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Informationen zum Dokument  BGE 136 IV 76  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 2.2
Erwägung 2.3
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12. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Aa. und Ab. sowie Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_1038/2009 vom 27. April 2010
 
 
Regeste
 
Fahrlässige Tötung und Gefährdung des Lebens, Konkurrenz; Art. 117, 129 und 49 Abs. 1 StGB.  
 
Sachverhalt
 
BGE 136 IV, 76 (76)A. X. verunfallte am 22. Juni 2005 als Lenker eines Subaru Impreza auf der Autostrasse in Wolhusen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er sei mit einer Geschwindigkeit von 188 km/h in eine Rechtskurve gefahren und auf die Gegenfahrbahn geraten. Dort sei ihm ein BGE 136 IV, 76 (77)korrekt fahrendes Auto (Fahrzeuglenker: B.) entgegengekommen, wobei eine Kollision habe vermieden werden können. X. sei auf seine eigene Fahrspur zurückgekommen, sei dann nach links abgetrieben worden und von der Strasse abgekommen. Seine beiden Mitfahrer C. und Ac. seien aus dem Fahrzeug geschleudert worden und auf der Unfallstelle verstorben.
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B. Das Kriminalgericht Luzern verurteilte X. am 5. Dezember 2008 wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens zum Nachteil von Ac. und C., mehrfacher fahrlässiger Tötung und grober Verkehrsregelverletzung durch Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit auf Autostrassen zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren. Vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens zum Nachteil von B. sprach es ihn frei. Das Verfahren wegen Widerhandlungen gegen das ANAG (AS 49 279) bzw. AuG (SR 142.20) stellte es mangels Anklage ein. Auf Appellation von X. bestätigte das Obergericht des Kantons Luzern am 26. August 2009 das erstinstanzliche Urteil.
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C. Gegen dieses Urteil wendet sich X. mit Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf der mehrfachen Gefährdung des Lebens zum Nachteil von Ac. und C. freizusprechen. Es sei eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren auszufällen und der bedingte Strafvollzug zu gewähren, bei einer Probezeit von 2 Jahren. Im Falle der Bestätigung des Schuldspruchs der Gefährdung des Lebens sei er mit einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren, unter Gewährung des teilbedingten Strafvollzugs, zu bestrafen. Der zu vollziehende Strafteil sei auf 6 Monate festzusetzen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er beantragt die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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D. Die Staatsanwaltschaft sowie das Obergericht des Kantons Luzern beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Aa. und Ab. verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
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Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 2
 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die kumulative Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nach Art. 117 StGB und Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB zum Nachteil der zwei BGE 136 IV, 76 (78)verstorbenen Opfer verletze Bundesrecht. Zwischen den beiden Tatbeständen sei unechte Konkurrenz anzunehmen. Gefährdungsdelikte seien subsidiär zu Verletzungsdelikten. Die fahrlässige Tötung konsumiere die Gefährdung des Lebens, weil ausser den getöteten Personen niemand gefährdet worden sei.
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Erwägung 2.2
 
2.2.1 Die Vorinstanz erachtet den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt als erwiesen. Hauptsächliche Unfallursache sei die Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Beschwerdeführer habe die zulässige Höchstgeschwindigkeit, die auf der Autostrasse 100 km/h betrage, um 88 km/h überschritten. Dieses Tempo habe es nicht erlaubt, auf mögliche Hindernisse oder Gefahren, mit welchen immer zu rechnen sei, zu reagieren. Der Beschwerdeführer habe um das sehr hohe Risiko eines Unfalls mit tödlichen Folgen für die Fahrzeuginsassen gewusst. Die Pflichtwidrigkeit sei als sehr schwer bzw. krass sorgfaltswidrig einzustufen. Es habe kein Rennen stattgefunden und insofern keine Situation bestanden, in welcher der Beschwerdeführer alles andere einem Sieg untergeordnet hätte. Er habe in hohem Mass auch sich selbst gefährdet. Es bestünden keine Anzeichen, dass er dem Tod seiner beiden besten Freunde bzw. dem eigenen Tod gleichgültig gegenüber gestanden wäre. Gestützt auf das verkehrstechnische Gutachten seien die eingetretenen Folgen nicht unvermeidbar gewesen. Die Möglichkeit des ortskundigen Beschwerdeführers, mit Fahrgeschick die Kurve unfallfrei zu passieren, sei nicht ausserhalb jeder Möglichkeit gelegen. Deshalb sei der Beschwerdeführer der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB (und nicht der eventualvorsätzlichen Tötung) schuldig zu sprechen.
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BGE 136 IV, 76 (79)Erwägung 2.3
 
