 lit. a OG), weshalb der Bericht beachtlich ist (BGE 127 V 353).
 
3.
 
Streitig ist der Grad der Arbeitsfähigkeit der Versicherten und damit die Feststellung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch erzielbaren Einkommens (Invalideneinkommen).
 
3.1
 
3.1.1
 
Verwaltung und Vorinstanz stellten auf das Gutachten des Dr. med. H.________ vom 9. Oktober 2000 ab, in welchem folgende Diagnose gestellt wurde: akute Typ A-Aortendissektion am 14. März 2000 unklarer Ätiologie, Entry dorsal im Bogen, Dissektion bis Truncus brachiocephalicus, A. carotis und subclavia sinistra, RCA und Aorta abdominalis, bicuspide Aortenklappe, leichte Aorteninsuffizienz, Status nach mechanischer Aortenklappenersatzoperation (CM R21), suprakoronarem Graft sowie einfacher venöser Myokardrevaskularisation (Venengraft auf RCA) am 15. März 2000, farbdopplerechokardiographisch am 20. Juni 2000 reguläre Klappenprothesenfunktion (maximaler/mittlerer Gradient 27/16 mmHg, KöF 1.3 cm2), postoperativer AV-Block Grad III, Status nach Implantation eines definitiven endvenösen 2-Kammerschrittmachersystems (Pacesetter, Affinity DR 5330 LS/RS) am 22. März 2000, Schrittmacherkontrolle bei Dr. G.________ am 16. Mai 2000 regulär; RF: Status nach Nikotinabusus; Sinusrhythmus, aktuell partielle Schrittmacherabhängigkeit; anamnestisch Äthylproblematik. Als Bauzeichnerin sollte die Versicherte körperlich nicht stark gefordert und deshalb theoretisch zu 100 % arbeitsfähig sein. In der Tätigkeit als Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin sei die effektive Art der Arbeit entscheidend. Rein theoretisch wäre eine teilweise oder gar vollständige Arbeitsfähigkeit je nach Tätigkeitsbereich - z.B. Beraterfunktion - objektiv realistisch und zumutbar. Die Arbeitsfähigkeit in der Tätigkeit als selbstständige Künstlerin zu qualifizieren erachte er praktisch nicht für möglich, da die Perspektiven - Arbeit und Verdienst - unsicher und die Vorstellungen der Versicherten etwas diffus seien. Gemäss ihren Angaben könnte sie theoretisch ihre bisherige Tätigkeit weiterhin wahrnehmen, wäre dabei aber wegen der Herumtragepflicht von Kisten und Lampen praktisch andauernd auf Helfer angewiesen, was schon aus finanziellen Gründen unrealistisch sei. In jeder körperlich nicht belastenden Arbeit sollte sie theoretisch uneingeschränkt erwerbstätig sein können, so lange der Krankheitsverlauf stabil bleibe. Berufliche Massnahmen drängten sich nur dann auf, wenn sie krankheitsbedingt und aus prognostischen Gründen eine der obigen Tätigkeiten nicht ausüben könnte. Eine Bereitschaft zu solchen Massnahmen habe sie aber nicht signalisiert; sie zeige sich im Gegenteil aktuell weiterbildungsmüde, etwas resigniert und wenig motiviert (reaktive Depression?). Auch wenn psychische Motive zu berücksichtigen seien und die chronische Angiopathie leider ein nicht zu unterschätzendes Progressionspotential aufweise, prognostisch also unsicher sei, fehlten sachliche Begründungen für eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit bzw. Erwerbstätigkeit zumindest in ihrer früheren Beraterfunktion als Sozialpädagogin.
 
3.1.2
 
Im Bericht an den Hausarzt vom 11. Oktober 2001 stellte das Spital Z.________ weitgehend die gleiche Diagnose wie Dr. med. H.________. Weiter wurde ausgeführt, die Versicherte leide an vermehrter Ermüdbarkeit und Dyspnoe bei grossen Anstrengungen. Sie vergesse öfters Dinge, z.B. Medikamente im Zug. Sie sei oft müde, fühle sich antriebslos und beschreibe sich im Moment als depressiv und besorgt über die Zukunft. Es scheine, dass sie das Ereignis noch nicht ganz verarbeitet habe. Sie hätten sie auf die Möglichkeit einer psychologischen Hilfe angesprochen, was vom Hausarzt mit ihr aufzugreifen sei. Möglicherweise wäre bei den geschilderten Beschwerden wie Zerstreutheit auch eine neuropsychologische Abklärung indiziert.
 
