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Informationen zum Dokument  BGE 132 IV 29  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Zunächst ist zu prüfen, ob die Einreise der Beschwer ...
Erwägung 2.3
3. Die Beschwerdeführerin beruft sich für die Einreise  ...
Erwägung 3.4
5. Zuletzt macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinst ...
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5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
6S.353/2005 vom 8. Dezember 2005
 
 
Regeste
 
Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG, Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 und Art. 333 Abs. 1 StGB, Art. 13 Abs. 1 StGB; Straftatbestand der rechtswidrigen Einreise, Anwendbarkeit des Notstandes, psychiatrische Begutachtung.  
Ob die Einreise gerechtfertigt ist und der Flüchtling straflos bleibt, beurteilt sich nach dem Ausländerstrafrecht. Für Notstand bleibt kein Raum, wenn zur Rechtfertigung der illegalen Einreise einzig Art und Schwere der Verfolgung vorgebracht werden (E. 3).  
Der Umstand allein, dass jemand wegen einer angeblichen posttraumatischen Belastungsstörung ärztlich behandelt wird, vermag keine ernsthaften Zweifel an der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit zu erwecken (E. 5.3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 132 IV, 29 (30)Am 31. Dezember 2002 reiste die russische Staatsangehörige X. mit Hilfe von Schleppern auf unbekanntem Weg in die Schweiz. Sie hatte weder Ausweispapiere noch ein Visum auf sich. Am gleichen Tag wandte sie sich an die Empfangsstelle in Kreuzlingen und ersuchte um Asyl. Das Bundesamt für Flüchtlinge lehnte mit Entscheid vom 3. Februar 2003 das Asylgesuch ab, verfügte ihre Wegweisung und setzte eine Ausreisefrist bis 31. März 2003 an. Auf eine dagegen erhobene Beschwerde trat die Schweizerische Asylrekurskommission mit Urteil vom 14. April 2003 nicht ein. Mit Schreiben des Bundesamtes vom 25. April 2003 wurde X. eine neue Ausreisefrist bis 23. Mai 2003 angesetzt. Auf ein Revisionsgesuch trat die Asylrekurskommission mit Urteil vom 10. Juni 2003 nicht ein. X. verblieb weiterhin in der Schweiz. Am 8. Januar 2004 erstattete das Amt für Migration des Kantons Luzern Strafanzeige wegen illegaler Einreise und rechtswidrigen Aufenthaltes in der Schweiz.
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Mit zweitinstanzlichem Urteil vom 5. Juli 2005 sprach das Obergericht des Kantons Luzern X. unter anderem der rechtswidrigen Einreise und des rechtswidrigen Verweilens gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und BGE 132 IV, 29 (31)Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) schuldig und bestrafte sie mit einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von acht Wochen und einer Busse von Fr. 50.-.
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X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen:
 
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2.1 Dem Gesetz lässt sich nicht direkt eine Antwort auf die Frage entnehmen, wann die Einreise eines Ausländers in die Schweiz "rechtswidrig" ist. Aufschluss gibt hingegen das gestützt auf Art. 25 ANAG erlassene Verordnungsrecht. Nach Art. 1 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAV; SR 142.201), ist die Einreise rechtmässig, wenn die Vorschriften über den Besitz von Ausweisschriften, das Visum, die Grenzkontrolle usw. beachtet worden sind und der Einreise kein persönliches Verbot entgegensteht. Der Umkehrschluss ergibt, dass die Einreise im Sinne von Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG rechtswidrig ist, wenn die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die Einreisevoraussetzungen werden sodann in der Verordnung vom 14. Januar 1998 über die Einreise und Anmeldung von Ausländerinnen und Ausländern (VEA; SR 142.211) festgehalten. Für die Einreise in die Schweiz sind grundsätzlich ein Pass bzw. entsprechende Ausweispapiere und ein Visum erforderlich (Art. 1 Abs. 1 VEA; vgl. Art. 2-5 VEA), ebenso sind die weiteren Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 2 VEA zu beachten. Die Einreise selbst hat über bestimmte, kontrollierte Grenzübergangsstellen (so genannter grosser Grenzverkehr) sowie Lande- und Flugplätze zu erfolgen (Art. 21 Abs. 1 VEA); vorbehalten bleiben die Bestimmungen über den so genannten kleinen Grenzverkehr gemäss den entsprechenden Abkommen mit den Nachbarstaaten der Schweiz, den Grenzübertritt im Hochgebirge und abweichende sonstige staatsvertragliche Abkommen (Art. 21 Abs. 2 und Art. 22 VEA).