2.3.1 Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Art. 117 StGB). Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder ein Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Handlung aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung des Lebens des Opfers hätte erkennen können und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat (vgl. Art. 12 Abs. 3 StGB; BGE 135 IV 56 E. 2 und 3 S. 63 ff.). Der bewusst fahrlässig handelnde Täter weiss um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung, vertraut aber aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit darauf, dass der von ihm als möglich vorausgesehene Erfolg nicht eintreten werde (vgl. BGE 133 IV 9 E. 4.1 S. 16 f. mit Hinweisen).
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2.4 Das Bundesgericht hatte sich in seiner publizierten Rechtsprechung noch nie ausdrücklich mit der Frage der Konkurrenz zwischen Art. 117 und 129 StGB zu befassen. Es stellte lediglich beiläufig und ohne materielle Prüfung der Sachlage in einem nicht angefochtenen Punkt fest, bezüglich des fahrlässig getöteten Opfers entfalle eine Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB, da dort ein Schuldspruch wegen eines Verletzungsdelikts (Art. 117 StGB) erfolgt sei (Urteil 6B_806/2007 vom 13. Juni 2008 E. 3.1.3). In BGE 100 IV 115 ging es darum, ob ein Täter alternativ wegen fahrlässiger Tötung oder Gefährdung des Lebens mit Todesfolge (aArt. 129 Abs. 3 StGB) zu verurteilen sei. Auch dort wurde das Verhältnis zwischen Art. 117 StGB und dem Grundtatbestand von Art. 129 StGB nicht behandelt, zumal damals ein Spezialtatbestand (Gefährdung des Lebens mit Todesfolge nach aArt. 129 Abs. 3 StGB) existierte. In einem neueren, nicht publizierten Entscheid erwog das Bundesgericht, sicheres Wissen um die unmittelbare Lebensgefahr, also um die Möglichkeit des Erfolgseintritts (Tod), sei mit sicherem Wissen um den Erfolgseintritt gerade nicht identisch, könne also sowohl mit (eventuellem) Tötungsvorsatz wie mit bewusster Fahrlässigkeit bezüglich der Todesfolge einhergehen. Art. 129 StGB erlange aber nur in diesem zweiten Fall praktische Bedeutung, denn bei Tötungsvorsatz griffen Art. 111 ff. StGB ein. Art. 129 StGB komme somit die Funktion eines Auffangtatbestands zu, wenn der Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen sei. Eine Verurteilung wegen Art. 129 StGB falle mit anderen Worten in Betracht, wenn der Täter trotz der erkannten BGE 136 IV, 76 (80) Lebensgefahr handle, aber darauf vertraue, die Gefahr werde sich nicht realisieren (Urteil 6S.127/2007 vom 6. Juli 2007 E. 2.3).
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2.5 In der früheren Fassung lautete aArt. 129 Abs. 3 StGB: "Hat die Tat (d.h. die Gefährdung des Lebens) den Tod zur Folge gehabt, wird der Täter mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft" (AS 54 790). Damit beinhaltete aArt. 129 Abs. 3 StGB die Todesfolge, welche aus einer Gefährdung des Lebens resultieren konnte. Diese Bestimmung (sowie andere, ähnliche Bestimmungen) wurden vom Gesetzgeber gestrichen mit der Begründung, die blosse Anknüpfung an die Todesfolge verstosse gegen das Schuldprinzip. Es gebe zwischen der Fahrlässigkeit und dem (Eventual-)Vorsatz keine weitere Schuldform. Wo der Vorsatz einer Tat nicht nachgewiesen werden könne, bleibe der Täter allenfalls wegen fahrlässiger Tatbegehung strafbar (vgl. Botschaft vom 26. Juni 1985 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes, BBl 1985 II 1009 Ziff. 214.3 mit Verweis auf Ziff. 213.1). Die Botschaft schliesst damit eine echte Konkurrenz zwischen Art. 129 StGB und fahrlässiger Tötung nach Art. 117 StGB nicht aus.
