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Informationen zum Dokument  BGE 128 IV 154  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Auszugehen ist von folgendem (von der Vorinstanz gemäss A ...
2. Die Vorinstanz hat die Beschwerdeführerin wegen Entziehen ...
3. Gemäss Art. 220 StGB wird (auf Antrag) mit Gefängnis ...
4. Ein Strafantrag des Erziehungsberechtigten liegt ebenfalls vor ...
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23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Y. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
6S.681/2001 vom 2. Juli 2002
 
 
Regeste
 
Art. 220 StGB (Entziehen von Unmündigen); faktisches Familienverhältnis, Registerelternschaft.  
Zusammenfassung der Rechtsprechung zur Kindesentziehung bzw. zum Besuchsrechtsmissbrauch unter Scheidungsparteien (E. 3.2).  
Objektiver Tatbestand, Begriff des Inhabers der elterlichen "Gewalt" bzw. Sorge; Anwendbarkeit der familien- bzw. kindesrechtlichen Regeln (E. 3.3).  
Die elterliche Obhut des Registervaters, die ihm durch richterlichen Entscheid zugewiesen wurde, wird von der Registermutter verletzt, wenn sie das Kind in Überschreitung ihres Besuchsrechts ins Ausland verbringt und es nicht zurückbringt (E. 3.4-3.6).  
Art. 28 Abs. 1 StGB (Strafantrag); Rechtsmissbrauch.  
Der gegen die Registermutter erhobene Strafantrag des Registervaters, der während 11 Jahren die Elternfunktion ausgeübt hat, ist auch dann nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der Registervater gemeinsam mit der Registermutter den unzutreffenden Registereintrag erschlichen hat (E. 4).  
 
Sachverhalt
 
BGE 128 IV, 154 (156)Am 28. Februar 2001 sprach der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Dielsdorf die Angeklagte X. des Entziehens eines Unmündigen (Art. 220 StGB) sowie der Tätlichkeiten (Art. 126 StGB) schuldig und verurteilte sie zu einem Monat Gefängnis bedingt (bei einer Probezeit von zwei Jahren). Auf Berufung der Verurteilten hin trat das Obergericht (II. Strafkammer) des Kantons Zürich mit Urteil vom 31. August 2001 auf die Anklage der Tätlichkeiten (wegen Eintritts der absoluten Verfolgungsverjährung) nicht ein. Der Schuldspruch des Entziehens eines Unmündigen (Art. 220 StGB) wurde vom Obergericht hingegen bestätigt, und die Strafe wurde auf 27 Tage Gefängnis bedingt festgelegt (bei einer Probezeit von zwei Jahren). X. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen:
 
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1.1 Die Beschwerdeführerin ist in Nordzypern aufgewachsen. Als Jugendliche zog sie nach London, wo sie im Jahre 1980 den privaten Beschwerdegegner kennenlernte, den sie am 1. September 1981 heiratete. Anschliessend nahmen die Eheleute in der Schweiz Wohnsitz. Da das Paar kinderlos blieb, entschloss es sich, ein neugeborenes Kind des Bruders und der Schwägerin der Beschwerdeführerin zu adoptieren. Nachdem die in der Türkischen Republik Nordzypern wohnhafte Schwägerin schwanger geworden war, täuschte die in der Schweiz lebende Beschwerdeführerin (mit einem angepolsterten Bauch) eine Schwangerschaft vor und erklärte, sie fahre nach Zypern, um dort zu gebären. Die Schwägerin gebar dort am 2. März 1988 ihren Sohn A. Am 9. März 1988 unterzeichneten die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann beim Bezirksgericht Girne (Nordzypern) eine Adoptionsurkunde. Gleichzeitig erklärten B. (die Schwägerin der Beschwerdeführerin) und C. (der Bruder der Beschwerdeführerin), dass A. ihr von ihnen biologisch erzeugter Sohn sei und dass sie mit der Adoption ihres Sohnes durch die Beschwerdeführerin und deren Ehemann ausdrücklich einverstanden seien. Anschliessend reisten die Beschwerdeführerin und der private Beschwerdegegner mit dem Kind, das sie "D." nannten, in die Schweiz ein. Die beabsichtigte Adoption konnte jedoch in der Folge nicht vollzogen werden.