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2.2 Die Beschwerdeführerin ist ohne Pass und Visum auf unbekanntem Weg in die Schweiz eingereist. Sie hätte für die Einreise grundsätzlich einen gültigen und anerkannten Pass sowie ein Visum benötigt. Sie macht auch nicht geltend, sie habe die Schweizer BGE 132 IV, 29 (32)Grenze bei einer kontrollierten Grenzübergangsstelle überschritten bzw. die Vorschriften der Grenzkontrolle beachtet. Die Beschwerdeführerin stellt sich hingegen auf den Standpunkt, sie sei als Asylsuchende zur Einreise in die Schweiz berechtigt gewesen, da sie in Übereinstimmung mit den asylrechtlichen Bestimmungen sich unverzüglich nach dem Betreten des Landes bei der Empfangsstelle in Kreuzlingen gemeldet und ein Asylgesuch eingereicht habe. Die Annahme einer Strafbarkeit in einem solchen Fall verletze Bundesrecht, da Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG verfassungskonform und im Sinne des Flüchtlingsabkommens ausgelegt werden müsse. Es stellt sich daher die Frage, ob die Beschwerdeführerin aus asylrechtlichen Gründen zur Einreise berechtigt war und deshalb die Vorschriften über die Ein- und Ausreise sowie die Grenzkontrolle nicht einhalten musste.
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Erwägung 2.3
 
2.3.1 Asylsuchende haben generell wie alle anderen Ausländer die für sie geltenden Einreisevorschriften zu beachten. Für die Einreise von Asylsuchenden gelten jedoch in erster Linie die besonderen Bestimmungen des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31). Das Asylgesetz sieht für die Einreise von Asylsuchenden grundsätzlich eine Bewilligungspflicht vor, wobei unterschieden wird, ob die Bewilligung aufgrund eines im Ausland gestellten Asylgesuchs zu erteilen ist (Art. 20 AsylG) oder für Personen zu erfolgen hat, die an der Landesgrenze oder an einem schweizerischen Flughafen um Asyl ersuchen (Art. 21-24 AsylG). Auf Erteilung der Bewilligung kann unter Umständen ein Anspruch bestehen, so namentlich wenn die an der Grenze um Asyl ersuchende Person das zur Einreise erforderliche Ausweispapier oder Visum besitzt oder in einem Nachbarstaat verfolgt wird oder ihr im Herkunftsstaat eine völkerrechtlich verbotene Rückschaffung droht (Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a AsylG; Art. 11 Abs. 1 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen [AsylV 1; SR 142.311]). Ferner kann die Einreise bewilligt werden, wenn die asylsuchende Person nicht direkt aus ihrem Heimat- oder Herkunftsstaat an die Schweizer Grenze gelangt, aber glaubhaft machen kann, dass sie diesen Staat als Flüchtling verlassen hat und ohne Verzug an die Schweizer Grenze gelangt ist (Art. 21 Abs. 3 AsylG in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 lit. b AsylV 1).
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2.3.2 Demnach kann eine asylsuchende Person - selbst wenn sie nicht über die erforderlichen Papiere verfügt - berechtigt sein, in BGE 132 IV, 29 (33)die Schweiz einzureisen. Allerdings ist stets erforderlich, dass ihr eine Bewilligung zur Einreise erteilt wird. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist es deshalb nicht erlaubt, über die so genannte grüne Grenze einzureisen, um in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen. Damit würde die gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung der Gründe, die zur Erteilung der asylrechtlichen Einreisebewilligung führen, ausgehebelt.
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Zu keinem anderen Ergebnis führt der von der Beschwerdeführerin angerufene Art. 19 Abs. 1 AsylG. Danach ist das Asylgesuch bei einer schweizerischen Vertretung, bei der Einreise an einem geöffneten Grenzübergang oder an einer Empfangsstelle zu stellen. Die genannte Bestimmung beschlägt indessen nicht die Frage, ob die asylsuchende Person zur Einreise berechtigt war. Wie die Marginalie deutlich macht ("Einreichung"), regelt sie lediglich die Orte der Gesuchseinreichung. Das Gesuch um Asylgewährung ist im Ausland an eine schweizerische Vertretung und bei der Einreise an die für die Grenzkontrolle zuständige Behörde zu richten. Die Empfangsstelle als Ort der Gesuchseinreichung gilt für Personen, die sich bereits in der Schweiz aufhalten. Aus Art. 19 Abs. 2 AsylG ergibt sich, dass damit diejenigen Personen gemeint sind, die über keine noch gültige Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verfügen, da das Gesuch ansonsten an die Behörden des betreffenden Kantons zu stellen ist (vgl. auch Art. 9 AsylV 1). Folglich hat sein Asylgesuch bei einer Empfangsstelle im Sinne von Art. 19 Abs. 1 AsylG einzureichen, wer sich ohne Anwesenheitsrecht in der Schweiz aufhält. Mehr lässt sich aus Art. 19 Abs. 1 AsylG nicht herleiten.
