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Informationen zum Dokument  BGE 119 V 352  Materielle Begründung
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Regeste
Aus den Erwägungen:
3. a) Die Integritätsrente ist nach Art. 25 Abs. 1 MVG in W& ...
4. Bei dieser Rechtslage erweist sich das Einfrieren der Gysler/L ...
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50. Auszug auf dem Urteil vom 4. August 1993 i.S. Bundesamt für Militärversicherung gegen G. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
 
 
Regeste
 
Art. 25 und 25bis MVG, Art. 5 Abs. 2 der VO 1985, 1987 und 1989, Art. 7 Abs. 2 der VO 1991 und 1992 über die Anpassung der Leistungen der Militärversicherung an die Lohn- und Preisentwicklung.  
Art. 5 Abs. 2 der VO 1985, 1987 und 1989 sowie Art. 7 Abs. 2 der VO 1991 und 1992 sind gesetzwidrig.  
 
BGE 119 V, 352 (353)Aus den Erwägungen:
 
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Unter dem Gesichtspunkt der Berechnungsgrundlage lebte die Militärversicherung dieser Bestimmung bis 1966 in der Weise nach, dass die Integritätsrente aufgrund des massgebenden entgangenen Jahresverdienstes (und des Leistungsansatzes) festgesetzt wurde (BGE 112 V 392 E. 3a mit Hinweis).
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In EVGE 1966 S. 148 (Urteil Gysler) und EVGE 1968 S. 88 (Urteil Lendi) erkannte das Eidg. Versicherungsgericht, dass die Integritätsrente nichtwirtschaftliche Schäden deckt und immaterieller Natur ist. Die Integritätsbeeinträchtigung und ihr Ausgleich hat mit dem entgangenen Jahresverdienst, dem Personenstand und den Unterstützungspflichten nichts gemeinsam, weshalb die für die Invalidenrenten geltende Berechnungsmethode gemäss Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 MVG unangebracht ist. Ein hoher Jahresverdienst soll nicht unbesehen zu einer hohen, ein niedriger zu einer geringeren Integritätsrente führen. Deren Berechnung darf jedoch im Interesse einer rechtsgleichen verwaltungsmässigen Handhabung nicht jeder zahlenmässigen Grundlage entbehren (EVGE 1966 S. 153); die erforderliche Garantie rechtsgleicher Behandlung aller Versicherten ist in der Rentenberechnung selbst zu suchen (EVGE 1968 S. 98). Seither ist nach der Rechtsprechung für die Berechnung der Integritätsrente in der Regel ein Leistungsansatz von 85% und der Mittelwert zwischen dem gesetzlichen Verdienstminimum und dem gesetzlichen Verdienstmaximum massgebend (BGE 112 V 392 E. 3a mit Hinweisen).
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In BGE 112 V 376 (Urteil Gasser) hat das Eidg. Versicherungsgericht die Entschädigungspraxis gemäss den Urteilen Gysler und Lendi grundsätzlich überprüft. Das Gericht ist dabei zum Schluss gekommen, dass die Praxis Gysler/Lendi anfänglich durchaus verhältnismässige Leistungen begründete. Wenn es im Lauf der Jahre BGE 119 V, 352 (354)zu überhöhten Entschädigungen der Integritätseinbussen gekommen war, so sei das nicht auf den Mittelwert gemäss den Urteilen Gysler/Lendi als Prinzip, sondern auf die Tatsache zurückzuführen, dass dieser Mittelwert ab 1972 nicht nur der Teuerung, sondern zusätzlich auch der Lohnentwicklung fortlaufend angepasst worden war. Das war offensichtlich nicht sachgerecht, da die Integritätsrenten von der Lohnentwicklung nicht berührt werden. Der Mittelwert, welcher somit beibehalten werden kann, ist demzufolge der Lohnentwicklung nach Art. 25bis MVG nicht anzupassen. Die bisherige Praxis zu Art. 25 Abs. 1 MVG wurde daher so korrigiert, dass der im Jahre 1966 gültige Mittelwert von Fr. 12'000.-- lediglich der seitherigen Entwicklung der Konsumentenpreise angepasst wurde. 1983 belief sich der massgebende Mittelwert auf rund Fr. 25'400.-- (BGE 112 V 385 E. 6, bestätigt in 115 V 308 und 117 V 88 E. 5).
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b) Im Hinblick auf diese drei verschiedenen Rechtspraxen zur Festlegung der Integritätsrente unter dem Gesichtspunkt der Berechnungsgrundlage stellte sich notwendigerweise die Frage, ob das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) berechtigt oder verpflichtet sei, auf formell rechtskräftige Rentenverfügungen zurückzukommen, welche auf einer der früheren Berechnungsweisen beruhen. Noch im Jahr 1986, im Urteil Beiner (BGE 112 V 387), hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, das BAMV sei berechtigt und verpflichtet, die sogenannten "Uralt-Renten", diejenigen also, welche auf dem mutmasslich entgangenen Jahresverdienst festgesetzt wurden, der Praxis Gasser mit Wirkung ex nunc et pro futuro anzupassen (BGE 112 V 395 E. 4). Das Gericht begründete dies wesentlich damit, dass es in höchstem Masse rechtsungleich sei, Integritätsrenten nach wie vor anhand des als sachfremd erkannten Kriteriums des mutmasslich entgehenden Jahresverdienstes festzusetzen und folglich Bezüger von Integritätsrenten bei gleichen körperlichen Beeinträchtigungen unterschiedlich zu entschädigen. Dieser Gesichtspunkt begründete den Anlass für das ausnahmsweise Eingreifen in ein formell rechtskräftig geregeltes Dauerschuldverhältnis auf der Grundlage einer geänderten Rechtspraxis (BGE 112 V 394).
