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Informationen zum Dokument  BGE 116 V 353  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. (Kognition) ...
2. a) Nach Art. 85 Abs. 2 AHVG regeln die Kantone das Rekursverfa ...
3. a) Im vorliegenden Fall steht aber andererseits fest, dass die ...
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55. Urteil vom 17. Oktober 1990 i.S. Reederei X gegen Ausgleichskasse Basel-Landschaft und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
 
 
Regeste
 
Art. 84 AHVG. Anforderungen an Form und Inhalt einer Beschwerde an die kantonale Rechtsmittelinstanz: Zusammenfassung der Rechtsprechung (Erw. 2b).  
 
Sachverhalt
 
BGE 116 V, 353 (354)A.- Mit eingeschriebenem Brief vom 28. September 1989 teilte die Reederei X der Ausgleichskasse Basel-Landschaft mit:
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"Wir haben Ihre Abrechnungen vom 19. September 1989 über die
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Beitragsjahre 1984 und 1985 erhalten und möchten hiermit fristgerecht
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Beschwerde erheben.
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Grund unserer Beschwerde liegt darin, dass wir der Abrechnungshöhe nicht
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zustimmen können."
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Mit Schreiben vom 3. Oktober 1989 übermittelte die Ausgleichskasse die "Beschwerde Reederei X, Abrechnungsnummer 21532.1.0, in Sachen Nachzahlungsverfügungen für die Jahre 1984 und 1985" dem Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft; die Ausgleichskasse bat das Gericht, eine Begründung der Beschwerde zu verlangen und ihr nach deren Eingang eine Frist für die Vernehmlassung anzusetzen.
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Mit Brief vom 5. Oktober 1989 gelangte das Versicherungsgericht an die Reederei X und wies sie darauf hin, dass gemäss § 8 Abs. 1 der Verordnung über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen vom 3. Dezember 1984 die Beschwerde ein Rechtsbegehren, eine gedrängte Darstellung des Sachverhalts und eine kurze Begründung enthalten müsse. Nach der Gerichtspraxis habe bereits die erste, innerhalb der Beschwerdefrist einzureichende Eingabe dieses Erfordernis zu erfüllen. Lediglich für die Ausarbeitung der ausführlichen Beschwerdebegründung könne eine Fristerstreckung gewährt werden. Beschwerdeeingaben, welche den gesetzlichen Anforderungen nicht genügten, würden unter Ansetzung einer unerstreckbaren Nachfrist von 10 Tagen zur Verbesserung zurückgewiesen. Darauf antwortete die Reederei am 16. Oktober 1989, sie habe die Beschwerde betreffend AHV-Revision 1984 und 1985, Abrechnungsnummer 21532.1.0, eingereicht, da sie mit der Abrechnung nicht einiggehen könne. Die Beschwerde werde begründet "durch die SUVA-Revisionen" 1985 und 1988 für die Jahre 1984 und 1985. Diese Revisionen ergäben "gegenüber der AHV-Revision von Juli 1989 grosse Unterschiede", obwohl beiden Revisoren "die gleichen Unterlagen als Basis" gedient hätten. Sie ersuche deshalb um eine "neuerliche Revision". Diesem Schreiben waren die vom SUVA-Revisor festgehaltenen Zusammenstellungen der Kontrolldifferenzen beigelegt.
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Mit Entscheid vom 29. November 1989 trat das Versicherungsgericht auf die Beschwerde nicht ein, weil die Reederei innert Frist weder ein klar abgefasstes Rechtsbegehren gestellt noch die angefochtene Verfügung eingereicht habe.
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BGE 116 V, 353 (355)B.- Die Reederei X lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid sei aufzuheben und die Sache sei zu materieller Entscheidung an das Versicherungsgericht zurückzuweisen.