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BGE 128 IV, 154 (157)1.2 Nach dem Scheitern der Adoptionsbemühungen gerieten die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann in den Besitz von gefälschten Geburtsurkunden, denen wahrheitswidrig zu entnehmen war, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um die biologische Mutter des Kindes D. handle. Gestützt darauf liessen sie das Kind in den schweizerischen amtlichen Registern als ihren ehelichen Sohn eintragen. Dieser wuchs bei seinen "Registereltern" in der Schweiz auf und wurde hier eingeschult. Nachdem zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann Beziehungsprobleme aufgetreten waren, hielt sie sich ungefähr ab 1994 überwiegend in Ankara und in Nordzypern auf, wogegen der private Beschwerdegegner zusammen mit D. in Niederglatt lebte. Am 5. Januar 1998 reichte der Ehemann beim Bezirksgericht Dielsdorf Klage auf Ehescheidung gegen die Beschwerdeführerin ein.
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1.5 Am 4. Juli 1999 reiste die Beschwerdeführerin erneut mit D. nach Nordzypern, wo er seither lebt. Am 10. August 1999 verfügte der Einzelrichter (im summarischen Verfahren) des Bezirksgerichtes Dielsdorf (auf entsprechendes Begehren des privaten Beschwerdegegners hin), dass die Beschwerdeführerin D. unverzüglich BGE 128 IV, 154 (158)zurückzubringen habe. Mit Schreiben vom 24. August 1999 sprach sich D.s biologischer Vater gegen eine Rückführung des Kindes in die Schweiz aus. Gemäss seiner Sachdarstellung habe er der Beschwerdeführerin im Jahre 1988 lediglich gestattet, dass sie seinen Sohn in die Schweiz mitnehmen könne, um ihm zu ermöglichen, bei ihr in der Schweiz zu wohnen und seine schulische Ausbildung dort unter günstigeren Bedingungen zu absolvieren.
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1.6 Mit - zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils noch nicht rechtskräftigem - Urteil des Bezirksgerichtes (I. Abteilung) Dielsdorf vom 20. Oktober 1999 wurde die Ehe zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Gatten geschieden und D. unter die elterliche Gewalt des privaten Beschwerdegegners gestellt. Das Gericht hielt in seinen Erwägungen fest, es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass D. nicht das leibliche Kind der Parteien (und der Zivilstandsregistereintrag demgemäss unzutreffend) sein könnte. Im Hinblick auf das Kindeswohl habe eine Registerberichtigung jedoch nicht von Amtes wegen zu erfolgen. Vielmehr stehe es den Betroffenen frei, das gesetzlich vorgesehene Anfechtungsverfahren einzuleiten. Mangels einer Anfechtung der Ehelichkeitsvermutung bzw. der Anerkennung des Kindesverhältnisses habe sich der Richter an die verurkundeten Gegebenheiten zu halten.
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2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Registereintrag sei "nachgewiesenermassen unrichtig, ja von ihr" und dem privaten BGE 128 IV, 154 (159)Beschwerdegegner "mittels gefälschter Geburtsurkunde erschlichen worden". Sowohl die I. Zivilkammer (welche mit dem Scheidungsverfahren befasst war) als auch die II. Strafkammer des Obergerichtes gingen davon aus, dass der Registereintrag falsch und das Kind D. weder der Sohn der Beschwerdeführerin noch des privaten Beschwerdegegners sei. Zwar werde im angefochtenen Urteil erwogen, das bestehende faktische Kindesverhältnis bzw. die Registerelternschaft könne nur (auf entsprechende Anfechtungsklage hin) durch richterliche Anordnung der Registerberichtigung beseitigt werden. Da "aufgrund der Parteiaussagen und der Urkunden" jedoch fest stehe, dass der Registereintrag falsch sei, werde im angefochtenen Strafurteil "klar Bundesrecht verletzt". Ausserdem erscheine der Strafantrag des geschiedenen Ehemannes "in höchstem Grade als rechtsmissbräuchlich".