Im Bericht vom 22. April 2002 gab das Spitals Z.________ an, auf Grund der Herz-Kreislauferkrankung seien der Versicherten mittelschwere bis schwere Arbeiten unzumutbar. Solche Arbeiten müsse sie vermeiden, insbesondere das Tragen von Lasten. Für leichte bzw. sitzende Arbeiten sei sie aus kardialer Sicht zu 50 % arbeitsfähig. Auf Grund der Medikation (Betablocker) sei sie wahrscheinlich auch rascher ermüdbar. Zusammenfassend sei sie aus kardialer Sicht für leichte Arbeiten zu 50 % arbeitsfähig.
 
3.1.3
 
Der Hausarzt Dr. med. E.________, Allgemeine Medizin FMH, legte dar, die Beschwerdeführerin sei zu 80-100 % arbeitsunfähig (Bericht vom 21. Juli 2000) bzw. in der Arbeitsfähigkeit massiv eingeschränkt (Bericht vom 12. April 2002). Im letztgenannten Bericht führte er aus, sie erhalte starke blutdrucksenkende Medikamente. Deswegen oder auch wegen des vermuteten Gefässschadens leide sie zunehmend an Hirndurchblutungsstörungen, die sich in Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit und allgemeiner Hinrnleistungsschwäche äusserten.
 
3.2
 
Nach dem Gesagten bestehen zwischen der Expertise des Dr. med. H.________ vom 9. Oktober 2000 auf der einen Seite und den Berichten des Dr. med. E.________ vom 21. Juli 2000/12. April 2002 sowie des Spitals Z.________ vom 22. April 2002 auf der anderen Seite erhebliche Differenzen bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit. Auch wenn der Bericht des Spitals Z.________ 9 1/2 Monate nach Verfügungserlass erstattet wurde, ist er geeignet, die Beurteilung, bezogen auf den damaligen Zeitpunkt, zu beeinflussen (BGE 121 V 366 Erw. 1b, 99 V 102 mit Hinweisen), da darin in keiner Weise von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit Verfügungserlass gesprochen wird.
 
Im Weiteren ist zu beachten, dass Dr. med. H.________ bereits im Gutachten vom 9. Oktober 2000, also vor Verfügungserlass, das Vorliegen einer reaktiven Depression nicht ausschloss. Auch das Spital Z.________ stellte im Bericht vom 11. Oktober 2001 (drei Monate nach Verfügungserlass) weiterhin psychische Probleme fest und legte dar, es seien eine psychologische Betreuung und allenfalls eine neuropsychologische Abklärung ins Auge zu fassen. Unter diesen Umständen ist eine fachärztliche psychiatrische Abklärung notwendig, um die Einschränkung in der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit rechtsgenüglich beurteilen zu können.
 
Bei dieser Sachlage besteht keine hinreichende Grundlage zur Bestimmung des Invalideneinkommens. Notwendig ist eine erneute, sämtliche Aspekte des vorliegenden Falles umfassende interdisziplinäre medizinische Begutachtung, vorzugsweise in der hierfür spezialisierten Abklärungsstelle der Invalidenversicherung (MEDAS). Die einzuholende Expertise wird sich insbesondere darüber auszusprechen haben, ob - wie im Bericht des Spitals Z.________ vom 11. Oktober 2001 erwähnt wurde - in psychischer Hinsicht medizinische Massnahmen angebracht sind. Weiter wird sie zur Arbeitsfähigkeit in den in Betracht fallenden Tätigkeiten Stellung zu nehmen haben.
 
4.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend steht der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 12. März 2002 und die angefochtene Verfügung vom 6. Juli 2001 aufgehoben und es wird die Sache an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückgewiesen, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf berufliche Massnahmen und Rente neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 17. Juli 2002
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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