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Informationen zum Dokument  BGE 98 IV 159  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach ständiger Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, d ...
2. Im angefochtenen Urteil begründet die I. Strafkammer des  ...
3. Im vorliegenden Falle ist jedoch im Ergebnis dem Entscheid der ...
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31. Urteil des Kassationshofes vom 7. September 1972 i.S. Voser gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
 
 
Regeste
 
Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Bedingter Strafvollzug bei Fahren in angetrunkenem Zustand.  
2. Es ist unzulässig, bei einer den Wert von zwei Promille übersteigenden Angetrunkenheit den bedingten Strafvollzug einzig auf Grund des Blutalkoholgehalts auszuschliessen (Erw. 2).  
3. Würdigung der gesamten Umstände (Erw. 3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 98 IV, 159 (159)A.- Der in Holderbank wohnhafte Hans-Peter Voser hatte am 18. Oktober 1971 beruflich am Zürichsee zu tun. Auf dem Heimweg nahm er in Zürich das Abendessen ein und besuchte anschliessend während mehrerer Stunden verschiedene Wirtschaften im Niederdorf, in denen er hauptsächlich Bier trank. Nach Mitternacht bestieg er sein Motorfahrzeug, das er in der Nähe des Landesmuseums abgestellt hatte, um die Heimfahrt fortzusetzen. Bereits auf dem Limmatplatz in Zürich verlor er die Herrschaft über den Wagen und fuhr auf einen Inselpfosten, wobei Sachschaden entstand und Voser eine Rissquetschwunde am Kopf erlitt. Die Blutprobe ergab, dass er mit einem Alkoholgehalt von 2,4 Gewichtspromille gefahren war.
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B.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Voser wegen Fahrens in angetrunkenem Zustande (Art. 91 Abs. 1 SVG) und Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 31 Abs. 1 und 90 Ziff. 1 SVG) zu vier Wochen Gefängnis und einer Busse von Fr. 500.--. Es bewilligte ihm den bedingten Strafvollzug und die bedingt vorzeitige Löschung der Busse im Strafregister.
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BGE 98 IV, 159 (160)Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich legte gegen die Gewährung des bedingten Strafvollzuges Berufung ein. Das Obergericht (1. Strafkammer) des Kantons Zürich setzte durch Urteil vom 8. Mai 1972 die Freiheitsstrafe auf21 Tage Gefängnis und die Busse auf Fr. 200.-- fest und verweigerte den bedingten Strafvollzug.
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C.- Voser führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei hinsichtlich der Verweigerung des bedingten Strafvollzuges aufzuheben und die Sache zur Zubilligung dieser Massnahme an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
 
1. Nach ständiger Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, darf angetrunkenen Motorfahrzeugführern der bedingte Strafvollzug nur mit grosser Zurückhaltung gewährt werden. Der Grund dafür liegt zunächst in der jedem Fahrzeuglenker bekannten Tatsache, dass die Fahrtüchtigkeit schon durch geringe Mengen Alkohol beeinträchtigt wird, und sodann in der Erkenntnis, dass Motorfahrzeugführer, die unbekümmert um dieses Wissen und trotz häufigen und eindringlichen Warnungen in der Presse, im Radio und Fernsehen in Kauf nehmen, durch Angetrunkenheit am Steuer Leben und Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer erheblichen Gefahren auszusetzen, in der Regel eine Gesinnung bekunden, die als hemmungs- und rücksichtslos bezeichnet werden muss und auf einen Charakterfehler schliessen lässt. An die Gewähr, die ein nach Art. 91 Abs. 1 SVG Verurteilter für künftiges Wohlverhalten bieten muss, sind daher aus spezial- und generalpräventiven Gründen auch dann hohe Anforderungen zu stellen, wenn sich der Täter zum ersten Mal wegen Angetrunkenheit zu verantworten hat und sein allgemeiner Leumund und seine bisherige Führung als Motorfahrzeuglenker nicht zu beanstanden sind (BGE 95 IV 52 Erw. 1/b und 57 Erw. 1, BGE 96 IV 103 Erw. 1).