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BGE 132 IV, 29 (34)3. Die Beschwerdeführerin beruft sich für die Einreise in die Schweiz auf einen rechtfertigenden Notstand im Sinne von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Die Vorinstanz habe lediglich festgehalten, die Asylbehörden hätten die Flüchtlingseigenschaft nicht anerkannt. Die begrifflichen Voraussetzungen des Notstandes seien jedoch weiter gefasst als diejenigen des Flüchtlings, weshalb sie im Strafverfahren selbständig zu prüfen seien.
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3.3 Nach Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG sind in die Schweiz Geflüchtete straflos, wenn Art und Schwere der Verfolgung den rechtswidrigen Grenzübertritt rechtfertigen (Halbsatz 1); Hilfe hierzu ist ebenfalls straflos, soweit sie aus achtenswerten Beweggründen geleistet wird (Halbsatz 2). Diese Vorschrift regelt mithin, unter welchen Voraussetzungen die rechtswidrige Einreise eines Flüchtlings gerechtfertigt ist und wann dessen Gehilfe straflos bleibt. Die Regelung ist nach der gesetzlichen Konzeption als abschliessend gedacht, was sich etwa daran zeigt, dass die ethisch motivierte Gehilfenschaft mitgeregelt wird. Im Vergleich zum Notstand und zur Notstandshilfe werden damit abweichende Voraussetzungen genannt (vgl. Art. 34 Ziff. 1 und 2 StGB). Insofern enthält Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG eine eigene, besondere Bestimmung.
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Zusätzlich zu Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG ist, was das Verhalten des Flüchtlings anbelangt, Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens vom BGE 132 IV, 29 (35)28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingsabkommen; SR 0.142.30) zu berücksichtigen. Beiden Bestimmungen dürfte letztlich der gleiche Gehalt zukommen. Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG ist daher im Lichte des Flüchtlingsabkommens auszulegen (Urteil 6S.737/1998 vom 17. März 1999, publ. in: Asyl 2/1999 S. 21). Die Einreise einer Person ist danach gerechtfertigt, wenn sie die Eigenschaft als Flüchtling erfüllt, für ihre Einreise triftige Gründe darlegen kann, unmittelbar aus dem Verfolgerstaat in die Schweiz gelangt und sich unverzüglich den Behörden stellt. Das Erfordernis der unmittelbaren Einreise ist dabei nicht geographisch zu verstehen. Es genügt, wenn der Flüchtling zielstrebig, ohne wesentliche Verzögerung in die Schweiz gelangt, und zwar unabhängig davon, ob er Drittstaaten durchquert hat, in denen er nicht im Sinne des Flüchtlingsabkommens bedroht wird (Urteil 6S.737/1998 vom 17. März 1999, a.a.O.).
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Dass die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG oder Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens erfüllt seien, behauptet die Beschwerdeführerin zu Recht nicht. Sie anerkennt vielmehr, dass ihr der Status eines Flüchtlings im Sinne des Asylrechts nicht zukommt. Zu prüfen bleibt, ob unter diesen Voraussetzungen Raum für die Anwendbarkeit des allgemeinen Notstandes im Sinne von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB besteht.