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In seiner Stellungnahme erläutert das Versicherungsgericht seine Praxis zum Nichteintreten auf mangelhafte Beschwerden und beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Während die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
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§ 8 der Verordnung des Kantons Basel-Landschaft über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen vom 3. Dezember 1984 sieht vor:
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Beschwerden und Klagen haben ein Rechtsbegehren, eine gedrängte
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Darstellung des Sachverhalts und eine kurze Begründung zu enthalten. Die
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Beweismittel sind beizulegen oder soweit möglich zu bezeichnen (Abs. 1).
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Ist eine Rechtsschrift mangelhaft, setzt der Präsident dem
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Beschwerdeführer oder Kläger eine angemessene Frist zur Verbesserung und
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verbindet damit die Androhung, dass sonst auf das Rechtsmittel nicht
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eingetreten werde (Abs. 2).
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Diese kantonale Verfahrensbestimmung hat (mit Ausnahme der Vorschrift, dass die Beweismittel beizulegen oder zu bezeichnen sind; vgl. dazu Erw. 3 hienach) gegenüber Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG keine selbständige Bedeutung. Insoweit geht es hier nicht um die Anwendung kantonalen Verfahrensrechts, sondern um die Auslegung von Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG, welche als Frage des Bundesrechts frei zu prüfen ist (Art. 104 lit. a OG; BGE 112 V 113 Erw. 2d).
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BGE 116 V, 353 (356)b) Praxisgemäss sind an erforderliche Form und Inhalt einer Beschwerde an die kantonale Rechtsmittelinstanz nach Art. 84 AHVG keine hohen Anforderungen zu stellen. Die Einhaltung von Formvorschriften wird nicht nach strengen Massstäben beurteilt. Dennoch muss vom Rechtsuchenden ein Mindestmass an Sorgfalt in der Beschwerdeführung verlangt werden. Damit überhaupt von einer Beschwerde gesprochen werden kann, muss eine individualisierte Person gegenüber einer bestimmten Verfügung den klaren Anfechtungswillen schriftlich bekunden (nicht veröffentlichtes Urteil B. vom 17. November 1982); d.h. sie hat erkenntlich ihren Willen um Änderung der sie betreffenden Rechtslage zum Ausdruck zu bringen (BGE 102 Ib 372; ZAK 1988 S. 459 Erw. 3a; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 196). Fehlt es hieran, so ist gar kein Beschwerdeverfahren anhängig gemacht worden. Andererseits hat im kantonalen sozialversicherungsrechtlichen Beschwerdeverfahren die Fristansetzung zur Verbesserung im Sinne von Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG immer dann zu erfolgen, wenn während der Rechtsmittelfrist der Beschwerdewille schriftlich klar manifestiert wird (MEYER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, in: BJM 1989 S. 13 unten f.), die Beschwerde aber den gesetzlichen Erfordernissen bezüglich Antrag und Begründung nicht genügt (BGE BGE 107 V 245, BGE 104 V 178; ZAK 1988 S. 459 Erw. 2; RKUV 1988 Nr. U 34 S. 33 Erw. II/1; vgl. auch ZAK 1986 S. 425). Vorbehalten bleibt eine rechtsmissbräuchlich erhobene ungenügende Beschwerde (BGE 107 V 245 in fine, BGE 104 V 179 oben; RKUV 1988 Nr. U 34 S. 34 Erw. II/2a).