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Anderseits hat auch im Strassenverkehrsrecht wie überall, wo Art. 41 StGB anzuwenden ist, beim Entscheid über den bedingten Strafvollzug in erster Linie der Grundsatz der Spezialprävention massgebend zu sein (BGE 91 IV 60 Nr. 17). Deshalb darf nicht aus generalpräventiven Überlegungen bei der Beurteilung der Bewährungsaussichten ein derart strenger Masstab angelegt werden, dass angetrunkenen Fahrzeuglenkern der BGE 98 IV, 159 (161)bedingte Strafvollzug praktisch zum vorneherein verschlossen bleibt. Unzulässig ist es aber auch, unter den nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB zu berücksichtigenden Umständen einzelnen eine vorrangige Bedeutung beizumessen und andere zu vernachlässigen oder überhaupt ausseracht zu lassen, z.B. einseitig nur auf die Umstände der Tat abzustellen. Vielmehr müssen auch beim Tatbestand der Angetrunkenheit neben den Tatumständen das Vorleben und der Leumund sowie alle weiteren Tatsachen, die gültige Schlüsse auf den Charakter des Täters und die Aussichten seiner Bewährung zulassen, in die Beurteilung miteinbezogen werden, um auf Grund einer Gesamtwürdigung darüber zu entscheiden, ob der Verurteilte für dauerndes Wohlverhalten Gewähr biete oder nicht (BGE 95 IV 52 Erw. 1/a und 57 Erw. 1, BGE 96 IV 104 Erw. 1).
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2. Im angefochtenen Urteil begründet die I. Strafkammer des Obergerichts die Ablehnung des bedingten Strafvollzuges unter Hinweis auf einen früheren Entscheid (wiedergegeben in SJZ Bd. 68/1972 S. 80) in erster Linie mit ihrer feststehenden Praxis. Nach dieser sei einem Fahrzeuglenker, auch wenn er erstmals wegen Angetrunkenheit vor dem Strafrichter stehe, der bedingte Strafvollzug regelmässig zu verweigern, wenn er mit einem Blutalkoholgehalt von zwei und mehr Gewichtspromille ein Motorfahrzeug geführt habe, obschon er bereits beim Trinken mit der Fahrt habe rechnen müssen. Ausnahmen von dieser Regel könnten selbst dann nicht gemacht werden, wenn keine besonders erschwerenden Tatumstände vorlägen und der Leumund des Täters im wesentlichen ungetrübt sei. Bei einer Alkoholkonzentration von mehr als zwei Promille, also in Fällen schwerer Trunkenheit, dürfe der bedingte Strafvollzug überhaupt nur dann gewährt werden, wenn der Lenker den Entschluss zum Führen eines Motorfahrzeuges erst nachträglich und zwar gestützt auf eine neue, unvorhergesehene Situation gefasst habe, mit deren Eintritt er vor und während des Trinkens nicht gerechnet habe und auch nicht habe rechnen müssen.