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3.1 Art. 220 StGB stellt ein Vergehen gegen die Familie (Sechster Titel StGB) unter Strafe. Geschütztes Rechtsgut ist primär die Ausübung der Rechte und Pflichten durch den betroffenen Inhaber der elterlichen Gewalt bzw. Sorge (BGE 125 IV 14 E. 2a S. 15; BGE 118 IV 61 E. 2a S. 63; BGE 108 IV 22 S. 24; BGE 98 IV 35 E. 2 S. 37, je mit Hinweisen; Botschaft über die Änderung des StGB vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1009ff., S. 1060; vgl. SUSANNE HÜPPI, Straf- und zivilrechtliche Aspekte der Kindesentziehung gemäss Art. 220 StGB mit Schwergewicht auf den Kindesentführungen durch einen Elternteil, Diss. Zürich 1988, S. 22 ff., 42; MARTIN SCHUBARTH, in: Guido Jenny/Martin Schubarth/Peter Albrecht, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 4: Delikte gegen die sexuelle Integrität und gegen die Familie, Bern 1997, Art. 220 N. 8 f.; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, Straftaten gegen Gemeininteressen, 5. Aufl., Bern 2000, § 27 Rz. 3). Von der Kindesentziehung ist allerdings nicht nur der Erziehungsberechtigte betroffen, sondern auch das Kind, wie gerade der hier zu beurteilende Fall deutlich zeigt. Mittelbar dient Art. 220 StGB daher auch dem Schutz des Familienfriedens bzw. des Kindeswohls (BGE 92 IV 1 E. a S. 2; vgl. HÜPPI, a.a.O., S. 30; SCHUBARTH, a.a.O., N. 8).
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3.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes kann sich auch ein Elternteil der Entziehung eines Unmündigen strafbar BGE 128 IV, 154 (160)machen, der seinem Ehepartner das Kind vorenthält. Dies gilt namentlich für den Fall, dass ein Elternteil, dem im Rahmen vorsorglicher Massnahmen im Scheidungsverfahren ein Besuchsrecht zugesprochen wurde, dieses Besuchsrecht überschreitet bzw. sich weigert, das Kind dem Inhaber der elterlichen Obhut zurückzubringen (BGE 110 IV 35 E. 1c S. 37; BGE 108 IV 22 S. 24; BGE 98 IV 35 E. 2 S. 37 f., je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 125 IV 14 E. 2b S. 16; BGE 118 IV 61 E. 2a S. 63). Gemäss BGE 95 IV 67 f. dürfte selbst ein Ehegatte, der im "ungeschmälerten Besitz der elterlichen Gewalt" steht (also vor einem Zuteilungsentscheid des Massnahmenrichters), nicht eigenmächtig über das Kind verfügen und dieses dem Ehepartner entziehen. Da beide Elternteile das Recht haben, an der Betreuung und Erziehung mitzuwirken, dürfe der andere Ehegatte die elterliche Gewalt nicht für sich alleine beanspruchen.
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Solange sie unmündig sind, stehen Kinder unter elterlicher Sorge (Art. 296 Abs. 1 ZGB). Während der Ehe üben die Eltern das Sorgerecht gemeinsam aus. Wird der gemeinsame Haushalt aufgehoben oder die Ehe getrennt, so kann das Gericht die elterliche Sorge einem Ehegatten allein zuteilen (Art. 297 Abs. 1 und 2 ZGB). Grundsätzlich bestimmt sich der Inhaber der elterlichen Gewalt (bzw. Sorge) im Sinne von Art. 220 StGB (i.V.m. Art. 296 f. ZGB) nach den Regeln des Zivilrechts (BGE 92 IV 1 E. b S. 3; vgl. HÜPPI, a.a.O., S. 6; JÖRG REHBERG, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 2. Aufl., Zürich 1996, S. 21; SCHUBARTH, a.a.O., Art. 220 N. 20; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 220 N. 1). Das Kindesverhältnis entsteht nach den Bestimmungen von Art. 252-269c ZGB zur Mutter durch Geburt oder Adoption, zum Vater durch die Ehe mit der Mutter oder durch besonderen Rechtsakt (Adoptionsverfügung, Kindesanerkennung, Vaterschaftsurteil; vgl. dazu CYRIL HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts und des übrigen Verwandtschaftsrechts, 5. Aufl., Bern 1999, Rz. 2.06, 3.02 ff.).