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c) Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin mit der erwähnten ersten Eingabe vom 28. September 1989 ihren Beschwerdewillen innert der 30tägigen Rechtsmittelfrist klar bekundet. Weil die Beschwerde jedoch den Mindestanforderungen nach Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG offensichtlich nicht genügte, hat die Vorinstanz richtigerweise das Nachfristverfahren eingeleitet. Mit Bezug auf die innert der angesetzten Nachfrist eingereichte Eingabe vom 16. Oktober 1989 ist einzuräumen, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor keinen ausdrücklichen Antrag stellte, in welcher Richtung die beanstandeten Verfügungen aufzuheben oder abzuändern seien. Dennoch ist den Eingaben vom 28. September und 16. Oktober 1989 insgesamt eindeutig zu entnehmen, was die Beschwerdeführerin zu erreichen sucht: Sie will für die Jahre 1984 und 1985 weniger hohe Beiträge bezahlen, als dies die Verwaltung von ihr verlangt. Somit liegt - sinngemäss BGE 116 V, 353 (357)- ein Antrag auf Festsetzung tieferer Beiträge vor. Dieses Begehren hat die Beschwerdeführerin auch insofern begründet, als sie durch den Hinweis auf angebliche Differenzen zwischen der Revision der SUVA und derjenigen der Ausgleichskasse sowie durch Einreichung von Belegen geltend machte, die Ausgleichskasse habe die angenommene Lohnsumme unrichtig festgesetzt. Die Eingaben der Beschwerdeführerin an die Vorinstanz vom 28. September und 16. Oktober 1989 sind somit unter den Gesichtspunkten eines zumindest sinngemäss gestellten Antrages und einer wenigstens ansatzweise vorgebrachten Begründung noch knapp als genügende Beschwerde nach Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG zu betrachten (in diesem Sinne unveröffentlichtes Urteil B. vom 3. April 1989).
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3. a) Im vorliegenden Fall steht aber andererseits fest, dass die Reederei im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren die Nachzahlungsverfügungen der Ausgleichskasse für die Beitragsjahre 1984 und 1985 vom 19. September 1989 entgegen der Aufforderung der Vorinstanz nicht einreichte. Bei den angefochtenen Verfügungen handelt es sich indes um ein Beweismittel, das unter § 8 der kantonalen Verfahrensverordnung fällt. Insofern gründet der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid auf kantonalem Recht. Gegen einen auf kantonalem Prozessrecht beruhenden Nichteintretensentscheid kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gerügt werden, dass er die Anwendung des materiellen Bundesverwaltungsrechts verunmögliche (BGE 112 V 112, BGE 102 V 125 Erw. 1b, BGE 101 V 221 Erw. 1, BGE 99 V 56 Erw. 1 und 184 Erw. 1). Dabei prüft das Eidg. Versicherungsgericht die Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts nicht uneingeschränkt, sondern praktisch nur auf Willkür, weil die Prüfungsbefugnis lediglich die Verletzung von Bundesrecht umfasst, wozu auch der Verstoss gegen verfassungsmässige Rechte und Grundsätze zählt (BGE 114 V 205 Erw. 1a mit Hinweisen). Frei zu prüfen ist hingegen, ob ein kantonaler Entscheid, der im Rahmen der Willkürprüfung nicht zu beanstanden ist, gegen das Verbot des überspitzten Formalismus verstösst und damit die Verfassung verletzt (BGE 115 Ia 17 Erw. 3b).
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b) Es steht unbestrittenerweise fest, dass die Vorinstanz § 8 der kantonalen Verordnung über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen willkürfrei anwendete. Zu prüfen ist hingegen, ob der angefochtene Entscheid nicht als überspitzt formalistisch bezeichnet werden muss.
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BGE 116 V, 353 (358)Wie das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt entschieden hat, verletzt die kantonale Beschwerdeinstanz durch einen Nichteintretensentscheid kein Bundesrecht, wenn sie damit die fehlende Einreichung der angefochtenen Kassenverfügung innert gesetzter Frist ahndet (nicht publizierte Urteile G. vom 30. Mai 1989, R. vom 5. März 1985 und I. vom 1. Oktober 1980). Es fragt sich unter dem Gesichtspunkt des verfassungsmässigen Verbotes des überspitzten Formalismus jedoch, ob sich der angefochtene Nichteintretensentscheid unter den hier gegebenen Verhältnissen mit dieser Rechtsprechung bestätigen lässt.
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Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 4 BV in Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 115 Ia 17 Erw. 3b, BGE 114 Ia 40 Erw. 3, BGE 114 V 207 Erw. 3a; BGE 113 Ia 87 Erw. 1, 92 Erw. 4a, 96 Erw. 2 und 227 Erw. 1; RKUV 1988 Nr. U 60 S. 443 Erw. 2b mit weiteren Hinweisen).