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Diese Praxis, mag sie auch den Bestrebungen zur Erreichung einer einheitlichen Rechtsprechung entgegenkommen, widerspricht dem Sinn des Art. 41 StGB. Zwar verdient der Motorfahrzeugführer, der nach hemmungslosem Alkoholgenuss ein Fahrzeug lenkt, den Vorwurf rücksichtsloser Gesinnung, der im allgemeinen umso begründeter ist, je grösser der Blutalkoholgehalt ist, der dem Vergehen des Art. 91 Abs. 1 SVG BGE 98 IV, 159 (162)zugrundeliegt. Die Höhe der Blutalkoholkonzentration besitzt indessen auf dem Gebiete des bedingten Strafvollzuges nicht das entscheidende Gewicht, das ihr normalerweise bei der Feststellung der Angetrunkenheit zukommt, abgesehen davon, dass die kritische Grenze von 0,8 Promille in Wirklichkeit nur einen Richtwert darstellt und nach unten keine Straffreiheit garantiert (BGE 90 IV 166 f. Erw. 4). Insbesondere darf nicht einem bestimmten Blutalkoholgehalt die Bedeutung eines Grenzwertes in dem Sinne beigemessen werden, dass die Gewährung oder Verweigerung des bedingten Strafaufschubes ausschliesslich von ihm abhängig gemacht wird. Das Ausmass der Alkoholisierung bildet regelmässig nur einen unter mehreren Tatumständen, und ausser diesen müssen nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB auch Vorleben, Leumund und weitere Gegebenheiten, die auf den Charakter des Täters schliessen lassen, mit in Betracht gezogen werden. Wie die Erfahrung lehrt, gibt es Einzelfälle, in denen zufolge besonderer individueller Verhältnisse und Umstände der Schluss gerechtfertigt sein kann, dass sich die Tat trotz schwerer Angetrunkenheit als einmalige Entgleisung erweist und die Täterpersönlichkeit, selbst bei strenger Beurteilung der Bewährungsaussichten, eine günstige Voraussage zulässt. Die Rechtsprechung der Vorinstanz, wonach bei einer den Grenzwert von zwei Promille übersteigenden Angetrunkenheit schon der Blutalkoholgehalt für sich allein, ohne Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse des Täters und die übrigen Umstände der Tat, den Ausschluss des bedingten Strafvollzuges nach sich ziehe, stützt sich deshalb auf eine zu schematische und starre Betrachtungsweise, die zu einer unzulässigen Beschränkung des Anwendungsbereiches des Art. 41 StGB führt und daher vor dem Gesetze nicht standhält.
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Der damals 32-jährige Beschwerdeführer hat den Zwischenhalt in Zürich ohne irgendwelche besondere Veranlassung dazu benützt, um im Niederdorf eine "Pintenkehr" zu unternehmen, obschon er beabsichtigte, noch am gleichen Abend im Auto von Zürich nach Holderbank zurückzufahren. Ohne ersichtlichen Grund zechte er während Stunden in verschiedenen Lokalen, bis er schliesslich nach Mitternacht mit einem Blutalkoholgehalt von 2,4 Gewichtspromille, also in einem schweren Rauschzustand, mit seinem Fahrzeug die verhältnismässig lange Heimfahrt BGE 98 IV, 159 (163)antrat. Dieser ungewöhnlich masslose, auf blosser Zechlust beruhende Alkoholgenuss und die Bedenkenlosigkeit, mit der sich der Beschwerdeführer über seine völlige Fahruntüchtigkeit hinwegsetzte, worüber er sich schon während des Trinkens Rechenschaft geben musste, offenbaren eine ausgeprägte Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit, die einen ernsthaften Charakterfehler erkennen lassen. Diese Beurteilung ist umso begründeter, als der Beschwerdeführer nach seiner eigenen Zugabe dazu neigt, bereits nach dem Genuss einer geringen Alkoholmenge jedes Mass zu verlieren. Wie er vor Bezirksgericht ferner erklärte, ist es mindestens schon dreimal vorgekommen, dass er nach übermässigem Alkoholkonsum, um nicht angetrunken mit dem Auto nach Hause zu fahren, in einem Hotel übernachtete. Dies tat er aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern immer nur auf Veranlassung von Kollegen. Daraus geht hervor, dass der Beschwerdeführer, wenn er zu trinken beginnt, bei seinem Hang zur Masslosigkeit haltlos wird und nicht imstande ist, von sich aus rechtzeitig Sicherungsvorkehren zu treffen, um zu verhindern, dass er sich betrunken an das Steuer seines Fahrzeuges setzt. Diese im Strafverfahren offenkundig gewordene Charakterschwäche zeigt, dass die Tat nicht einem einmaligen Versagen zuzuschreiben ist, sondern damit gerechnet werden muss, dass sich der Beschwerdeführer in späteren ähnlichen Lagen gleich verhalten wird. Unter diesen Umständen bietet der Beschwerdeführer trotz bisheriger Vorstrafenlosigkeit und gutem Leumund keine Gewähr für künftiges Wohlverhalten. Die Vorinstanz hat daher durch die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges das ihr zustehende Ermessen nicht überschritten, was die Abweisung der Beschwerde zur Folge hat.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
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