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Informationen zum Dokument  BGer 1A.128/2001  Materielle Begründung
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BGer 1A.128/2001 vom 18.01.2002
 
{T 0/2}
 
1A.128/2001/sta
 
Urteil vom 18. Januar 2002
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesrichter Reeb, Féraud, Catenazzi, Fonjallaz,
 
Gerichtsschreiberin Gerber.
 
K.________, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Kanton Zürich, vertreten durch die Justizdirektion des Kantons Zürich, Abteilung Opferhilfe, Neumühlequai 10, Postfach, 8090 Zürich Amtsstellen Kt ZH,
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, Postfach 441, 8401 Winterthur.
 
Opferhilfe
 
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich, II. Kammer, vom 5. Juli 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
K.________ stellte am 12. Januar 1998 bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Flensburg, Deutschland, Strafanzeige gegen L.________ wegen gefährlicher Körperverletzung, da dieser ihn auf der Insel Sylt, in der Zeit vom 15. bis 24. Juli 1997, in Kenntnis seiner Aids-Erkrankung mit dem HI-Virus infiziert habe. Mit Bescheid vom 28. Juli 2000 teilte die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Flensburg K.________ mit, dass das Ermittlungsverfahren gegen L.________ eingestellt werden müsse, weil dieser zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sei.
 
B.
 
Am 27. Januar 2001 stellte K.________ bei der Direktion der Justiz des Kantons Zürich, Opferhilfe, ein Gesuch um finanzielle Leistungen. Mit Verfügung vom 26. Februar 2001 wies die kantonale Opferhilfestelle das Gesuch um Entschädigung und Genugtuung ab, weil der Gesuchsteller zum Zeitpunkt der Tat keinen Wohnsitz in der Schweiz gehabt habe und der Anspruch auf Opferhilfe ohnehin gemäss Art. 16 Abs. 3 OHG verwirkt sei.
 
C.
 
Hiergegen erhob K.________ am 1. März 2001 Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit dem Antrag, ihm sei eine Entschädigung und eine Genugtuung in Höhe von Fr. 150'000.-- bis 200'000.-- zu zahlen. Zudem beantragte er weitere Opferhilfe in Form einer intensiven psychotherapeutischen Behandlung, um die psychischen und seelischen Folgeschäden der Tat aufzuarbeiten, sowie Wiedereingliederungsmassnahmen und Umschulungsbeihilfen zum Wiedereinstieg in das Berufsleben.
 
Das Sozialversicherungsgericht wies die Beschwerde am 5. Juli 2001 ab. Es hielt die mit der Beschwerde erfolgte Ausdehnung des Anfechtungsgegenstands auf Leistungen nach Art. 3 OHG zwar für zulässig, verneinte aber generell einen Anspruch auf Leistungen nach dem Opferhilfegesetz, weil die Straftat im Ausland verübt worden sei und K.________ seinen Wohnsitz zum Tatzeitpunkt nicht in der Schweiz gehabt habe.
 
D.
 
Hiergegen erhob K.________ am 10. August 2001 Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an das Sozialversicherungsgericht zurückzuweisen. Mit Beschwerdeergänzung vom 10. September 2001 machte K.________ geltend, seine Anträge seien von der Opferhilfestelle zu Unrecht abgewiesen worden; zudem sei der Sachverhalt falsch festgestellt worden und der angefochtene Entscheid sei unangemessen. Überdies habe er am 13. August 2001 bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Mannheim, Deutschland, Strafanzeige gegen die Justizvollzugsanstalt Mannheim wegen falscher ärztlicher und medikamentöser Behandlung erhoben.
 
E.
 
Die kantonale Opferhilfestelle, das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und das Bundesamt für Justiz haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, der sich auf das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz; OHG; SR 312.5) stützt. Hiergegen steht grundsätzlich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht offen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 5 VwVG; Art. 98 lit. g OG). Auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde ist daher grundsätzlich einzutreten.
 
1.2 Nicht einzutreten ist allerdings auf die Beschwerde, soweit darin die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheids bzw. der darin bestätigten Verfügung der kantonalen Opferhilfestelle gerügt wird. Diese Rüge ist für den Bereich der Opferhilfe nicht vorgesehen und daher unzulässig (Art. 104 lit. c OG). Nicht einzutreten ist ferner auf die Rüge der mangelhaften Sachverhaltsfeststellung, da der Beschwerdeführer auch nicht ansatzweise begründet, in welchen Punkten und weshalb der vom Sozialversicherungsgericht festgestellte Sachverhalt offensichtlich falsch oder unvollständig sei (Art. 104 lit. b i.V.m. Art. 105 Abs. 2 OG und Art. 108 Abs. 2 OG). Zu prüfen ist daher lediglich, ob das Sozialversicherungsgericht opferhilferechtliche Ansprüche des Beschwerdeführers zu Unrecht verneint hat. Zwar ist die Beschwerde auch in diesem Punkt kaum begründet. Sinngemäss kann ihr jedoch entnommen werden, die Begründung der kantonalen Instanzen für die fehlende Anspruchsberechtigung des Beschwerdeführers, d.h. das Erfordernis des Wohnsitzes in der Schweiz zum Tatzeitpunkt, sei bundesrechtswidrig.
 