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2.6 Die Lehre bejaht, soweit ersichtlich, überwiegend die echte Konkurrenz zwischen der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB und der Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB (JOSÉ HURTADO POZO, Droit pénal, Partie spéciale, 2009, N. 624; STRATENWERTH/WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 2. Aufl. 2009, N. 4 zu Art. 117 StGB und N. 5 zu Art. 129 StGB; ANDREAS DONATSCH, Delikte gegen den Einzelnen, 9. Aufl. 2008, S. 64; PETER AEBERSOLD, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 44 zu Art. 129 StGB; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Basler Kommentar, a.a.O., N. 7 zu Art. 117 StGB; ANDREAS DONATSCH, in: StGB, 18. Aufl. 2010, S. 245; CORNELIA MEIER, Die Lebensgefährdung, 2006, S. 63 f.; STRATENWERTH/JENNY, Schweizerisches Strafrecht, Teil I, Straftaten gegen die Individualinteressen, 6. Aufl. 2003, § 4 N. 16; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, 2002, N. 36 zu Art. 129 StGB; unklar: TRECHSEL/FINGERHUTH, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 8 zu Art. 117 StGB, wo echte Konkurrenz zu Gefährdungsdelikten verneint wird in Fällen, in denen ausser der verletzten Person niemand gefährdet wurde, bzw. N. 8 zu Art. 129 StGB, wo echte Konkurrenz zu Art. 117 grundsätzlich bejaht wird). Diese Auffassung wird damit begründet, dass das Fahrlässigkeitsdelikt das Handlungsunrecht des Vorsatzdeliktes nicht abgelte.
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BGE 136 IV, 76 (81)2.7 Der objektive Tatbestand der fahrlässigen Tötung von Art. 117 StGB geht über jenen von Art. 129 StGB hinaus. Er setzt nicht nur die Gefährdung des Rechtsguts Leben, sondern dessen Verletzung, den Tod, voraus. In subjektiver Hinsicht erfordert Art. 117 StGB Fahrlässigkeit, Art. 129 StGB direkten Vorsatz sowie Skrupellosigkeit. Hinsichtlich des Wissens um die möglichen Folgen der Tat stimmen der subjektive Tatbestand von Art. 129 und Art. 117 StGB im vorliegenden Fall, wo der Beschwerdeführer mit bewusster Fahrlässigkeit handelte, zwar überein. Aufgrund seiner Fahrweise wusste der Beschwerdeführer um das hohe Risiko eines Unfalles, der damit einhergehenden Lebensgefahr und die möglicherweise tödlichen Folgen. Hingegen besteht ein massgeblicher Unterschied zwischen den beiden Delikten im Willensmoment. Während der Beschwerdeführer einerseits gerade darauf vertraute, dass sich der tatbestandsmässige Erfolg nicht verwirklicht und niemand getötet wird (subjektiver Tatbestand der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB), fand er sich mit der unmittelbaren Lebensgefahr als notwendige Folge seiner überaus schnellen Fahrweise ab. Er erfüllt den Vorsatz der Gefährdung des Lebens und die Voraussetzungen der fahrlässigen Tötung von Art. 117 i.V.m. Art. 12 Abs. 3 StGB. Auch wenn der Tatbestand der Gefährdung des Lebens mit Todesfolge nach aArt. 129 Abs. 3 StGB abgeschafft wurde, ist kein Wille des Gesetzgebers ersichtlich, wonach der Täter nicht gleichzeitig wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen ist, sofern er die Todesfolge voraussehen konnte. Vielmehr führte der Bundesrat im Zusammenhang mit der Abschaffung der Körperverletzung mit Todesfolge aus, der Täter sei unter Anwendung der Konkurrenzvorschriften von aArt. 68 Ziff. 1 StGB sowohl wegen schwerer Körperverletzung als auch wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen, wenn das Opfer voraussehbar an den Folgen der Körperverletzung sterbe (vgl. Botschaft, BBl 1985 II 1009 Ziff. 213.1). Dasselbe muss für das Verhältnis zwischen dem Tatbestand der Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB und der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB gelten, wo die Botschaft ausdrücklich auf die Ausführungen zur schweren Körperverletzung verweist (Botschaft, BBl 1985 II 1009 Ziff. 214.3 mit Verweis auf Ziff. 213.1). Daher ist in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre eine echte Konkurrenz zwischen der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB und der Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB zu bejahen.
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