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Im vorliegenden Fall ist kein solches gesetzliches Kindesverhältnis zwischen dem Kind und der Beschwerdeführerin bzw. dem privaten Beschwerdegegner ersichtlich. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin sei daher der objektive Tatbestand von Art. 220 StGB BGE 128 IV, 154 (161)nicht anwendbar. Das Fehlen eines gesetzlichen Kindesverhältnisses schliesst indessen die Ausübung elterlicher Gewalt/Sorge (bzw. die Ausübung einer familienrechtlich geschützten Erziehungsbefugnis) im Rahmen einer faktischen Elternschaft nicht zum Vornherein aus. Laut bundesrätlicher Botschaft könne Art. 220 StGB namentlich auf Fälle anwendbar sein, "in denen die unmündige Person von einem Heim oder einem anderen Pflegeort weggeholt oder ferngehalten wird" (BBl 1985 II 1060; vgl. auch GVP/AR 1990, Nr. 3167, S. 91; HÜPPI, a.a.O., S. 6, 36 ff., 126 ff.; SCHUBARTH, a.a.O, Art. 220 N. 29 in fine; TRECHSEL, a.a.O., Art. 220 N. 1). Auch das Familienrecht anerkennt (in gewissen Grenzen) die vertretungsweise ausgeübte bzw. die faktische "elterliche Gewalt" (z.B. von Pflegeeltern [Art. 300 ZGB], des Stiefelternteils [Art. 299 ZGB] oder von anderen Betreuern, zu denen kein gesetzliches Kindesverhältnis im Sinne von Art. 252-269c ZGB besteht). Faktische Familienverhältnisse können unter gewissen Umständen auch kindesrechtliche Befugnisse und Pflichten nach sich ziehen (vgl. HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, a.a.O., Rz. 10.04, 25.11 ff., 27.43). Unter welchen konkreten Umständen auch faktische Familien durch Art. 220 StGB strafrechtlich geschützt werden, ist hier jedoch nicht abschliessend zu beurteilen. Entscheidend erscheint im vorliegenden Fall nämlich, dass der Massnahmenrichter im Scheidungsverfahren die elterliche Obhut des Kindes am 3. September 1998 dem privaten Beschwerdegegner zugewiesen hat.
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Zunächst war das (angebliche leibliche) Kindesverhältnis zur Beschwerdeführerin und zum privaten Beschwerdegegner seit vierzehn Jahren in den Zivilstandsregistern (Familienregister) eingetragen. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz blieb der Eintrag bis heute unangefochten. Die öffentlichen Register bringen den vollen Beweis der durch sie bezeugten Tatsachen, bis die allfällige Unrichtigkeit der Eintragung nachgewiesen ist (Art. 9 Abs. 1 ZGB, sog. "öffentlicher Glaube" bzw. Publizitätswirkung der Register; vgl. BGE 117 II 11 E. 4 S. 12 f.; BGE 110 II 1 E. 3a S. 2 f.; BGE 74 II 206, je mit Hinweisen; s. auch ANDREAS BUCHER, Natürliche Personen und Persönlichkeitsschutz, 3. Aufl., Basel 1999, Rz. 287; CYRIL HEGNAUER, Berner Kommentar zum ZGB, Bern 1984, Art. 252 ZGB N. 59, Art. 255 ZGB N. 55). "Registereltern" können grundsätzlich (ungeachtet ihrer tatsächlichen Elternschaft) die Rechte und Pflichten BGE 128 IV, 154 (162)aus dem Kindesverhältnis geltend machen, wozu (im Rahmen der elterlichen Sorge) auch die Erziehungsbefugnis gehört. Das entsprechende faktische Kindesverhältnis und dessen Wirkungen können nur dadurch beseitigt werden, dass ein schweizerischer Richter (auf entsprechende Berichtigungsklage hin) die Nichtelternschaft der fälschlich registrierten Person feststellt und die entsprechende Registerberichtigung verfügt (vgl. HEGNAUER, Kommentar ZGB, a.a.O., Art. 252 ZGB N. 71 f., 88; Art. 255 ZGB N. 55, 64 ff.; s. auch BGE 41 II 425).
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Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass sowohl im vorsorglichen Massnahmenentscheid vom 3. September 1998 als auch im Scheidungsurteil vom 20. Oktober 1999 die elterliche Obhut des Kindes dem privaten Beschwerdegegner zugewiesen wurde, und zwar ausdrücklich im Wissen darum, dass es sich womöglich um eine blosse "Registervaterschaft" handeln könnte.