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c) Das Erfordernis, die angefochtene Verfügung einzureichen, darf im Lichte dieser Grundsätze nicht als Selbstzweck behandelt werden. Diese Vorschrift soll ja dazu dienen, dem angerufenen Gericht Gewissheit zu verschaffen, über welchen Streitgegenstand welcher Verfügungsinstanz es zu urteilen hat. Vorliegend ist zu beachten, dass nach § 7 Abs. 1 der zitierten kantonalen Verordnung Klagen und Beschwerden, abweichende bundesrechtliche Bestimmungen vorbehalten, bei der Instanz, welche den angefochtenen Entscheid erlassen hat, zuhanden des Versicherungsgerichts einzureichen sind; diese leitet sie innert 20 Tagen zusammen mit den Akten an das Versicherungsgericht weiter. Wenn diesem von der kantonalen Ausgleichskasse eine Beschwerde übermittelt wird, ist somit die Eigenschaft der kantonalen Ausgleichskasse als BGE 116 V, 353 (359)verfügende Stelle evident; denn dass die kantonale Ausgleichskasse auch Einreichungsstelle für Beschwerden gegen Verfügungen anderer (kantonaler oder Verbands-)Ausgleichskassen sei, macht das Versicherungsgericht in der Vernehmlassung nicht geltend und ergibt sich auch nicht aus kantonalem, geschweige denn eidgenössischem Recht. Würde sodann die Ausgleichskasse Basel-Landschaft, welche die Beschwerde weiterleitet, diese entsprechend § 7 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung "zusammen mit den Akten" dem Versicherungsgericht übermitteln, gelangte das angerufene Gericht ohne weiteres in den Besitz der angefochtenen Verfügung. Diesfalls könnten sich auch keine Zweifel darüber einstellen, ob sich der Versicherte tatsächlich gegen eine beschwerdefähige Kassenverfügung oder lediglich gegen eine Beitragsabrechnung wendet, gegen welche praxisgemäss nicht Beschwerde geführt werden kann (ZAK 1989 S. 39). Dass bei anders gelagerten verfahrensrechtlichen Situationen die Einreichung der angefochtenen Verfügung im Sinne der Mitwirkungspflicht durchaus geboten sein und bei einem Verstoss dagegen Nichteintreten nach sich ziehen kann, ist unbestritten. Die vorinstanzliche Auffassung aber, dies dränge sich aus Gründen der rechtsgleichen Behandlung in allen Fällen auf, verletzt Bundesrecht. Denn was unter dem Gesichtspunkt des Verbots des überspitzten Formalismus nach Art. 4 BV an formellen prozessualen Vorkehren zur Gewährleistung eines ordnungsgemässen Gerichtsverfahrens notwendig und gerechtfertigt ist, kann nicht allgemein abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der konkreten Verfahrenssituation beurteilt werden.
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d) Im vorliegenden Fall stand die kantonale Ausgleichskasse als Gegenpartei offensichtlich fest. Sodann liessen sich die angefochtenen Verfügungen aufgrund der in den Eingaben der Reederei enthaltenen Abrechnungsnummern ohne weiteres ermitteln, obgleich es die Ausgleichskasse entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung unterliess, die Beschwerdeschrift mitsamt Akten an das Versicherungsgericht weiterzuleiten. Unter diesen Umständen ist es überspitzt formalistisch, auf die Beschwerde mangels Einreichung der angefochtenen Verfügungen nicht einzutreten.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der angefochtene Nichteintretensentscheid vom 29. November 1989 BGE 116 V, 353 (360)aufgehoben, und die Sache wird an das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft zurückgewiesen, damit dieses, nach Prüfung der übrigen Eintretensvoraussetzungen, über die Beschwerde gegen die Nachzahlungsverfügungen vom 19. September 1989 entscheide.
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