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Anderseits hat es das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil W. (BGE 115 V 308) abgelehnt, auch die zweite Generation der nach den Grundsätzen der Gysler-/Lendi-Praxis berechneten Integritätsrenten an die Rechtspraxis Gasser anzupassen. Denn nur dort, wo eine auf der Grundlage des erwerblichen Gesichtspunkts des mutmasslich entgangenen Jahresverdienstes festgesetzte Rente ausschliesslich BGE 119 V, 352 (355)eine reine Integritätseinbusse entschädigt, kann von einer derart sachwidrigen Berentung gesprochen werden, dass deren Anpassung an adäquate Berechnungsgrundlagen das finanzielle Interesse des Versicherten am weiteren Bezug dieser Rente überwiegt. Es sind daher nur die reinen Integritätsrenten als anpassungspflichtig bezeichnet worden, und zwar auch nur jene, die auf der Grundlage des mutmasslich entgangenen Jahresverdienstes festgesetzt worden sind, nicht dagegen jene, welche auf der mit den Urteilen Gysler und Lendi ab 1966 eingeleiteten Praxis beruhen (BGE 115 V 317 E. 5a und seitherige ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. das nicht veröffentlichte Urteil B. vom 30. Oktober 1989).
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c) Angesichts dieser materiell- und anpassungsrechtlichen Konkretisierung des Anspruchs auf Integritätsrente durch die Rechtsprechung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu Art. 25bis MVG betreffend die Anpassung der laufenden MV-Renten an die Lohn- und Preisentwicklung und die gestützt darauf vom Bundesrat erlassenen Anpassungsverordnungen. Nach Art. 25bis MVG hat der Bundesrat die Renten dem eingetretenen Anstieg oder Rückgang der Teuerung sowie der eingetretenen Änderung der Erwerbseinkommen voll anzupassen (Abs. 1). Die Anpassung erfolgt durch Erhöhung oder Herabsetzung des der Rente zugrundeliegenden Jahresverdienstes auf den gleichen Zeitpunkt wie die AHV/IV-Rentenanpassung (Abs. 2). Dazu hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass die Festsetzung der Integritätsrenten im Rahmen des Art. 25 Abs. 1 MVG, welche den rechtsanwendenden Behörden einen weiten Bereich des Ermessens eröffnet, zu jeder Zeit auf der Grundlage einer Verwaltungs- und Gerichtspraxis erfolgte. Die Massgeblichkeit sowohl der entgangenen Jahreseinkommen (Uralt-Renten) als auch des Mittelwertes des versicherbaren Verdienstes (Gysler/Lendi-Renten) beruhen auf einer Rechtspraxis, und nicht auf den bundesrätlichen Verordnungen über die Teuerungsanpassung, welchen insoweit keine normative Bedeutung zukam und zukommt (BGE 112 V 383 f. E. 5a und b, bestätigt in BGE 115 V 315 unten f. und BGE 117 V 91). Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die nunmehr gültige Rechtspraxis Gasser (BGE 112 V 376).
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a) Die jeweils in Art. 5 Abs. 2 der Verordnungen 1985, 1987 und 1989 bzw. Art. 7 Abs. 2 der Verordnungen 1991 und 1992 vorgesehene BGE 119 V, 352 (356)Abkoppelung eines bestimmten Rentenbestandes vom gesetzlichen Auftrag zur Anpassung an die Lohn- und Preisentwicklung verletzt Art. 25bis MVG, welcher keine Ausnahmen vorsieht und eine effektive Ausgleichung verlangt (BGE 117 V 91 f.).
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b) Soweit das BAMV die Ausnahme der Gysler/Lendi-Renten von Art. 25bis MVG mit der Korrektur dieser Praxis durch das Urteil Gasser (BGE 112 V 376) rechtfertigen will, greift es indirekt in ein formell rechtskräftig geregeltes Dauerschuldverhältnis ein, was die dargelegte Rechtsprechung (E. 3b hievor) bei den Gysler/Lendi-Renten bewusst ausgeschlossen hat, woran festzuhalten ist.
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Daran ändert der Hinweis des BAMV auf Art. 112 des Botschaftsentwurfs zu einem Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 27. Juni 1990 nichts. Er zeigt im Gegenteil, dass die Umgestaltung von formell rechtskräftig geregelten Dauerrechtsverhältnissen bei Fehlen erheblicher Tatsachenänderungen eben primär Sache des Gesetzgebers ist, und nicht des Richters, welcher nur ausnahmsweise gestützt auf eine neue Rechtspraxis in eine laufende Rente eingreift (E. 3b hievor).
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c) Klar ist anderseits seit dem Urteil Gasser (BGE 112 V 376), dass das BAMV nicht verpflichtet ist, den im vorliegenden Fall bis Ende 1985 massgeblichen Mittelwert von Fr. 41'972.-- über die Anpassung an die nominelle Preisentwicklung hinaus auch der Reallohnentwicklung anzupassen. Was diesbezüglich im Lichte des Art. 25bis MVG für die Bezüger von Integritätsrenten nach der mit dem Urteil Gasser eingeführten Rechtspraxis gilt - dass nämlich Art. 25bis MVG, soweit es um die Anpassung an die eingetretene Änderung der Erwerbseinkommen geht, sich vernünftigerweise nur auf die Invaliden- und Hinterlassenenrenten bezieht (BGE 112 V 385 unten) -, hat selbstverständlich für die Bezüger von Gysler/Lendi-Renten ebenfalls seine Richtigkeit.
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