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Im vorliegenden Fall haben die Beschwerdeführerin, der private Beschwerdegegner und das Kind D. zunächst während etwa sechs Jahren zu dritt als Familie zusammengelebt. Unbestrittenermassen waren die Beschwerdeführerin und ihr damaliger Ehemann zumindest faktisch und aus sozialer Sicht die Eltern des Kindes. Der private Beschwerdegegner hat das Kind während mehr als elf Jahren betreut. Dabei war er ca. fünf Jahre lang auf sich alleine gestellt, nachdem die Beschwerdeführerin den gemeinsamen Haushalt ungefähr 1994 verlassen hatte und sich danach überwiegend in Ankara und Nordzypern aufhielt. Selbst wenn der Eintrag der (biologischen) Elternschaft im Zivilstandsregister (nach dem Scheitern der Adoptionsbemühungen) auf einer gefälschten Geburtsurkunde beruhte, stehen die betroffenen Rechtsgüter grundsätzlich unter dem Schutz von Art. 220 StGB.
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Auch bei blossen "Registereltern", die zwar weder die biologischen noch die Adoptiveltern des betroffenen Kindes sind, die aber mit dem Kind über längere Zeit als Familie zusammenleben, kann grundsätzlich ein schutzwürdiges Interesse an der Bewahrung des Familienfriedens bzw. am Schutz der Befugnisse des faktisch Erziehungsberechtigten bestehen. In diesem Zusammenhang ist auch dem grundrechtlichen Gesamtkontext Rechnung zu tragen. Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer BGE 128 IV, 154 (163)Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung (Art. 11 Abs. 1 BV). Art. 14 BV gewährleistet das Recht auf Familie. Auch Art. 8 EMRK schützt das Familienleben vor staatlichen (bzw. staatlich geduldeten) Eingriffen. Unter den Schutz von Art. 8 EMRK fallen grundsätzlich nicht nur leibliche Elternschaften oder Adoptiv-Kindesverhältnisse, sondern (in gewissen Grenzen) auch faktisch-soziale Lebensgemeinschaften. Von zentraler Bedeutung ist in dem Zusammenhang das Kindeswohl (vgl. JOCHEN A. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl u.a. 1996, Art. 8 N. 15, 22 ff.). Das UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (SR 0.107) schützt das Kind ausdrücklich vor rechtswidrigen Eingriffen in seine Familienbeziehungen bzw. vor rechtswidriger Trennung von seinen Eltern bzw. einem Elternteil (vgl. Art. 8 und Art. 9 UNO-Kinderrechtekonvention, s. auch Art. 14 Abs. 2, Art. 16 und Art. 18 Abs. 1).
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Ein rechtsmissbräuchlicher Strafantrag ist gerade bei Kindesentziehung nur mit Zurückhaltung anzunehmen (vgl. BGE 104 IV 90 E. 3b S. 95). Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens verlangt wird, das der Antragssteller durch rechtswidrige Provokation ausgelöst hat. Ein solcher Fall ist nach der Praxis des Bundesgerichtes gegeben, wenn der strafantragstellende BGE 128 IV, 154 (164)Elternteil die Ausübung des Besuchsrechtes durch den anderen Elternteil zunächst ständig schikanös behindert hat und dann wegen geringfügiger Überschreitung des Besuchsrechtes eine Bestrafung beantragt (BGE 105 IV 229 E. 2-4 S. 231 ff.; BGE 104 IV 90 E. 3 S. 94-96). Im vorliegenden Fall hat der Registervater während elf Jahren die Elternfunktion ausgeübt und faktisch gelebt. Folgerichtig hat ihm der Massnahmenrichter mit Verfügung vom 3. September 1998 die elterliche Obhut über das Kind anvertraut. Der private Beschwerdegegner hatte im Zeitpunkt des inkriminierten Sachverhaltes somit ein schutzwürdiges Interesse an der Respektierung seiner Betreuungsrechte. Dass er das Besuchsrecht der Beschwerdeführerin behindert hätte, wird nicht behauptet und geht auch nicht aus den Akten hervor. Was den unzutreffenden Registereintrag betrifft, kann sich die Beschwerdeführerin nach Treu und Glauben nicht auf Rechtsmissbrauch berufen, nachdem sie (nach eigener Darlegung) an der Erschleichung des Registereintrages selbst massgeblich beteiligt war.
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