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Erwägung 3.4
 
3.4.1 Die begriffliche Umschreibung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht identisch mit jener des Notstandes. Vorliegend verweist die Beschwerdeführerin jedoch ausschliesslich auf ihre Fluchtgründe. Die von ihr behauptete Gefahr für Leib und Leben begründet sie einzig damit, sie werde in ihrem Herkunftsstaat bzw. in der Republik Dagestan verfolgt. Gerade für diese Konstellation kommen jedoch die eigenen Bestimmungen des Ausländerstrafrechts zur Anwendung. Nur unter ganz bestimmten in Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG und Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens genannten Voraussetzungen ist die rechtswidrige Einreise eines Flüchtlings gerechtfertigt. Allein wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, bleibt der Flüchtling straflos. Dass dies vorliegend nicht zutrifft, räumt auch die Beschwerdeführerin ein. Für die Anwendbarkeit von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB bleibt unter diesen Umständen kein Raum. Macht der Flüchtling zur Rechtfertigung der illegalen Einreise somit einzig die Art und Schwere der Verfolgung geltend, kann er sich nicht zusätzlich auf Notstand berufen. Das muss erst Recht gelten, wenn BGE 132 IV, 29 (36)einer asylsuchenden Person wie der Beschwerdeführerin die Flüchtlingseigenschaft in einem rechtskräftigen Asylverfahren aberkannt und ihre Wegweisung verfügt wurde. Nachdem die Asylbehörden in einem solchen Fall festgestellt haben, dass die Person im Sinne von Art. 3 AsylG nicht verfolgt wird und der Vollzug der Wegweisung möglich, zulässig und zumutbar ist (Art. 14a Abs. 1 ANAG), ist nicht ersichtlich, worin die unmittelbare, nicht anders abwendbare Gefahr für ein Rechtsgut im Sinne von Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB bestehen könnte. Die Beschwerdeführerin legt denn auch nicht näher dar, worin konkret in ihrem Fall eine notstandsbegründende Gefahr liegt.
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3.4.2 Unter welchen Voraussetzungen die illegale Einreise eines Flüchtlings gerechtfertigt ist, wird somit abschliessend durch die speziellen Normen des Ausländerstrafrechts geregelt. In dieser Regelung wird eine verbindliche Abwägung getroffen zwischen den persönlichen Interessen des Flüchtlings und demjenigen des Staates an einer wirksamen Grenzkontrolle. Dem Richter wird damit die Wertentscheidung für eine typisierte Notlage vorgegeben, an die er sich zu halten hat. Er darf nicht durch Rückgriff auf den allgemeinen Notstand die gesetzliche bzw. staatsvertragliche Entscheidung unterlaufen. Allerdings ist angesichts der strengen Anforderungen des Notstandsrechts kaum denkbar, dass eine rechtswidrige Einreise (bei Flucht aus entfernten Ländern) durch Notstand gedeckt sein könnte. Deshalb normieren Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG und Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens auch besondere Voraussetzungen, welche die illegale Einreise von Flüchtlingen rechtfertigen. So ist im Gegensatz zu Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB weder erforderlich, dass sich der Flüchtling in einer unmittelbaren Gefahr befindet, noch wird verlangt, dass der Grenzübertritt die einzige Möglichkeit darstellt, die Bedrohung im Verfolgerstaat abzuwenden. Daraus erhellt, dass die Bestimmungen des Ausländerstrafrechts auch in der Sache der speziellen Notlage von Flüchtlingen weit besser Rechnung tragen, als dies der Notstand gemäss Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB vermag.
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3.4.3 Der Klarstellung halber ist anzufügen, dass Art. 34 Ziff. 1 Abs. 1 StGB bei der Beurteilung von Zuwiderhandlungen gegen Art. 23 ANAG anwendbar bleibt, soweit eine unmittelbare, nicht anders abwendbare Gefahr für ein persönliches Gut besteht, die nicht in der Art und Schwere der Verfolgung gemäss Art. 23 Abs. 3 Satz 2 ANAG und Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens liegt. BGE 132 IV, 29 (37)Gleiches gilt für die übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe wie beispielsweise der Wahrung berechtigter Interessen (vgl. BGE 127 IV 166; BGE 117 IV 170; Urteil 6S.255/2002 vom 29.07.2002; VALENTIN ROSCHACHER, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931, Diss. Zürich 1991, S. 39).