1.3 Der Streitgegenstand vor Bundesgericht ist auf das im vorinstanzlichen Verfahren streitige Verwaltungsrechtsverhältnis beschränkt. Im Verfahren vor dem Sozialversicherungsgericht ging es ausschliesslich um Opferhilfeleistungen aufgrund der Ansteckung mit dem HI-Virus im Sommer 1997 auf der Insel Sylt. Nicht zu beurteilen waren allfällige Leistungen aufgrund der angeblich falschen medizinischen Behandlung in der Justizvollzugsanstalt Mannheim. Letzteres kann daher auch im vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigt werden.
 
2.
 
2.1 Art. 11 OHG unterscheidet für den Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung zwischen Straftaten, die in der Schweiz verübt werden (Abs. 1 und 2) und Straftaten im Ausland (Abs. 3). Während jedes Opfer einer in der Schweiz verübten Straftat - unabhängig von Staatsangehörigkeit und Wohnsitz - zur Geltendmachung eines Entschädigungs- oder Genugtuungsanspruchs berechtigt ist, beschränkt Art. 11 Abs. 3 OHG die Berechtigung bei Auslandstraftaten auf Personen mit Schweizer Bürgerrecht und Wohnsitz in der Schweiz (BGE 126 II 228 E. 2b S. 231 f.). Beide Voraussetzungen müssen im Zeitpunkt der Tat vorliegen (VPB 58/1994 Nr. 65 E. 2 S. 515).
 
2.2 Da der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt zwar Schweizer Bürger war, seinen Wohnsitz aber in Deutschland hatte, stehen ihm somit keine Ansprüche auf Schadenersatz oder Genugtuung nach Art. 11 ff. OHG zu.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer verlangt ferner Hilfe bei der psychischen Verarbeitung der Folgen der Straftat sowie Hilfe zur Wiedereingliederung in das Berufsleben. Hierbei handelt es sich um längerfristige Hilfen i.S.v. Art. 3 OHG, die von den Beratungsstellen erbracht (Abs. 3) oder finanziert werden, soweit dies aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers angezeigt ist (Abs. 4).
 
3.1 Nach seinem Wortlaut ist der Anspruch auf Beratung und auf Kostenübernahme durch die Beratungsstelle gemäss Art. 3 OHG weder vom Wohnsitz oder der Nationalität des Opfers noch vom Begehungs- und Erfolgsort der Straftat abhängig. Auch Art. 2 OHG, der den Geltungsbereich des Opferhilfegesetzes umschreibt, enthält keine derartige Einschränkung. Das Bundesgericht folgerte jedoch aus der Systematik, der Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des Opferhilfegesetzes, dass das Opfer einer im Ausland begangenen Straftat Leistungen gemäss Art. 3 OHG nur in Anspruch nehmen könne, wenn es schon im Tatzeitpunkt eine hinreichende Beziehung zur Schweiz unterhalten habe (BGE 126 II 228 E. 2d-f S. 234 ff.). Dies sei anzunehmen, wenn das Opfer im Zeitpunkt der Tat Wohnsitz in der Schweiz hatte; war dies nicht der Fall, könnten in der Regel keine Hilfeleistungen nach Art. 3 OHG beansprucht werden. Ob allenfalls eine andere persönliche Beziehung des Opfers zur Schweiz genügen könne, liess das Bundesgericht ausdrücklich offen (a.a.O., E. 2f S. 236). Diese müsste jedenfalls so geartet sein, dass sie eine ähnlich enge Beziehung wie der Wohnsitz darstellt.
 
3.2 Das Bundesgericht hat im zitierten Entscheid u.a. auf Art. 11 Abs. 3 OHG Bezug genommen, weil die Kosten weiterer Hilfsmassnahmen gemäss Art. 3 Abs. 4 OHG regelmässig auch unter den Begriff des Schadens nach Art. 41 OR fallen und deshalb auch mit der Entschädigung abgegolten werden können (BGE 126 II 228 E. 2c/bb S. 233/234). Es liege deshalb nahe, auch für die Inanspruchnahme weiterer Hilfe gemäss Art. 3 Abs. 4 OHG das Bestehen einer persönlichen Beziehung zur Schweiz im Tatzeitpunkt zu verlangen (a.a.O., E. 2f S. 236/237). Allerdings verlangt Art. 11 Abs. 3 OHG kumulativ die schweizerische Staatsangehörigkeit und den Wohnsitz in der Schweiz, während das Bundesgericht im Entscheid BGE 126 II 228 eines dieser Elemente - den Wohnsitz in der Schweiz - genügen liess. Dann aber sollte auch das Vorliegen des anderen Elements - der Staatsangehörigkeit - im Tatzeitpunkt genügen, um Beratungshilfe i.S.v. Art. 3 ff. OHG in Anspruch nehmen zu können (so Dominik Zehntner, Anmerkung zum Bundesgerichtsentscheid vom 19. Mai 2000, in: AJP 2000 S. 1574).
 