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5.1 Nach Art. 13 Abs. 1 StGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen. Der Richter soll seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa indem er psychiatrische Fachliteratur beizieht. Vielmehr ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2 StGB, dass er bei Zweifeln einen Sachverständigen beiziehen muss. Art. 13 StGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hat, sondern auch, wenn er nach den Umständen des Falles Zweifel haben sollte (BGE 119 IV 120 E. 2a; BGE 116 IV 273 E. 4a; BGE 106 IV 241 E. 1a mit Hinweisen). Dabei genügt es, wenn ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit auf Grund eines solchen Umstandes bestand (BGE 98 IV 156 E. 1). Es fragt sich, welche Umstände gegeben sein müssen, um anzunehmen, der Richter müsse im dargelegten Sinn ernsthafte Zweifel haben. Das Bundesgericht hat dies beispielsweise angenommen bei Drogenabhängigkeit (BGE 102 I BGE 132 IV, 29 (38)V74 und BGE 106 IV 241 E. 2), bei einer Frau, die mit einer schizophrenen Tochter zusammenlebte (BGE 98 IV 156), bei einem Sexualdelinquenten mit möglicherweise abnorm starkem Geschlechtstrieb (BGE 71 IV 190) sowie bei einem Ersttäter, bei dem der Beginn der Straffälligkeit mit dem Ausbruch einer schweren allergischen oder psychosomatischen Hautkrankheit zusammenfiel (BGE 118 IV 6). Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen zuzuziehen, ist erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder völlig unübliches Verhalten (BGE 116 IV 273 E. 4a mit weiteren Beispielen).
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5.2 Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ist eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit. Gemäss der internationalen Klassifikation der WHO handelt es sich dabei um eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmasses, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (Internationale Klassifikation psychischer Störungen, hrsg. von Horst Dilling, 5. Aufl., Bern 2005, S. 169). PTSD äussert sich in den Symptomen des Wiedererlebens durch Alb- und Tagträume und kann zu emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit führen. Gleichzeitig ist häufig eine erhöhte Erregung festzustellen, die sich in Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz oder gesteigerter Schreckhaftigkeit manifestiert (ULRICH SCHNYDER, Posttraumatische Belastungsstörungen, in: Psychische Störungen und Sozialversicherung, hrsg. von Erwin Murer, Bern 2002, S. 101 und 114). Solche Belastungsreaktionen gehen nur relativ selten mit Straftaten einher (NORBERT NEDOPIL, Forensische Psychiatrie, Stuttgart 2000, S. 142). Dass sie zur Aufhebung der Einsichtsfähigkeit führen, ist kaum denkbar. In seltenen Fällen sind sie unter Umständen jedoch derart ausgeprägt, dass die Steuerungsfähigkeit aufgehoben ist (NEDOPIL, a.a.O., S. 144).
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Wie die Vorinstanz zunächst zutreffend erkennt, begründen die geltend gemachten Angstzustände keine ernsthaften Zweifel an der BGE 132 IV, 29 (39)Zurechnungsfähigkeit der Beschwerdeführerin. Diese konnte während des ganzen Verfahrens und zuletzt auch in der persönlichen Befragung vor Obergericht ihr Verhalten stets klar begründen und machte verständliche Aussagen. Sie wusste, dass sie aus der Schweiz hätte ausreisen müssen. Schon anlässlich der asylrechtlichen Abklärungen erklärte sie, sie werde die Schweiz nicht freiwillig verlassen, und weigerte sich entschieden, mit den russischen Behörden zusammenzuarbeiten. Aus diesen für das Bundesgericht verbindlichen Tatsachenfeststellungen geht hervor, dass die Beschwerdeführerin in der Lage war, das Unrecht ihres Verhaltens einzusehen. Anhaltspunkte für eine Herabsetzung in der Steuerungsfähigkeit lassen sich dem angefochtenen Urteil ebenfalls nicht entnehmen. Die Tatsache, dass sie für die Einreise in die Schweiz mehrere Staaten durchquerte, in denen sie ein Asylgesuch hätte stellen können, zeigt, dass sie durchaus imstande war, ihr Verhalten zu bestimmen. Es ist auch in keiner Art und Weise erkennbar, inwiefern es ihr aufgrund eines inneren Zwanges nicht möglich gewesen sein sollte, die Schweiz wieder zu verlassen. Vielmehr weisen ihre klaren und selbstbewussten Aussagen auf eine uneingeschränkt vorhandene Zurechnungsfähigkeit hin. Daran ändert auch ihr Einwand nichts, sie stehe in psychotherapeutischer Behandlung, und es bestünden Anzeichen für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Eine solche Belastungsreaktion führt wie dargelegt nur ganz ausnahmsweise zur Aufhebung der Bestimmungsfähigkeit, so dass der Umstand einer ärztlichen Behandlung für sich allein nicht genügt, um ernsthafte Zweifel an einer strafrechtlich relevanten Beeinträchtigung der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken. Unter diesen Umständen ist es bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz auf den Beizug eines Sachverständigen verzichtet hat.
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