3.3 Für das Ausreichen der schweizerischen Staatsangehörigkeit spricht auch die in BGE 126 II 228 E. 2e S. 235 betonte Parallele zwischen der Opferhilfe und der Zuständigkeit der schweizerischen Strafbehörden: Zwar knüpft die schweizerische Strafgewalt in erster Linie an den Begehungsort an (Art. 3 StGB); gemäss Art. 5 StGB können aber unter besonderen Voraussetzungen auch Vergehen oder Verbrechen, die im Ausland gegen einen Schweizer begangen worden sind, nach schweizerischem Strafrecht geahndet werden. Es mag sich um eine in der Praxis seltene Fallkonstellation handeln; dennoch ist der Bezug zur schweizerischen Strafgewalt grösser als bei Auslandstraftaten gegen Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz, für welche grundsätzlich keine schweizerische Strafzuständigkeit besteht.
 
3.4 Gegen das Genügen der schweizerischen Staatsangehörigkeit lassen sich Praktikabilitätserwägungen anführen. In der Tat kann es schwierig sein, mehrere Jahre nach der Tatbegehung im Ausland zu ermitteln, ob der Gesuchsteller tatsächlich Opfer i.S. des OHG und somit anspruchsberechtigt ist. Immerhin kann die Behörde bei der Gewährung von längerfristiger Hilfe - im Gegensatz zur Soforthilfe - hohe Anforderungen an den Nachweis einer Straftat stellen (vgl. BGE 125 II 265 E. 2c/aa S. 270), und wird sich in der Regel auf die Ergebnisse des ausländischen Straf- oder Ermittlungsverfahrens stützen können. Der vorliegende Fall zeigt, dass die Schwierigkeiten nicht überschätzt werden dürfen: Aufgrund der Strafanzeige des Beschwerdeführers bei den deutschen Behörden und des Bescheids der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Flensburg ist erstellt, dass der Beschwerdeführer durch eine Straftat in seiner körperlichen Integrität beeinträchtigt worden und hilfsbedürftig geworden ist.
 
3.5 Zusammenfassend genügt die schweizerische Staatsbürgerschaft des Opfers im Tatzeitpunkt, um eine persönliche Beziehung zur Schweiz und damit die Anspruchsberechtigung gemäss Art. 3 OHG zu begründen. Voraussetzung für die Hilfeleistung ist ferner, dass die Hilfe in der Schweiz benötigt wird (vgl. BGE 122 II 315 E. 2a S. 318). Dies ist zu bejahen, wenn das Opfer zum Zeitpunkt, in dem es die Beratungshilfe beansprucht, seinen Lebensmittelpunkt in der Schweiz hat. Mit dieser Anforderung kann eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Opferhilfe durch Schweizer mit Wohnsitz im Ausland, die nur kurzfristig in die Schweiz zurückkehren, um hier Opferhilfe zu beanspruchen, regelmässig ausgeschlossen werden.
 
3.6 Im vorliegenden Fall liegen keinerlei Anzeichen für eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Opferhilfe vor: Der Beschwerdeführer wurde am 10. September 1999 aus Deutschland ausgewiesen, kehrte also unfreiwillig in die Schweiz zurück, und hat seit dem 17. September 1999 seinen Wohnsitz in Zürich. Er beantragt Hilfen (psychotherapeutische Behandlung, berufliche Wiedereingliederungsmassnahmen), die auch von ihm einen erheblichen Einsatz verlangen und deshalb vermutlich einem echten Bedürfnis entsprechen.
 
4.
 
4.1 Nach dem Gesagten hat das Sozialversicherungsgericht die Anspruchsberechtigung des Beschwerdeführers für Hilfen nach Art. 3 OHG zu Unrecht verneint. Diese Ansprüche sind auch nicht nach Art. 16 Abs. 3 OHG verwirkt, da sich diese Bestimmung nur auf Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche bezieht. Die Beschwerde ist daher teilweise gutzuheissen. Sie ist dagegen abzuweisen, soweit sie den Anspruch auf Genugtuung und Entschädigung betrifft (vgl. oben, E. 2).
 
4.2 Soweit der Beschwerdeführer unterliegt, d.h. bezüglich des Entschädigungs- und Genugtuungsanspruchs, ist das bundesgerichtliche Verfahren kostenlos (Art. 17 OHG; vgl. BGE 122 II 211 E. 4b S. 219). Dem teilweise unterliegenden Kanton sind ebenfalls keine Kosten aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 2 OG). Da der Beschwerdeführer nicht anwaltlich vertreten war, ist ihm keine Parteientschädigung zuzusprechen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich wird aufgehoben, soweit es die Beschwerde im Hinblick auf Leistungen gemäss Art. 3 OHG abweist. Die Sache wird insoweit zu neuer Beurteilung an das Sozialversicherungsgericht zurückgewiesen. Im übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben und keine Parteientschädigungen zugesprochen.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kanton Zürich, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, und dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. Januar 2002
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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